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1   Einleitung: Eine Katastrophengeschichte schreiben

1.2   Untersuchungsperspektive

1.2.3   Fragestellung und Konzeption

Ziel dieser Arbeit ist eine Erweiterung der Geschichte des Deutschen Kaiserreiches um den Faktor Naturkatastrophen. Konkret werden Fragen nach Katastrophenvorsorge, -erklärung und –auswirkung betrachtet. Gemäß der Konzeptualisierung von Naturkatastrophen als Ereignisse im obigen Sinne betrachte ich das Ereignis sowie das Vorher und Nachher. Die Gliederung der Arbeit in drei Teile entspricht tendenziell diesen Schwerpunkten. Zunächst untersuche ich den Bergsturz von Kaub (1876) unter besonderer Berücksichtigung der Frage nach dem Umgang mit Gefahr und Risiko (vor der Katastrophe). Bei der Missernte und Hungerkrise in der Eifel (1883) tritt der Ereignischarakter als Wendepunkt dagegen in den Vordergrund.81 Im abschließenden Teil wird anhand des Rheinhochwassers von 1882/83 die zeitgenössische Verarbeitung

75 Bankoff: Cultures.

76 Allemeyer: Lebenswelten.

77 Mauelshagen: Flood, S. 133.

78 De Boer & Sanders: Volcanoes. Vgl. auch Poliwoda, G. (2007), 56.

79 Dikau & Weichselgartner: Planet.

80 Winchester: Krakatao, Kap. 9.

81 Missernte und Hungersnot unter dem Begriff Naturkatastrophe zu subsumieren mag intuitiv merkwürdig anmuten. Gemäß meiner Auffassung von Naturkatastrophe kann jedoch davon gesprochen werden, insofern man (wochenlange) extreme Niederschläge als Naturereignis anerkennt. Die Verbindung von Hungerkrisen und Niederschlägen ist in der Literatur recht deutlich belegt: „Most oft he worst famines on record have been linked to either too much or too little rain“ (O’Grada: Famine, S. 14). In einschlägigen Sammelbänden zu Naturgefahren und Naturkatastrophen finden sich davon abgesehen auch immer wieder Fälle von Hunger-krisen. Siehe z. B. Schenk: Katastrophen. Hewitt: Calamities.

der Katastrophe durch Wissenschaft, Politik und Solidarität fokussiert. Insgesamt ergibt sich auf diese Weise ein Einblick in den Charakter der Naturkatastrophe inklusive ihrer gesellschaftlichen Implikate. Strukturveränderungen spielen sich überregional auf kleineren Ebenen ab: z. B. innerhalb von politischen Strukturen und wissenschaftlichen Institutionen. Lokale Strukturen verändern sich dagegen mitunter erheblich (wie in der Eifel).

Eine Einordnung der Ergebnisse findet in dreifacher Hinsicht statt.82 Einmal in Bezug auf die soziokulturellen Charakteristika der Zeit: Welche Rolle spielten beispielsweise der aufstrebende Nationalismus, die lose Reichsidentität oder der Kulturkampf in der Auseinandersetzung mit Naturkatastrophen?; zum anderen in Berücksichtigung soziologischer, ökonomischer und anthropologischer Theorien zu Kernthemen wie Risiko (Luhmann, Douglas), Solidarität und Moral (Sahlins, Mauss, Douglas) sowie Politik und Wissenschaft (Weingart). Besonders in den anthropologischen Ideen klingen universale Momente an, die im Spannungsverhältnis zu den zeitspezifischen Erkenntnissen stehen. In Kombination der beiden Referenzpunkte suche ich einen goldenen Mittelweg zwischen den geschichtsphilosophischen Extrempunkten des

„immer schon Da-gewesenen“ und des „immer wieder Neuen“.

Den dritten wichtigen Referenzpunkt bildet die historische Naturkatastrophenforschung.

