• Keine Ergebnisse gefunden

2   Risikokultur: Der Bergsturz in Kaub (1876)

2.3   Wieso die erkannte Gefahr zur Katastrophe werden konnte

2.3.2   Eine Frage von Verwaltung und Ökonomie

Vor dem Hintergrund der langen Vorgeschichte des Bergsturzes kamen auch kritische Stimmen zum Umgang mit der Gefahr zu Wort. Sie kulminierten in dem Ausruf „Zu spät!“. Der Rheinische Kurier schrieb zwei Tage nach der Katastrophe: „,Zu spät‘ so lautete die Warnung, welche bezüglich unseres drohenden Bergsturzes sachkundige Männer mehr als ein halb dutzend Mal in Ihrer Zeitung ergehen ließen. Heute Nacht halb zwölf Uhr ist nun das langbefürchtet und oft genug in Aussicht gestellte Unglück eingetreten.“235 Tatsächlich hatte Bergrat Giebeler in seinem Gutachtem im Oktober 1875 geschrieben: „Kommt die Hilfe zur Beseitigung dieser Gefahr nicht bald, so kommt sie meiner Ansicht nach ganz sicher – zu spät […]“236 Auch in dem Artikel der Gartenlaube schwang dieses „Zu spät“ insofern mit, als die „langen Verhandlungen“

erwähnt wurden, die nötig waren, bevor „endlich“ Staatshilfe gewährt wurde.237 In den Landtagsverhandlungen nach dem Bergsturz wurde die Problematik vom Abgeordneten

231 Wiesbaden, HStA, Abt. 405, Nr. 4329, Bürgermeister Herberich und Gemeinderat, Blt. 101.

232 Lotsenvereinigung Mittelrhein: Steuerleute, Blt. 54.

233 Lübbe: Einheit, S. 9 ff.

234 Ule: Grundriss, S. 321. Hier wurde konstatiert, dass sowohl der Bergsturz von Kaub als auch der von Elm infolge des „unvorsichtigen Anlegens von Schieferbrüchen“ entstanden seien.

235 Rheinischer Kurier, 12.3.1876.

236 Düsseldorf, HStA, OBA, Nr. 1535, Bergrat Giebeler, Blt. 76.

237 Kruse: Bergsturz, S. 254.

Petri expliziert. Er resümierte die Vorgeschichte des Bergsturzes seit 1873 in groben Zügen: Erst traf man nur „halbe Maßregeln“ und verlangte von der „armen Gemeinde Kaub“ für die Kosten aufzukommen, dann verhandelte man lange Zeit darüber, wer die Kosten aufzubringen habe und nun stehe man vor dem „Vorwurf des verhängnisvollen

‚Zu spät!‘“238. Damit deutete der Abgeordnete an, dass die Ursachen für die Katastrophe bis in das Jahr 1873 zurückreichten.

Damals hatte Oberbergrat Bluhme aus Bonn das Abtragen der in Bewegung befindlichen Partie als Option verworfen, weil dies „ganz unverhältnissmäßige Kosten“

verursachen werde.239 Seine zweite Option, die Häuser zu räumen und als Schutzwall stehen zu lassen, kam nicht infrage, weil dann die Weinberge auf unbestimmte Zeit unbenutzbar blieben. Am sinnvollsten fand er daher die Aufführung einer fest fundamentierten Schutzmauer.240 In der Luhmann’schen Diktion geht es in der Beschäftigung Bluhmes mit dem drohenden Bergrutsch nicht um eine Gefahr, sondern um ein Risiko. Risiken sind entscheidungsabhängig, Gefahren existieren unabhängig von Entscheidungen.241 Durch das Gutachten des staatlich beauftragten Sachverständigen wurden wissenschaftlich-politische Entscheidungsprozesse eingeleitet. Im Luhmann’schen Verständnis ist die Diskussion Bluhmes um die verschiedenen Optionen nun keine Entscheidung zwischen Sicherheit und Risiko, sondern zwischen verschiedenen Risiken. Die Differenzierung Risiko versus Sicherheit wird in seiner Theorie ad acta gelegt und durch die Unterscheidung von Risiko und Gefahr ersetzt. Die Risiko-Sicherheits-Dichotomie suggeriere nämlich, so Luhmann, es gebe so etwas wie einhundertprozentige Sicherheit, wenn man kein Risiko eingeht. Dies ist aber gerade nicht so. Auch wenn man kein aktives Risiko eingeht, befindet man sich in der riskanten Situation des Nicht-Handelns.242 Im Falle Kaub wird dies besonders deutlich. Keine Maßnahmen zu ergreifen und abzuwarten, wäre äußerst riskant gewesen. Dies gestand auch Bluhme zu, indem er erklärte, man könne, aufgrund der gefährdeten Häuser unterhalb des Berges, nicht alles auf sich beruhen lassen und abwarten. Von Interesse ist nun, auf welcher Basis die Entscheidung bezüglich der unterschiedlichen Risiken letztlich getroffen wurde. Die erste Option trägt das Risiko in sich, dass man ökonomische Ressourcen für etwas verbraucht, was sie nicht wert ist (mit anderen Worten ein schlechtes Geschäft macht). Die zweite Option würde die lokalen Interessen der betroffenen Winzer wie auch die der Hausbewohner und -besitzer schädigen, ohne dass dies vielleicht nötig sei. Die postulierte Option der Schutzmauer

