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2   Risikokultur: Der Bergsturz in Kaub (1876)

2.3   Wieso die erkannte Gefahr zur Katastrophe werden konnte

2.3.7   Expertenwissen in der Kritik

Die Problematik differierender Gutachten wurde vom Staat unter Rückgriff auf die hierarchischen Strukturen pragmatisch gelöst. Bergrat Giebelers Wort konnte von Oberbergrat Bluhme übertrumpft werden, niemals aber umgekehrt. Solche Konflikte um Wissen traten aber nicht nur zwischen den Sachverständigen auf, sondern auch zwischen Experten und Anwohnern. Das größte Konfliktpotenzial barg augenscheinlich die falsche Einschätzung des letztlich entscheidenden Risikos. Noch am 9. März, also einen Tag vor dem Unglück, war eine Gruppe von Sachverständigen vor Ort gewesen, ohne die Dringlichkeit der Lage zu erkennen. Handelsminister Achenbach verlangte vor diesem Hintergrund eine Rechtfertigung vom Oberbergamt. „Unmittelbar vor dem Unglücksfall bei Kaub soll eine Besichtigung durch Bergtechniker stattgefunden haben, ohne dass von diesen die bevorstehende Gefahr festgestellt worden ist. Ich wünsche sofortigen Bericht über Sachlage.“321 Oberbergrat Fabricius konnte schlecht abstreiten, dass er tatsächlich zusammen mit Bergrat Giebeler und Bergverwalter Haeusing das Gebiet besichtigt hatte. Die Gefahr sei für die Sachverständigen nicht wahrnehmbar gewesen, erklärte er deshalb.322

Im Bericht des evangelischen Pfarrers von Kaub wurde dagegen bestätigt, dass eine Bewohnerin der gefährdeten Häuser, die Frau des Heinrich Pfaff, die große Gefahr ahnte. Sie war darauf vorbereitet, mit ihrer Familie am 11. März auszuziehen. Am Abend der Katastrophe hatte sie Bürgermeister Herberich aus einer Zusammenkunft im Gasthaus gerufen. Sie führte ihn in ihre Scheune, die in den Berg hineingebaut war, um ihn von der Gefährlichkeit der Situation zu überzeugen. Der Bürgermeister konnte während seiner Anwesenheit nichts Verdächtiges feststellen, gab aber den Rat, so schnell wie möglich auszuziehen. „Im Vertrauen auf das Urteil der Techniker [ebenjene, die noch am Tag zuvor dagewesen waren] legte sich am Abend alles ruhig zu Bett, nur Frau Pfaff blieb wach, unterhielt Licht und rief noch um 11 Uhr den Nachtwächter

321 Düsseldorf, HStA, OBA, Nr. 1535, Handelsminter Achenbach, Blt. 83.

322 Ebd., Oberbergrat Fabricius, Blt. 93-96.

herbei, um auf das Knistern in ihrer Scheune zu achten“323. Durch ihre Wachsamkeit sah sie den Bergrutsch kommen und konnte durch ihre Warnrufe noch ihren Mann und Sohn retten.

Als die Ehefrau Pfaff gerade mit dem Nachtwächter aus der Wohnung getreten war und sich noch mit ihm über das zeitweise Knacken und Knistern in Haus und Scheune unterhiehlt, begannen plötzlich […] die Nachbarhäuser zu wanken, zu krachen und einzustürzen. […] Frau Pfaff stürzte hilferufend in die Hauptstraße, ihr Mann und Sohn waren noch in dem stürzenden Haus zurück.324

Durch die Hilferufe war das junge Ehepaar Pfaff rechtzeitig alarmiert worden und zum Fenster des ersten Stockwerkes hinaus auf die Seitenstraße gesprungen.325 Die Initiative von Frau Pfaff, die den Experten nicht blind vertraute, konnte so einigen ihrer Angehörigen in letzter Minute das Leben retten.

In diesem Fall erscheint lokales Laienwissen dem offiziösen Expertenwissen überlegen.

Eine mögliche Erklärung für dieses Missverhältnis liefern Marshall und Picou.

Demnach seien konventionelle Wissenschaftler so ausgebildet, dass sie eher den Fehler begehen würden, eine tatsächlich existierende Beziehung zu übersehen („Type I error“), als eine Beziehung zu finden, die eigentlich gar nicht existiert („Type II error“).326 Für eine gefährdete Kommune wäre eine umgekehrte Hierarchie wünschenswert.327 An den Verhandlungen zum Bergsturz hatten auch Gemeindevertreter teilgenommen. Die Experten schotteten sich folglich nicht gegen andere Meinungen ab. In den Ergebnissen der jeweiligen Verhandlungen spiegelte sich häufig jedoch die angenommene Wissenshierarchie wider. Dann hieß es in den amtlichen Korrespondenzen entweder, die Bürgermeisterei sehe keine Notwendigkeit, etwas zu unternehmen (Sommer 1873), oder sie folge den Expertenweisungen bereitwillig (Sommer 1875). Im ersten Fall las sich der Bericht von Oberbergrat Bluhme so, als nehme die Gemeinde den guten Rat nicht ausreichend an. Mit Sicherheit lässt sich sagen, dass die höheren Verwaltungsebenen im Entscheidungsprozess lediglich auf die Expertenmeinungen zurückgriffen.