Für die konkreten Fallbeispiele finden sich punktuelle Vorarbeiten lediglich zum Rheinhochwasser von 1882/83. Christof Bernhardt hat es in Bezug auf die Umweltgeschichte des Oberrheins betrachtet und dabei einige interessante Erkenntnisse gewonnen.83 Bei Jürgen Weichselgartner fanden die Überschwemmungen als Fallbeispiel zur Erläuterung gesellschaftlicher Faktoren von Naturgefahren Eingang.

Wenn auch sein Artikel insgesamt von ausgezeichneter Qualität ist, so sind die Interpretationen zu dem speziellen Rheinhochwasser nicht immer gut fundiert.84 Aktuell hat Uwe Lübken von seinen eigenen Arbeiten zu Überschwemmungen am Ohio ausgehend einen Vergleich mit dem Doppelhochwasser am Rhein veröffentlicht.85 Darin macht er auf die besonderen deutsch-amerikanischen Beziehungen aufmerksam.

Umfangreichere Studien zu Naturkatastrophen im Deutschen Kaiserreich bzw. in Preußen Ende des 19. Jahrhunderts fehlen bislang völlig. Dafür wurden Naturkatastrophen in der Schweiz im 19. Jahrhundert durch die Gruppe um Christian

82 Als vierter Referenzpunkt wäre die Einordnung in einen wissenschaftshistorischen Zusam-menhang wünschenswert. Dies bedürfte allerdings einer eigenen umfassenden Studie.

83 Bernhardt: Begradigung. Bernhardt: Kontroversen. In Bernhardts noch zu veröffentlichender Habilitationsschrift ist dem Hochwasser von 1882/83 ein Kapitel gewidmet.

84 Weichselgartner: Hochwasser. Dass Schäden an fiskalischen Gütern höher waren als an pri-vatem Eigentum ist zweifelhaft (siehe S. 123). Die gewährten Staatsbeihilfen für Gemeinden machen jedenfalls nur einen Bruchteil der Beihilfen für einzelne Geschädigte aus (Preußi-sches Abgeordnetenhaus, 1883, Drucksache Nr. 120, S. 1666).

85 Lübken: Hazards. Lübkens Habilitationsschrift zu Hochwasser am Ohio wird in Bälde publi-ziert.

Pfister bereits in vielen Facetten untersucht. Pfister hat herausgearbeitet, wie Katastrophenereignisse im 19. Jahrhundert zum Aufbau der Schweizer Nation beigetragen haben.86 Im Einzelnen waren es Bergstürze (1806, 1881), schwere Hochwasser (1834, 1839, 1868) und ein großer Brand (1861), die für den nationalen Integrationsprozess instrumentalisiert wurden. Summermatter beschreibt zum Beispiel wie nach dem Hochwasser von 1868 ein „emotionaler Appell an die Bruderliebe der Eidgenossen […]“ durch den Bundesrat erfolgte, der „die Solidarität der Schweizer Bürger in den größeren Zusammenhang einer nationalen Identität“ stellte.87 Auch Schmid kommt zu dem Ergebnis, dass besagtes Hochwasser „im Prozess der inneren Nationalstaatsbildung […] eine wichtige Verstärkungs- und Bestätigungswirkung“