238 Landtagsverhandlungen, 27. Sitzung, 15. März, Abgeordneter Petri.

239 Düsseldorf, HStA, OBA, Nr. 1535, Oberbergrat Bluhme, Blt. 7.

240 Ebd. Dieser Vorschlag sei aber nur „approximativ“, weil man nicht sicher sein könne, dass überall fester Fels zur Fundamentierung gefunden werde.

241 Luhmann: Soziologie.

242 Ebd., S. 30-35.

barg das Risiko in sich, dass die Schutzmauer keinen ausreichenden Schutz bei einem Bergsturz bieten würde.

Von diesen grundlegenden Vorschlägen wurde zunächst keiner durchgeführt. Die Einstellung eines Aufsehers zur Beobachtung des Terrains im Sommer 1873 ist gleichbedeutend mit der Idee des Abwartens – wenngleich eines „aufmerksamen Abwartens“; davon hatte Bluhme eigentlich abgeraten. Im Herbst 1873 forderte er noch einmal die Errichtung einer fest fundamentierten Schutzmauer. Aufgrund der hohen Kosten (15.000 Mark) blieb die hoch verschuldete Gemeindeverwaltung untätig. Bis 1875, also zwei Jahre nach dem ersten Gutachten, war von den grundsätzlichen Vorschlägen Bluhmes keiner in die Praxis umgesetzt worden. Zwar hatte man kostengünstige Maßnahmen durchgeführt, trug absturzgefährdete Felsen ab und baute kleinere Schutzmauern, aber diese „halben Maßnahmen“ täuschten lediglich darüber hinweg, dass man eigentlich abwartete. Sogar für die Bewilligung einer Summe von 6.000 Mark zur Erweiterung eines Stollens zu Entwässerungszwecken bedurfte es eines halben Jahres und der dringlichsten Gefahr.243

Im Frühjahr 1875 wurde von Sachverständigen eine deutliche Zunahme des Risikos festgestellt. Bluhmes Vorschläge kamen wieder in die Diskussion. Seine erste Option, den in Bewegung befindlichen Teil abzutragen, wurde nun trotz der anfallenden Kosten präferiert. Innenminister Eulenburg zog auch staatliche Unterstützung in Erwägung, um eine Abtragung des Berges zu veranlassen, verlangte aber zunächst einen Kostenvoranschlag.244 Anfang August traf ein Kostenvoranschlag des Bergrates Giebeler bei der Bürgermeisterei in Kaub ein. Bürgermeister Herberich schrieb daraufhin Landrat Fonk, und dieser wiederum setzte sich mit der königlichen Regierung in Wiesbaden in Verbindung. Erst von dort aus wurde das Staatsministerium in Berlin in Kenntnis gesetzt. Trotz der akuten Gefahr wurde der übliche Behördenweg, der immerhin aus vier Stationen bestand, eingehalten. Es dauerte bis zum 28. September, also rund zwei Monate von der ersten Versendung des Kostenvoranschlages an, bis Innenminister Eulenburg seine Antwort nach Wiesbaden schickte. Die Verzögerung erklärt sich unter anderem dadurch, dass Innenminister Eulenburg zunächst feststellen wollte, ob die Königliche Rheinstrombauverwaltung und die Königlich Nassauische Eisenbahndirektion zur Übernahme des anfallenden Gesteins bereit wären. Auf Grundlage dieser Bedingung war nämlich der Kostenvoranschlag in Höhe von 150.000 Mark gestellt worden. Innenminister Eulenburg bat also Handelsminister Achenbach, bei den beiden genannten Institutionen in dieser Sache anzufragen.245 Achenbach hatte

243 Vgl. Düsseldorf, HStA, OBA, Nr. 1535, Bergrat Giebeler, Blt. 76.

244 Ebd., Innenminister Eulenburg, Blt. 44.

245 Eine direkte Anfrage der Gemeinde Kaub hatte wohl lediglich zu einer Zusage der Rheinstrombaudirektion geführt, war aber auf eine ablehnende Haltung bei der Direktion der Nassauischen Eisenbahn gestoßen. Siehe Wiesbaden, HStA, Abt. 405, Nr. 4329, Bürger-meister Herberich, Blt. 103 f.

