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2   Risikokultur: Der Bergsturz in Kaub (1876)

2.3   Wieso die erkannte Gefahr zur Katastrophe werden konnte

2.3.3   Kosten-Nutzen-Analyse?

Ein weiterer Grund, warum die Abtragungsarbeiten nicht früher in Erwägung gezogen wurden, war eine negative Kosten-Nutzen-Bilanz. Bluhme hatte 1873 die Option der Abtragungsarbeiten aufgrund ihrer Unwirtschaftlichkeit zurückgewiesen. Seine Idee war, dass für einige wenige Häuser, die kaum 150.000 Mark wert seien, Abtragungsarbeiten, die weitaus höhere Kosten verursachen würden, unmöglich gerechtfertigt werden könnten.254 Dies änderte sich erst 1875, nachdem eine Zunahme der Gefährdungslage festgestellt worden war. Nun erklärte der Landrat:

Da die durch den Bergrutsch gefährdeten Gebäude nach Maßgabe des Versicherungspotentials einen Werth von 233.700 Mark repräsentieren, die Kosten für die Abtragung der Massen aber nur auf 150.000 Mark veranschlagt sind, so kann meines Erachtens nicht mehr dem vorgeschlagenen Projekt entgegengehalten werden, daß es unwirtschaftlich sei, hohe Summen aufzuwenden, um Vermögensobjecte von geringem Werth zu erhalten.255

Bluhmes Schätzungen hatten sich nur auf sechs Häuser bezogen. Nun wurden 18 Gebäude und Nebengebäude in der Kalkulation berücksichtigt und es gab konkrete Angaben über die Kosten der Abtragungsarbeiten. Die Logik dieser Gewichtung ökonomischer Investitionen blieb in der Debatte erhalten. So hatte Innenminister Eulenburg die Zusage der Staatsmittel für die Abtragungsarbeiten, wie oben erwähnt, an die Bereitschaft der königlichen Rheinstrombaudirektion und der Direktion der Nassauischen Eisenbahn geknüpft, das anfallende Gestein kostenlos zu übernehmen. Er stellte diese Bedingung vor dem Hintergrund, dass der Kostenvoranschlag in Höhe von

253 Düsseldorf, HStA, OBA, Nr. 1535, Bergrat Giebeler, Blt. 73.

254 Ebd., Oberbergrat Bluhme, Blt.5 ff.

255 Wiesbaden, HStA, Abt. 405, Nr. 4329, Landrat Fonk, Blt. 89.

150.000 Mark auf dieser Annahme basierte. Falls die Kosten für die Wegschaffung des Gesteins von der Gemeinde selbst getragen werden müssten, befürchtete der Innenminister, dass diese sich auf einen höheren Betrag „belaufen würden, als der auf 233,700 Mark geschätzte Werth derjenigen Gebäude, welche durch den Bergsturz der Gefahr der Verschüttung ausgesetzt sind“256. Die vorgenommene Kosten-Nutzen-Relation war merkwürdig kurzsichtig. Es liegt nahe, dass die Gesamtkosten eines Bergrutsches wesentlich höher liegen – und dies sollte sich nach der Katastrophe bewahrheiten. Mögliche Schäden an Straßen und Eisenbahn wurden trotz staatlichen Interesses nicht in die Kalkulation mit aufgenommen. Darüber hinaus wurden die Kosten für die Bewältigung einer möglichen Katastrophe ignoriert. Auf der materiellen Ebene würden aufwendige Aufräumarbeiten anfallen, auf der nicht materiellen Ebene psychologische Folgeschäden, die in der Ökonomie unter „intangible damages“

subsumiert werden.257

Letztlich wurde in die verkürzte Gegenüberstellung die Gefährdung von Menschenleben nicht mit einbezogen. Hätte man alle möglichen Folgeschäden mit einkalkuliert, wäre der Schutz vor dem Bergrutsch keineswegs mehr als unwirtschaftlich erschienen.

Allerdings fehlte eine weitere maßgebliche Komponente in der Berechnung: die Eintrittswahrscheinlichkeit des Schadensereignisses. Risiko bezieht sich nämlich, einfach definiert, auf die „combination of two factors: the probability that a potentially harmful event will occur; and the potential damage such an occurrence would cause“258. In einer Pseudogleichung ausgedrückt, heißt das:

Risiko = Schadenshöhe x Eintrittswahrscheinlichkeit259

Wahrscheinlichkeitsrechnung war im 17. Jahrhundert durch Mathematiker wie Bernoulli entwickelt worden, um die Ausgänge von Glückspielen zu systematisieren. In diesem Kontext wurde der Begriff „Risiko“ als objektives Instrument zur Wahrscheinlichkeitsmessung bedeutend.260 Ende des 17. Jahrhunderts entstanden auf dieser Basis die ersten Feuerversicherungen.261 Um die Eintrittswahrscheinlichkeit eines Bergsturzes in Kaub rechnerisch anzugeben, hätte es allerdings statistisch auswertbarer Datenreihen bedurft. Ohne ein Wissen von der relativen Häufigkeit von Bergrutschen konnten keine Schlüsse auf die Wahrscheinlichkeit eines möglichen Bergsturzes gezogen werden. Dass die Einschätzung der Eintrittswahrscheinlichkeit für wichtig