hatte.88 Der Goldauer Bergsturz von 1806 war eine der größten Naturkatastrophen auf dem Territorium der heutigen Schweiz. Ganze Dörfer im Kanton Schwyz wurden von einer Schuttlawine verschüttet. Die anschließenden Bewältigungsmaßnahmen konnten nicht vom Kanton Schwyz allein getragen werden. Deshalb leisteten alle Kantone einen Beitrag in Form von Mannschaftshilfe oder Spenden. Im Umgang mit dem Goldauer Bergsturz sieht Fässler die Geburtsstunde eidgenössischer Solidarität. Es gäbe in der Schweizer Geschichte zuvor keinen Fall, in dem sich alle Kantone helfend engagiert hätten.89 Pfister zeichnet die Entwicklung eines Katastrophenauffangnetzes anhand von einschneidenden Naturkatastrophen im 19. Jahrhundert überzeugend nach. Er konstatiert, „von Katastrophe zu Katastrophe gelang es einen immer größeren Prozentsatz der Bevölkerung für Hilfsaktionen zu gewinnen“.90 Bereits beim Bergsturz von Elm (1881) hatte sich dann ein dreistufiges Subsidiaritätssystem etabliert, das seine Bewährungsprobe bestand. Einen Grund für das Aufkommen eines Wir-Bewusstseins angesichts der Katastrophe wird in einem gemeinsamen Gesprächsthema gesehen, das es möglich macht kulturelle, soziale und regionale Grenzen zu überwinden.91 Inwieweit Naturkatastrophen tatsächlich im Verhältnis zu anderen Vektoren zur Verbreitung des Nationalbewusstseins beigetragen haben, darüber lässt sich streiten. Dass sie es aber taten, steht im Schweizer Kontext fest. Auch zu anderen Aspekten, wie zum Zusammenhang von Entwaldung und Überschwemmungen, wurde durch die Gruppe um Christian Pfister bahnbrechende Forschung geleistet.92

Grundsätzlich sind Naturkatastrophen schon deshalb politische Ereignisse, weil sie eine Gefahr für die politische Ordnung und eine Chance für politische Akteure darstellen.

Erfolgreicher Umgang mit Katastrophen kann ein Regime erstarken lassen; andererseits bietet die Katastrophe Potential für Aufstände und Putschversuche. Neben bewusster

86 Pfister: Naturkatastrophen und Naturgefahren.

87 Summermatter: Katastrophe, S. 212.

88 Schmid: Bewältigung, S. 97.

89 Fässler: Geburt, S. 67.

90 Pfister: Naturkatastrophen, S. 296.

91 Ebd., 291.

92 Pfister & Bürgli: Rodungen. Müller: Element.

Instrumentalisierung einer Katastrophe kann es auch im Interesse der Mächtigen liegen eine Katastrophe zu verschleiern. Politisch interessant ist aus historischer Perspektive außerdem, welche Rolle der Staat als Akteur in der Geschichte gespielt hat. Es scheint einen Trend zu geben, der vom rettenden Helfer zum voraus denkenden Beschützer verläuft. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wird das Katastrophenmanagement dann auch ein Anliegen internationaler Organisationen. Eine wichtige politische Facette von Naturkatastrophen betrifft die Impulse, die institutionellen Wandel auslösen. In Reaktion auf Katastrophen formieren sich gesellschaftliche Institutionen häufig um, werden reformiert oder durch gänzlich neue ersetzt. Es werden Korporationen und Hilfsorganisationen gebildet.

Die häufig gestellte Frage nach der „Wahrnehmung“ von Naturkatastrophen93, vernachlässigt die institutionellen Strukturen und lässt politische Diskurse unbeachtet.

Entsprechend wie eine Naturkatastrophe wahrgenommen wird, wird man auch auf sie reagieren, so die Idee. Dabei gehen die Interessen der Akteure in einer scheinbar unvoreingenommenen Wahrnehmung verloren. Darüber hinaus unterliegt die Darstellung von Naturereignissen in der Öffentlichkeit ganz bestimmten Mustern, die über Glaubwürdigkeit und Publikumswert entscheiden.94

Die Intention dieser Arbeit schließt letztendlich auch an Jürgen Weichselgartners Feststellung an, dass eine historische Analyse einen Beitrag zur besseren Naturkatastrophenvorsorge leisten kann. Sie gibt nämlich Aufschlüsse „über die durch Umweltveränderungen ausgelösten Prozessveränderungen in sozialen Systemen“95. Eine ahistorische Betrachtung würde wichtige Problemlösungskompetenzen in Bezug auf

„Kontextualität und Kontingenz“ ungenutzt lassen.96

93 z. B. Groh, Kempe & Mauelshagen: Naturkatastrophen.

94 Diese wurden von Matthias Georgi in einer intensiven Studie zur englischen Öffentlichkeit Mitte des 18. Jahrhunderts gut herausgearbeitet. Georgi: Heuschrecken.

