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4   Wissenschaft, Politik und Katastrophenmoral: Das Hochwasser am

4.2   Solidarität im Angesicht der Katastrophe

4.2.4   Exkurs: Internationale Beziehungen

Vereinzelt hatten sich auch Ausländer an den Sammlungen beteiligt. Den Engländern sprach Kaiserin Augusta beispielsweise, neben den Deutschen in England, „im Wohlthun wie in allen edlen Bestrebungen vereint“871, ihren Dank aus. Dieser Ausdruck des Dankes hatte aber keinerlei Auswirkungen auf die internationalen Beziehungen zwischen Deutschland und England, sondern war eher als Höflichkeitsformel zu verstehen. Eine offizielle diplomatische Anteilnahme von Regierungen schien erst dann gefordert zu sein, wenn bei Katastrophen eine große Zahl von Todesopfern zu verzeichnen war, wie im Falle des Erdbebens von Ischia (1883) oder der Grubenkatastrophe von Courrières (1906).872

In Courrières hatte sich am 10. März 1906 das schwerste Grubenunglück der europäischen Geschichte zugetragen; durch eine Grubengasexplosion waren über 1.000 Bergleute zu Tode gekommen. Telegramme fast aller europäischen Regierungen, einschließlich der deutschen Staatsregierung, bekundeten der französischen Regierung ihre Solidarität im Unglück. Auf eine solche nationale Tragödie gebot der moralische Kodex internationaler Beziehungen, diplomatisch zu reagieren.873 Trotz zwischenstaatlicher Spannungen kamen Rettungsmannschaften aus den deutschen Bergrevieren in Herne und Gelsenkirchen zu Hilfe. Dieser Akt wurde im Nachhinein als Zeichen der Völkerverständigung und der Nächstenliebe interpretiert. Aber auch national wurden die Helfer als „die deutschen Helden von Courrières“874 präsentiert.

Obwohl die Hilfsaktion auf persönlicher Initiative eines Bergmeisters beruhte, wurde sie im Nachhinein durch die Presse in den verschiedensten Versionen zu einem Akt nationaler Größe und transnationaler Solidarität stilisiert.

Daneben hatte der deutsche Botschafter in Paris dem französischen Außenminister eine Geldspende in Höhe von 100.000 Mark für die Hinterbliebenen überreicht. Dieses Zeichen darf aber nicht im Sinne einer Verbesserung der deutsch-französischen Beziehungen interpretiert werden. Vor dem Hintergrund der Geschehnisse von 1914 wäre dies auch nur schwer möglich.875 Die Intentionen für die telegrafische Anteilnahme und die Geldzuwendung lagen vermutlich, analog dem Beispiel von Ischia, eher im moralischen und im patriotischen Bereich.

871 Ebd., 6.1.1883.

872 Im internationalen Umgangscode wurden nur außergewöhnliche Katastrophen (mit vielen Todesopfern) zum Anlass diplomatischen Engagements. Andernfalls wäre die Frequenz von solchen offiziellen Anteilsbekundungen allein zwischen den europäischen Staaten wohl zu hoch geworden und hätte ihre Glaubwürdigkeit und Wirksamkeit zur Regelung von Bezie-hungen schnell verbraucht.

873 Friedemann: Erbe, S. 145.

874 Ebd., S. 153.

875 Ebd., S. 130, 146.

Am 28. und 29. Juli 1883 hatten schwere Erdbeben mehrere Orte auf der italienischen Insel Ischia zerstört und mehr als 2.000 Menschenleben gefordert. In Deutschland wurde zu landesweiter Anteilnahme und zu einer Spendensammlung für das befreundete Land mit seiner wunderbaren Kultur und Natur aufgerufen. „Zwischen beiden national geeinten Mächten bestehen heute die freundschaftlichsten Beziehungen, die durch gemeinsame Interessen des Friedens getragen und bestetigt werden.“876 Die besondere Verbundenheit der Deutschen zu Italien drückte sich in den wohltätigen Hilfssammlungen aus. Neben der besonderen Sympathie für Italien wurde auf den deutschen Nationalstolz rekurriert, um Anteilnahme zu begründen. Nur bei tatkräftiger Unterstützung „wird eine dem Umfange der stattgehabten Zerstörung und der Würde des deutschen Namens entsprechende Beisteuer zu den Unterstützungen gehofft werden dürfen, deren es bedarf“877.

Auf königliche Erlasse vom 16. bzw. 26./27. August hin wurden Sammlungen in ganz Deutschland durchgeführt. Im Regierungsbezirk Düsseldorf kamen auf diese Weise allein 18.000 Mark an Spendengeldern zusammen. Viele Spenden wurden direkt nach Italien oder an die Reichsbank überwiesen, sodass der tatsächliche Betrag sehr viel höher zu veranschlagen sei, erklärte der Regierungspräsident in seinem Bericht. Allein der Kommerzienrat Krupp in Essen hatte den Betroffenen 10.000 Francs durch den Vertreter einer italienischen Firma zukommen lassen. In Krefeld hatte ein italienischer Seidenhändler gleich nach der „Katastrophe“ eine Sammlung angeregt „und eine sehr erhebliche Summe zusammengebracht“878. Größere Mengen waren folglich an offiziellen Kanälen vorbei gespendet worden.