das wohl auch getan, aber bis zum 28. September war Eulenburg immer noch kein Ergebnis in der Sache bekannt. Damit hatte sich die Kette der Beteiligten wieder verlängert, und die Abläufe wurden weiter verzögert. Die Kette führte nun vom Sachverständigen (Giebeler) zum Kauber Bürgermeister (Herberich), dann zum Landrat (Fonk), von da aus zum hessischen Regierungspräsidenten (Wurmb) und weiter zum preußischen Innenministerium (Eulenburg); von Eulenburg ging die Anfrage an den Handelsminister (Achenbach), der sie weiterleitete an die Rheinstrombaudirektion und die Direktion der Nassauischen Eisenbahn. Der Ausgangspunkt der Kette, Bergrat Giebeler aus Wiesbaden, reagierte entsprechend energisch, als zwei Monate nach seinem Gutachten sich immer noch keine Fortschritte zeigten. Die in Aussicht stehende Staatshilfe hing von der Antwort der Rheinstrombauverwaltung und der Eisenbahndirektion ab und sollte wenn überhaupt erst in den Staatshaushalt von 1876 aufgenommen werden.246 Deshalb schrieb Giebeler am 9. Oktober direkt an die königliche Regierung in Wiesbaden, um sie davon zu unterrichten, dass es nur eine Frage der Zeit sei, bis der Bergsturz eintrete.247

Am 19. Oktober wurde die Staatsbeihilfe gewährt, ob durch das Drängen aus Wiesbaden oder die positive Antwort der Rheinstrombauverwaltung begründet, lässt sich nicht mehr beurteilen.248 Die Aufwendung von 150.000 Mark machte etwa 0,015 % der preußischen Staatsausgaben aus.249 Anteilsmäßig entspräche das im heutigen Staatsbudget einer Ausgabe von 150 Millionen Euro.250 Die Gewährung der Hilfsmittel war daran gebunden, dass die Gemeinde selbst 10 % der 150.000 Mark aufbrächte. Die erforderlichen 15.000 Mark wurden von der Gemeinde schließlich durch ein Darlehen beschafft.251 Im November wurde mit den Arbeiten begonnen. Die Schutzmauer, die von Bluhme 1873 als beste Möglichkeit gesehen worden war, wurde nun nach zweieinhalb Jahren in Angriff genommen. Bis Anfang März waren 12 Meter der insgesamt 30 Meter langen Mauer aufgeführt worden. In Anbetracht der drohenden Gefahr wurde nun auch mit der Abtragung des Berges begonnen, die Bluhme noch als unwirtschaftlich verworfen hatte.252 Aufgrund der jahreszeitlich bedingten Witterungsverhältnisse konnten die Abtragungsarbeiten aber nur in geringem Umfang umgesetzt werden. Dann kam das Frühjahr mit außergewöhnlichen Niederschlägen und der befürchtete Bergsturz trat ein. Es ist verwunderlich, dass die in Kaub anwesenden Sachverständigen am 9. März trotz der nassen Verhältnisse keine akute Gefahr erkannten. Vielleicht hatte die

246 Düsseldorf, HStA, OBA, Nr. 1535, Innenminister Eulenburg, Blt. 44.

247 Ebd., Bergrat Giebeler, Blt. 72ff.

248 Rheinischer Kurier, 21. 10. 1875.

249Königliches Statistisches Bureau: Statistik, S. 154* f. Die Gesamtausgaben Preußens beliefen sich 1881/82 etwa auf 1 Milliarde Mark.

250 Statistisches Bundesamt Deutschland. Die Ausgaben des deutschen Staates beliefen sich 2007 auf etwas über 1 Billion Euro (siehe: www.destatis.de [Zugriff Oktober 2009]).

251 Ebd.

252 Wiesbaden, HStA, Abt. 405, Nr. 4329, Bergverwalter Haeusing, Blt. 29.

Umsetzung grundlegender Maßnahmen die Sachverständigen beruhigt. Man konnte mit dem Erreichten zufrieden sein. Und außerdem. Wie lange mochten Verhandlungen um erneute Maßnahmen dauern? Die Maßnahmen waren vermutlich auch angemessen, nur kamen sie zu spät. Von März 1873 bis zum Frühjahr 1875 hatte man abgewartet und lediglich kleinste Maßnahmen durchgeführt. In dieser Zeit war der Berg an den zwei Messpunkten über 3 bzw. über 5 Meter vorgerückt. Die Zunahme der Gefahr wurde erkannt, aber während eine Entscheidung über die Bezahlung und Durchführung von erforderlichen Maßnahmen ausstand, bewegte sich der Berg an den beiden Punkten jeweils um weitere 5 Meter fort. Bis November 1875, als die Arbeiten schließlich begonnen wurden, war der Berg seit der ersten Messung um 8 bzw. 10 Meter vorgerückt. 253 Es lässt sich resümieren, dass die bürokratischen Entscheidungsprozesse und der zentralistisch organisierte Verwaltungsapparat langsamer waren als ein in Bewegung geratener Berg.