95 Weichselgartner: Verwundbarkeit, S. 22.

96 Ebd., S. 23.

2 Risikokultur

97

: Der Bergsturz in Kaub (1876)

Der Bergsturz98 bei Kaub am Rhein am 10. März 1876 war eine folgenschwere Katastrophe, die bis heute am Mittelrhein nicht in Vergessenheit geraten ist.99 Schon seinerzeit erlangte der Bergsturz, gewissermaßen als kleiner Bruder des Unglücks von Elm, traurige Berühmtheit.100 Kaiser und Kaiserin besuchten persönlich die Unglücksstätte, sprachen mit Geretteten und hinterließen Spenden.101 Das Aufsehen, das dieses Ereignis erregte, lag vielleicht nicht zuletzt auch an dem nationalen Nimbus, den das kleine Städtchen umgab, seit Feldmarschall Blücher im Winter 1813/14 hier über den Rhein gegangen war. Dabei hatten die Lotsen und Nächler aus Kaub geholfen, indem sie die Vorhut von Blüchers Armee über den Strom gesetzt hatten. So konnte das gegenüberliegende Ufer gesichert und der Bau einer Brücke vollzogen werden.102 In jenem März 1876 führte der Rhein Hochwasser, sodass den rund 2.000 Bewohnern, die gewissermaßen zwischen Fluss und Berg festsaßen, von beiden Seiten Gefahr drohte. Viele Schiffer und Steuerleute waren wegen Eisbildung oder hohem Wasserstand während des Winters monatelang ohne Verdienst gewesen. Nachdem das Unglück geschehen war, erschwerte das Hochwasser die Rettungsarbeiten. Als dann einen Tag darauf ein schwerer Sturm aufkam, konnte man verstehen, warum manch einer der Zeitgenossen von einem „allgemeinen Aufruhr der Elemente“103 sprach.

Schaulustige und Anteil Nehmende besuchten den Unglücksort in der Folgezeit in großer Zahl. Für die beteiligten Politiker handelte es sich um eine „Katastrophe“104. Auch die Frage nach der Verantwortung für diese Katastrophe und ob sie nicht hätte verhindert werden können, lag nahe, weil man doch seit Monaten wusste, welche Gefahr über der Stadt schwebte. Bevor erklärt wird, wie und warum es dazu kam, werden zunächst die Geschehnisse der „Schreckensnacht“ vom 10. auf den 11. März und der folgenden Rettungsaktion geschildert.

97 Mit Risikokultur meine ich einen größeren historischen Zusammenhang, der den Umgang mit Risiko leitet. Ich differenziere hier zwischen vormoderner, moderner und postmoderner Ri-sikokultur.

98 Die Begriffe „Bergsturz“ und „Bergrutsch“ werden im Folgenden in Anlehnung an die Verwendung in den Quellen gebraucht. Bergrutsch bezeichnete hier die allmähliche Bewegung eines Berghanges, ein Bergsturz das rasche Abstürzen von Gesteins- und Erdmassen. Nach aktueller Definition wird in der Ingenieursgeologie erst ab einer Massenbewegung von über 1.000.000 m³ von einem Bergsturz gesprochen (Hauer: Bergstürze, S. 262).

99 Landesamt für Denkmalpflege Rheinland-Pfalz (Hrsg.): Rheintal, S. 153.

100 Der Brockhaus: 14. Auflage 1893.

101 Wiesbaden, HStA, Abt. 405, Nr. 4329, Landrat Fonk, Blt.39.

102 Zum Beispiel Kimpel: Kaub; Kruse: Bergsturz, S. 252.

103 Koblenz, LHA, Abt. 716, Nr. 175, Reitzenhain, darin 1876.

104 Landtagsverhandlungen im Angeordnetenhaus, 27. Sitzung am 15. März 1876, Abgeordneter Petri.

Abbildung 3: Gebietskarte von Kaub

2.1 Schreckensnacht und Rettungsversuche

Es war in der Nacht vom 10. auf den 11. März, als um etwa 11.30 Uhr in der Rheinstraße ein „donnerähnliches Getöse, das mit einem ungemein scharfen und hellen Rascheln, dem Geräusche eines gewaltigen Schloßengerassels nicht ganz unähnlich, beginnend, in einem Krachen und Knattern endete, wie wir es den einschlagenden Blitz begleitend zu vernehmen pflegen“105, zu hören war. Dr. Kruse lief hinaus aus dem Gasthaus „Zum Grünen Wald“ mit dem Ruf „Heraus, der Bergsturz kommt“106.