Auch auf außenpolitischer Ebene wurde Deutschland aktiv. Preußen sandte 25.000 Mark aus einem Dispositionsfond nach Italien.879 Der deutsche Kaiser bekundete seine

„herzliche Theilnahme wegen des Unglücks von Ischia dem Könige Humbert“880 telegrafisch. Der italienische König bedankte sich für die tröstenden Worte und erklärte, dass durch jene die Bande der Bewunderung und Freundschaft zum deutschen Kaiser noch enger würden. Der deutsche Kronprinz und die Kronprinzessin richteten eine Gedenkstunde zum Ausdruck der deutschen Anteilnahme aus.881

‚Das Unglück, durch welches Ischia heimgesucht und ganz Italien in tiefe Trauer versetzt worden ist, hat in Deutschland den schmerzlichsten Eindruck gemacht. Es ist meiner Gemahlin und Mir daher ein Bedürfniß, diesem Gefühle Ausdruck zu verleihen, und hegen Wir den innigen Wunsch, daß dies in einer Unserer Betrübnis würdigen Weise geschehe. Deshalb möchten Wir, von Tausenden

876 Neueste Mittheilungen, 2. Jg., Nr. 80, 6. August 1883.

877 Provinzial-Correspondenz, 21. Jg., Nr. 32, 8. August 1883.

878 Koblenz, LHA, Best. 403, Nr. 6923, Blt. 99-101.

879 Berlin, GStAPK, I. HA., Rep. 89, Nr. 13055, Blt. 68-71.

880 Neueste Mittheilungen, 2. Jg., Nr. 82, 13. August 1883.

881 Ebd.

umringt, im Geiste an die Trauerstätte treten‘, erklärte der Kronprinz.

Und weiter: ‚Wir sind gewiß, daß das deutsche Volk dem befreundeten Nachbarn im Unglück wird zur Seite stehen wollen und daß es bereits nach Wegen dahin sucht‘.882

Neben der moralischen Pflicht zur Hilfeleistung als Akt der Menschlichkeit tauchte in den Erläuterungen des Kronprinzen an Reichskanzler Bismarck vor allem das Motiv der nationalen Ehre auf. Er sprach darin von der „Würde“ des deutschen Namens und einer

„nationalen Ehrensache“.883 In den Neuesten Mittheilungen und der Provinzial-Correspondenz wurde diese Motivik weiter ausgeführt. Das Herrscherhaus zeige, wie hoch es die „Pflichten der Freundschaft gerade im Unglück hält“; und die Konsequenz im Imperativ: „[…] möchte Italien die Freundschaft Deutschlands hoch zu schätzen lernen!“884 Das deutsche Volk brauche den Vergleich mit anderen Nationen nicht zu scheuen, wenn es um den „Wohlthätigkeitssinn“ gehe.885 Wie im Potlatsch-System archaischer Gesellschaften die Menge der verteilten Güter über die Größe und Anerkennung des Häuptlings entscheidet,886 so gab es ein internationales Wettrennen darum, welche Nation die größten Gesten der Menschlichkeit im Augenblick der Katastrophe aufbrachte. Das Geben war also kein rein altruistischer Akt, sondern beinhaltete mit dem Ausdruck des Altruismus eine Aufwertung von Prestige und Anerkennung als ehrenvolle Nation. Der Beweis der Freundschaft als Tugend ist in diesem Sinne zu verstehen.

Die Verpflichtung zur Gegengabe, um als gleichwertiger Partner anerkannt zu werden, kommt auch in der negativen Relation heutiger internationaler Katastrophenhilfe zum Ausdruck. Nach Katastrophen fließen Spenden aus den entwickelten Ländern in die Entwicklungsländer („unreciprocated gifts“ in Sahlins Terminologie887). Durch diesen Mangel an Gegenseitigkeit manifestiere sich „the symbolic domination of the West towards the ‚developing‘ world“.888 Die Geldflüsse repräsentieren vor diesem Hintergrund soziale Hierarchien und können zur Dominierung des Betroffenen instrumentalisiert werden.889 Zwischen gleichwertigen Partnern, wie den Ländern Europas, wurde die Gegengabe damit zur Pflicht, um im internationalen Beziehungsgeflecht Status und Ansehen zu bewahren.

882 Provinzial-Correspondenz, 21. Jg., Nr. 33, 15. August 1883.

883 Ebd.

884 Neueste Mittheilungen, 2. Jg., Nr. 82, 13. August 1883.

885 Provinzial-Correspondenz, 21. Jg., Nr. 32, 8. August 1883.

886 Mauss: Gabe, S. 84 ff. „Der [Häuptling] der seinen Reichtum am verschwenderischsten aus-gibt, gewinnt an Prestige. Alles gründet auf dem Prinzip des Antagonismus und der Rivali-tät“ (S. 85).

887 Korf: Antinomies, S. 361.

888 Ebd., S. 368.

889 Ebd.