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2   Risikokultur: Der Bergsturz in Kaub (1876)

2.3   Wieso die erkannte Gefahr zur Katastrophe werden konnte

2.3.4   Die Frage nach der Evakuierung

Im Sommer 1875 war die Gefahr so akut geworden, dass über eine Evakuierung der Häuser nachgedacht werden musste. Bergrat Giebeler stellte fest, dass entweder die Häuser geräumt werden oder aber die Abtragungsarbeiten unverzüglich beginnen müssten.270 Der Landrat gab an den Regierungspräsidenten entsprechend weiter: „Es wird dann auf die dringende Gefahr eines Bergsturzes hingewiesen und wenn nicht sofort Maßregeln zur Abtragung der drohendsten Felsmassen getroffen werden, die Anordnung der Räumung der in der Nähe stehenden Häuser als gerechtfertigt angesehen.“271 Der Gemeinderat entschied sich gegen die Evakuierung.272 Diese werde nämlich, so die Auffassung, den finanziellen Ruin der Besitzer dieser Häuser verursachen. Außerdem werde es „äußerst schwer sein“, für die betroffenen Personen

„sofort ein Unterkommen zu schaffen“273, erklärte der Landrat. Der Bürgermeister aus Kaub hatte ihm zuvor mitgeteilt, dass es „ganz außer dem Bereich der Möglichkeit liegt“274, die 211 Menschen aus den bedrohten Häusern auf behördlichen Räumungsbefehl unterzubringen. Nach der Katastrophe kommentierte Innenminister Eulenburg dieses Vorgehen mit den Worten, die Gemeinde hätte „sehr wenig Lust

266 Beck: Gegengifte; Douglas: Risk.

267 Ott: Facto, S. 138 ff.

268 Marshall & Picou: Science.

269 Beispielsweise erscheint die Formel als prinzipielle Lösung für das Problem des Biodiversi-tätsverlustes. Aufgrund eines zu geringen wissenschaftlichen Wissens wäre es demnach un-verantwortlich, eine Pflanzenart aussterben zu lassen, weil diese Pflanze möglicherweise in Zukunft als Grundlage für wichtige Medikamente entdeckt werden könnte. Luhmanns Logik würde an dieser Stelle insofern greifen, als die durch das „precautionary principle“ erhaltene Pflanze genauso ein Risiko für die Zukunft darstellen könnte und beispielsweise als Grund-lage eines biologischen oder chemischen Kampfstoffes Verwendung finden könnte. Die Ent-scheidung ist also nicht in der Dichotomie Risiko versus Sicherheit verankert.

270 Düsseldorf, HStA, OBA, Nr. 1535, Bergrat Giebeler, Blt.59.

271 Wiesbaden, HStA, Abt. 405, Nr. 4329, Landrat Fonk, Blt. 88.

272 Düsseldorf, HStA, OBA, Nr. 1535, Bergrat Giebeler, Blt. 59.

273 Wiesbaden, HStA, Abt. 405, Nr. 4329, Landrat Fonk, Blt. 90.

274 Ebd., Bürgermeister Herberich und Gemeinderat, Blt. 102.

gezeigt, die Leute hinauszutreiben“275. Bergrat Giebeler hatte die Entscheidung der Gemeinde als Sachverständiger mitgetragen: „Nach meiner Ansicht ist eine Sperrung der durch den Bergsturz betroffenen Häuser und Straßen nicht geboten, wenn die von mir getroffenen Anordnungen sofort befolgt werden“. 276 Da die Inangriffnahme der Abtragungsarbeiten sich aber weiter verzögerte, drängte Giebeler Anfang Oktober noch einmal darauf, „bei Zeiten die geeigneten polizeilichen Verfügungen“277 zu erlassen. Er wusste am ehesten, welches Risiko man einging. Die Gemeinde stand vor der Wahl, etwa ein Zehntel ihrer Bewohner auf unbestimmte Zeit aus ihren Häusern auszuweisen – ohne anderweitige Unterbringungsmöglichkeiten zu sehen – oder die Bewohner in der unbestimmten Gefahrenlage schweben zu lassen. Da das Terrain regelmäßig beobachtet wurde, glaubte man erst bei der „dringenste[n] Gefahr“ evakuieren zu müssen.

Evakuierungen anzuordnen, ist keine einfache Angelegenheit. Um noch einmal Luhmanns Einsichten zu bemühen: Die Entscheidung Evakuierung versus Nicht-Evakuierung ist keine Entscheidung zwischen Sicherheit und Risiko. Es ist eine Entscheidung zwischen verschiedenen Risiken. Bis heute sind die Bedingungen, unter denen evakuiert werden sollte, nur unzureichend verstanden. Prinzipiell übernimmt die Verwaltung die Verantwortung für die Schäden, die aus einer Evakuierung resultieren.278 Dazu gehören auch „problems with housing and food where the people are relocated“279. Genau dies war für die Gemeinde Kaub ein zu hoher Kostenpunkt. Sie konnte es sich nicht leisten, 10 % der Einwohner zu versorgen und unterzubringen. „A decision to evacuate under uncertainty must balance the costs of a false positive (evacuation when it isn’t needed) against the costs of a false negative (not evacuating when warranted).“280 Weil die Bürgermeisterei Kaub die Evakuierung außerhalb des praktisch Möglichkeiten sah, wurden die Kosten für eine „false positive“ als zu hoch eingeschätzt. Deshalb ging man aktiv das Risiko ein, die Bewohner im Gefahrenbereich zu belassen. Den Bewohnern selbst stand es natürlich jederzeit frei, ihre Häuser zu räumen. Aber wie auch vor dem Bergsturz von Goldau (1806) zogen die Bewohner es vor, im Gefahrenbereich zu bleiben.281 Die Gründe dafür, warum Einwohner ihre Häuser nicht aufgeben wollen, sind vielseitig. Sicherlich spielten wirtschaftliche und identitätsstiftentende Momente (Heimat) eine wichtige Rolle. Aus perzeptionsgeografischer Perspektive kann zudem davon ausgegangen werden, dass die Einwohner das Risiko unterschätzten. In ihrer Wahrnehmung war die Gefahr weniger