256 Düsseldorf, HStA, OBA, Nr. 1535, Innenminister Eulenburg, Blt. 70.

257 Zum Beispiel Lekuthaui & Vongvisessomjai: Flood.

258 OECD (2003), zitiert in Marshall & Picou: Science, S. 236.

259 Daase: Risikopolitik, S. 12.

260 Douglas: Risk, S. 23.

261 Zwierlein: Revolution, S. 235 ff.: In England und Deutschland begann das Nachdenken über Feuerversicherungen um 1680.

erachtet wurde, geht aus den gutachterlichen Schreiben hervor. In jedem Gutachten wurden Angaben über die Größe der Gefährdung gemacht. Da die Gefährdungslage aber nicht durch eindeutige Zahlen (z. B. Eintrittswahrscheinlichkeit = 60 %) objektiviert wurde, erklärte Innenminister Eulenburg nach der Katastrophe, man sei sich 1875 nicht einig gewesen, ob wirklich Gefahr drohe.262 Die Ungewissheit über die Gefährdungslage wurde als Grund zum Nicht-Handeln aufgefasst. Gewissheit gab es lediglich in dem Punkt der Kostenvoranschläge und der Versicherungssummen der Häuser. In der Aufrechnung dieser beiden Summen wird der Anspruch einer objektiven Risikokultur deutlich. Der Staat erkannte damals nicht, dass Abwarten und Nicht-Handeln – in Erwartung einer besseren Entscheidungsgrundlage – auch eine risikobehaftete Entscheidung wäre. Dass einhundert Jahre später die prinzipiellen Methoden zur Kostenanalyse von Naturkatastrophen weiter reichen, kann den Zeitgenossen Ende des 19. Jahrhunderts kaum als Fehler angerechnet werden. Schon damals versuchte man aber, Unsicherheiten durch Risikodenken zu kontrollieren.

Die Feststellung der Wahrscheinlichkeit hatte sich im Falle Kaubs auf die Einschätzungen von Fachleuten beschränkt; die Angabe des potenziellen Schadens war auf unmittelbare Kosten reduziert worden. Selbst wenn ausgefeiltere Methoden zur Risikoberechnung angewendet worden wären, so wäre es diskussionswürdig geblieben, ob dies überhaupt die richtige Vorgehensweise gewesen wäre. Objektives Risiko wird als Instrument problematisch, sobald Menschenleben auf dem Spiel stehen.263 Da es sich hier um irreversible Schäden handeln würde, scheint die Logik des „precautionary principles“264 angemessen. Dieses Prinzip wurde im Zusammenhang mit der fortschreitenden Zerstörung der Umwelt und dem damit verbundenen Artensterben prominent. Es besagt, dass im Falle einer Bedrohung, die irreversible Schäden verursacht, wissenschaftliche Ungewissheit nicht zum Anlass genommen werden dürfe, notwendige Schutzmaßnahmen aufzuschieben. Auf diesem Weg würde die Beweislast zugunsten der Bedrohten umverteilt. Marshall und Pigou sehen in diesem Ansatz eine Möglichkeit, bessere Entscheidungen im Lichte von nicht reduzierbaren Unsicherheiten zu treffen.265 Die wirtschaftliche Durchführbarkeit eines solchen Ideals muss jedoch zweifelhaft bleiben. Es wäre wirtschaftlich kaum tragbar gewesen, Ende des 19. Jahrhunderts alle Felsabschnitte am Mittelrhein, geschweige denn im gesamten Reich, von denen eine Gefährdung ausgehen könnte, nachhaltig zu sichern. Es ist deshalb entscheidend, den Moment zu bestimmen, in dem Sicherungsmaßnahmen getroffen werden sollten. Die Entscheidung zu treffen, ab wann Sicherungsmaßnahmen gerechtfertigt erscheinen und welches Maß an Gefährdung zumutbar ist, ist eine

262 Landtagsverhandlungen, 27. Sitzung am 15. März, Innenminister Eulenburg.

263 Douglas: Risk, S. 41

264 Marshall & Picou: Science, S. 242 f.

265 Ebd., S. 241 f.

politische bzw. ethische Frage.266 Konrad Ott hat in seiner ausführlichen Besprechung von Max Webers Werturteilsfreiheitsthese dies deutlich gemacht.267 In diesem Sinne hat das Prinzip der Vorsicht tatsächlich ein demokratieförderndes Potenzial.268 Abgesehen davon schwingt in der Aufforderung, zum „precautionary principle“ zu greifen, aber die Idee mit, man könne, wenn man von wirtschaftlichen Interessen Abstand nehme, eine sicherere Welt schaffen.269 Luhmanns Erkenntnis, dass man immer zwischen verschiedenen Risiken wählen muss und nicht zwischen Risiko und Sicherheit, bleibt hier unerwähnt. Genau dies wird aber anhand der Frage über die Evakuierung der bedrohten Häuser in Kaub noch einmal deutlich.