Auch bezüglich der Ursachen der Bewegung des Berghanges gab es konfligierende Ansichten. „Nachdem eine darüber gelegene Quelle […] in Folge eines Erdbebens verschwunden war und sich das Wasser einen Weg in die Tiefe gesucht hatte, wurde ein rasches Sinken des Bergtheiles bemerkt und in den letzten Jahren durch genaue

323 Anthes: Bericht, S. 293. „Schon gestern Abend sollen Erschütterungen an einzelnen Scheu-nen bemerkt worden sein […]“, berichtete der Rheinische Kurier am 12. März 1876.

324 Cauber Nachrichten: Bergrutsch, S. 302.

325 Ebd.

326 Marshall & Picou: Science, S. 235.

327 Ebd.

Beobachtungen festgestellt“,328 schrieb der Rheinische Kurier am 21. Oktober 1875. Es liegt nahe, dass diese Informationen aus der lokalen Bevölkerung stammten. Bergrat Giebeler hielt als Vertreter der Experten diese Angaben jedenfalls für falsch. Zwar wusste er von den bei Kaub stattgefundenen Erdbeben von 1846 und 1870, das Versiegen der infrage kommenden Quelle stehe damit aber nicht in Zusammenhang.329 Seine Argumente bezogen sich auf eine periodische Quelle namens Pulverborn, die allerdings nicht notwendigerweise mit der gemeinten Quelle übereinstimmen muss. Die Ex-post-Erklärung der Katastrophe durch die Sachverständigen bezog sich auf ihnen unbekannte Wassermassen im Innern des Berges. Dies könnte dafür sprechen, dass die lokalen Stimmen, die in dem Zeitungsbericht zu Wort kamen, nicht vollkommen falsch lagen und den Sachverständigen ein „Type I error“ unterlaufen war, nämlich einen Zusammenhang zwischen versiegter Quelle und Bergrutsch zu übersehen, obwohl dieser tatsächlich existierte. Darüber hinaus spiegelt der Konflikt die Problematik aufklärerischer Einflüsse auf lokale Wissenskulturen wider, wie ihn aus umwelthistorischer Perspektive Dix und Röhrs beschrieben haben. In Bezug auf Hangrutschungen am Trauf der Schwäbischen Alb erklären sie:

Indem das Wissen der Bauern uneingeschränkt verworfen und als unhinterfragtes Halbwissen, als Unwissenheit oder Aberglaube abgetan wurde, – das unterirdische Höhlen- und Fluss-System der Alb, von dem die Landbevölkerung zu berichten weiß, wird z. B. als

„Sage“ bezeichnet –, ging diese lokale, bäuerliche Naturwahrnehmung und Risikokultur sukzessive, als ‚rückständig‘

diffamiert, verloren.330

Offensichtlich war sie aber in Kaub bis zum Ende des 19. Jahrhunderts noch nicht vollständig verlorengegangen. In aktuellen Diskussionen wurde die Problematik zwischen lokalem und Expertenwissen auf die Entwicklungsländerproblematik fokussiert. Es wird in Anlehnung an Edward Said kritisiert, dass die Länder des Südens als besonders anfällig für Naturkatastrophen angesehen und mit westlicher Expertise behandelt würden.331 In diesem Zusammenhang wurde Expertenwissen problematisiert und die Stärken von lokalem Wissen hervorgehoben.332 Dass ähnliche Prozesse innerhalb der westlichen Welt abgelaufen sind und Zentralisierungsprozesse auch hier lokale Wissenskulturen verdrängt haben, wird in solchen Debatten weitgehend

328 Rheinischer Kurier, 21.10.1875.

329 Düsseldorf, HStA, OBA, Nr. 1535, Bergrat Giebeler, Blt. 67 ff. „Die fragliche Quelle ge-nannte Pulverborn“ ist nach den von mir gemachten Erhebungen und Erkundigungen kei-neswegs in folge der in den Jahren 1846 und 1870 bei Caub verspürten Erdbeben versiegt, sondern sie ist eine periodische Quelle, welche jedes Jahr nach längerer trockener Witterung verschwindet, nach längerem Regenwetter aber wieder ausfließt […]Sollte aber der Pulver-born in früheren Jahren wirklich einen ständigen Ausfluß gehabt und stets eine größere Was-sermenge geliefert haben, so ist es viel wahrscheinlicher […]“.

330 Dix & Röhrs: Vergangenheit, S.228, Hervorhebung P. M.

331 Bankoff: Cultures.

332 Hewitt: Regions.

ausgeblendet. Dabei ist die Marginalisierung von Laienwissen ein Merkmal der Produktion von „objektivem“ Wissen durch die klassische Wissenschaft.333 Aber gerade wenn Fakten unsicher und mögliche Kosten (stakes) hoch sind und Entscheidungen drängen, reichen normale wissenschaftliche Methoden nicht mehr aus. In solchen Fällen verkehrt sich der klassische Kontrast zwischen harter Wissenschaft und „weichen“

Werten in sein Gegenteil: wo harte wertbezogene Politikentscheidungen notwendig sind, während die wissenschaftlichen Erkenntnisse relativ „weich“ sind. Für diese Szenarien haben die Risikowissenschaftler Funtowicz und Ravetz vorgeschlagen, neben Experten alle Betroffenen an der Entscheidungsfindung im Sinne einer postnormalen Wissenschaft zu beteiligen.334