275 Landtagsverhandlungen, 27. Sitzung am 15. März, Innenminister Eulenburg.

276 Wiesbaden, HStA, Abt. 405, Nr. 4329, Bürgermeister Herberich und Gemeinderat, Blt.106.

277 Düsseldorf, HStA, OBA, Nr. 1535, Bergrat Giebeler, Blt. 72.

278 Lave & Apt: Disasters, S. 127.

279 Ebd.

280 Ebd. Es wurden schon Evakuierungen angeordnet, die nicht nötig waren und schwere Folgen hatten. So starben im Zuge der Evakuierung von 3,7 Millionen Texanern in Anbetracht von Hurrikan Rita 60 Menschen, obwohl Rita die Region letztlich nicht traf.

281 Summermatter: Bergsturz, S. 122.

akut, weil es keine Präzedenzfälle im Bewusstsein der Bevölkerung für so ein Unglück gab.282 Der Bergsturz von Goldau hatte in der fernen Schweiz etwa zwei Generationen früher stattgefunden. Im Gegensatz zu regelmäßig wiederkehrenden Katastrophen (z. B.

Sturmfluten an der Nordseeküste) ist der Eintritt einer solchen einmaligen Katastrophe nur schwer vorstellbar. Hinzu kommt die Tatsache, dass trotz sachverständiger Warnungen erst einmal über Jahre hinweg kein Unglück eintrat und man sich an das Leben in der Gefahr gewöhnt hatte.283

Die Staatsregierung hütete sich davor, in dieser Frage in den Verantwortungsbereich der Gemeinde einzudringen. Im Nachhinein verkaufte Innenminister Eulenburg seine Anfrage, ob man die Häuser nicht sperren lassen sollte, als vor- und weitsichtige Warnung. Es erschien ihm schon damals gefährlich, über den Häusern eine „solche Gefahr schweben zu lassen“284. Damit befand er sich wieder in der Risikologik des oben genannten Arztes, der Abwägungsmöglichkeiten aufzeigt, aber keine Ratschläge gibt.

Seine Rhetorik im Landtag spiegelte im Nachhinein die Kenntnis über die richtige Entscheidung wider, die doch scheinbar Sicherheit garantiert hätte. Dass die Gemeinde Kaub wusste, wie gefährlich es war, nicht zu evakuieren, und die Evakuierung trotzdem unterließ, hatte gute Gründe. Es ist darüber hinaus erstaunlich, wie derselbe Innenminister, der die bürokratischen Hürden für die Bewilligung staatlicher Mittel zur Abwendung der Gefahr nicht gerade absenkte, plötzlich von der akuten Gefahr für die Bewohner sprach. Im Vergleich zur Anschuldigung einer versäumten Evakuierung, wie sie auch vom Abgeordneten Petri im Landtag angesprochen wurde, war der Vorwurf des „Zu spät“ vor dem Hintergrund der obigen Analyse zutreffender.

Eine gewichtige Erkenntnis bleibt, nämlich dass die Entscheidung zur Nicht-Evakuierung keine Entscheidung zugunsten der „Unsicherheit“ war, sondern dass wie in allen Sicherheitsfragen komplexe Entscheidungsprozesse zur Auswahl unter verschiedenen Risiken führen müssen.285 Mary Douglas argumentiert dafür vor dem Hintergrund eines wissenschaftlichen Risikodenkens, nicht die soziale Seite dieser Prozesse auszublenden. Nach ihrer Auffassung würden Sicherheitsfragen durch soziale Interaktion, durch Beratung und Austausch miteinander getroffen. Politischer Konsens würde nur durch Diskurse gebildet, nicht aber aufgrund von Fakten. Auch heutige Ökonomen stimmen ihr darin weitgehend zu. Zwar plädieren sie dafür, mittels Kosten-Nutzen-Analysen die Entscheidungsmöglichkeiten genauer darzustellen.286 Sie wollen

282 Vgl. Geipel: Naturrisiken, und Weichselgartner: Naturgefahren.

283 Man vergleiche die Situation mit derjenigen, in der sich die ungarischen Juden vor dem Einmarsch der Deutschen im Zweiten Weltkrieg befanden. Auch hier stellt sich im Nach-hinein die Frage, warum sie nicht geflohen sind. Die Antwort lautet: Die Katastrophe, die folgte, war zu diesem Zeitpunkt schlichtweg unvorstellbar gewesen.

284 Landtagsverhandlungen, 27. Sitzung am 15. März, Innenminister Eulenburg.

285 Douglas: Risk.

286 Lave & Apt: Disasters.

aber nicht – wie Mary Douglas dem objektiven „Risikowissenschaftler“ unterstellt hat – die Entscheidung von jeglichem politischen Schmutz reinwaschen.287 So glauben Lave und Apt, dass „community discussion is needed to lay out the alternatives and have people decide on the best alternative“288. Wie die Anthropologin halten auch sie dies für notwendig, weil eine rein ökonomische Abwägung hier unangebracht erscheint angesichts der Tatsache, dass Menschenleben auf dem Spiel stehen. Zu Recht nehmen sie an, dass die Bevölkerung es nicht gut heißen würde, wenn die Regierung den frühzeitigen Tod einer Person durch einen Betrag von 5 Mio. US-$ in die Kosten-Nutzen-Relation mit aufnehmen würde.289