Die Bewohner der Nachbarhäuser flohen in ihren Nachtgewändern auf die Straße. Dort schlug ihnen eine dicke Staubwolke entgegen.107 In größerer Entfernung war der Lärm nicht gehört worden, und man sah nur, wie sich die Staubwolke über den Rhein und die Pfalz wälzte.108 Deshalb dachte man zunächst wohl an einen Brand, als die

105 Kruse: Bergsturz, S. 252. Dr. Kruse, der Verfasser des Artikels für die Gartenlaube, war Augenzeuge der Geschehnisse. Der Artikel erschien etwa einen Monat nach dem Ereignis.

106 Ebd.

107 Ebd.

108 Anthes: Bericht, S. 293.

Sturmglocken läuteten.109 Noch ungewiss darüber, was eigentlich geschehen war, sammelten sich die Einwohner der Stadt an der Unglücksstätte.

Im Distrikt Karlsgrube hatte sich auf einer Breite von etwa 60 Metern das Geröll des Berghangs gelöst und sechs Häuser in der Hochstraße und drei Hinterhäuser in der Rheinstraße überrollt. Auch die 12 Meter lange und am Fundament 30 Fuß starke Schutzmauer wurde von den Gesteinsmassen mitgerissen. „Die haushohe Schuttmasse, welche Alles bedeckte, ließ kaum ahnen, daß hier Häuser gestanden, wenn nicht die vereinzelt hervorragenden Trümmer solches verrathen hätten.“110

Aus den Trümmerhaufen am Unglücksort drangen schwache Hilferufe, und so wurden unter Leitung des Bürgermeisters unverzüglich Rettungsarbeiten unternommen. Noch in der Nacht rückte die Feuerwehr aus den benachbarten Orten Lorch und St. Goarshausen an.111 Es gelang trotz der drohenden Gefahr eines weiteren Bergrutsches, drei der Verschütteten lebend zu bergen. Sie, die im dritten Stockwerk wohnten, waren mit dem Stockwerk über die Straße geschoben worden und unter den Trümmern fast erstickt.

Eine der Geretteten litt an schweren Quetschungen und starb in der Folge. Insgesamt wurden weitere 25 Personen, 20 davon Frauen und Kinder, verschüttet.

Tabelle 1: Opfer und Gerettete

Anzahl der Opfer Anzahl der Geretteten

Kinder 13 2

Frauen 8 7

Männer 5 4

Gesamt 26 12

Zu den Verunglückten gehörten der Bergmann Gehrer mit Frau und Sohn, der Fuhrmann Dillenburger mit Frau und vier Kindern, der Metzger Adam Pfaff mit Frau und vier Kindern, der Fuhrmann Friedrich Hehner mit Frau und vier Kindern, der Kaufmann Adam Siebert und dessen Frau sowie die Witwe Johanna Sophie Rörsch und die Dienstmagd Elisabeth Trieb.112 Frau Gehrer und Sohn wurden augenscheinlich bei

109 Kruse: Bergsturz, S. 252; Rheinischer Kurier vom 12.3.1876.

110 Kruse: Bergsturz, S. 253.

111 Laut dem Rheinischen Kurier traf die Feuerwehr aus St. Goarshausen erst am 11. März um 12 Uhr ein (siehe Ausgabe vom 12.3.1876)

112 Anthes: Bericht: S. 294.

dem Versuch, aus dem Fenster zu flüchten, verschüttet. Man fand sie über die Fensterbrüstung gebeugt.113

Dr. Kruse beschreibt die Schreckensnacht in der Gartenlaube so:

Von dunkler Nacht umhüllt, auf der vordern Seite eingeengt von dem wilden Strome, der die Rheinstraße überfluthet, auf der andern Seite die jeden Moment neues, größeres Unglück drohenden Berghänge, vor sich den Trümmerhaufen, unter dem viele Menschen begraben und aus dem schwache Hülferufe hervordrangen, konnten wir uns kaum in einer grauenhafteren Situation befinden.114

Gleichwohl hatten sich einige Anwohner rechtzeitig retten können. Die Frau des Heinrich Pfaff, die die drohende Gefahr ernst nahm und durch ein Knistern in ihrer in den Fels gebauten Scheune darauf aufmerksam geworden war, warnte die Bewohner des Hinterhauses „Zum Adler“. So konnten sich hier das junge Ehepaar Pfaff sowie Frau Heftrich mit zwei Kindern in Sicherheit bringen. Ihr Sohn hatte den schlafenden Vater aus dem Haus getragen. 115 Die Anwohner der angrenzenden Häuser versuchten angesichts der Bedrohung durch den Berg, ihre eigenen Wertsachen in Sicherheit zu bringen.

In den nächsten Tagen kamen viele Menschen von auswärts nach Kaub, um Zeuge der Katastrophe zu werden. „[…] aus benachbarten, wie entfernten Orten strömten Schaaren von Fremden herbei; jeder Zug führte Hunderte nach der unglücklichen Stadt.“116 Die Berghänge, die früher mit Reben bestanden waren, bildeten nun ein verwüstetes Terrain, und der Anblick der Unglücksstätte wird in der Gartenlaube als traurig und grauenerregend charakterisiert.117

Um militärische Hilfe aus Koblenz und Mainz zu erbitten, musste eine Staffette über den brausenden Strom nach Bacharach gesandt werden. Der telegrafische Dienst in Kaub war nachts nämlich eingestellt. Morgens gegen 8.30 Uhr118 traf das Pionierbatallion Nr. 8 aus Koblenz mit 45 Mann ein und gegen Abend ein weiteres Batallion aus Mainz-Castel. Mit dem ersten Schnellzug kamen auch der hessische Regierungspräsident Wurmb zusammen mit dem Regierungsbaurath Cuno sowie dem

113 Kruse: Bergsturz, S. 253. In einem Erinnerungsartikel 50 Jahre nach dem Unglück wird der Fund der beiden Toten so interpretiert: „Die Frau Gehrer war beim Herausschauen aus dem Fenster überrascht worden […]“ (Cauber Nachrichten: Bergrutsch, S. 302).

114 Ebd.

115 Cauber Nachrichten: Bergrutsch, S. 302

116 Kruse: Bergsturz, S. 252. Vgl. auch Schulchronik Reizenhain; hier spricht der Autor von

„tausenden von Fremden“, die „theils aus Mitgefühl, theils von bloßer Schaulust getrieben“

nach Kaub strömten (Koblenz, LHA, Abt. 716, Nr. 175, Reitzenhain, darin 1876).

117 Kruse: Bergsturz, S. 252.

118 Laut Rheinischem Kurier vom 12.3.1876 um 8 Uhr.

Bergrat Giebeler aus Wiesbaden, Landrat Fonk und dem „Kreisphysikus“ aus Rüdesheim nach Kaub.119

Die Regierungsbeamten verschafften sich einen ersten Überblick über die Lage.

Einzelne Dachsparren und Balken, die aus dem Geröll hervorragten, markierten die Stellen, an denen die Gebäude mit Menschen und Vieh verschüttet lagen. Die eingetroffenen Beamten organisierten zusammen mit dem Bürgermeister Herberich von Kaub und dem Bataillionskommandanten die Rettungsarbeiten. Aufgrund der schwierigen Bedingungen konnten Pferdefuhrwerke kaum zum Einsatz kommen.

Handkarren, Schaufeln und Ähnliches wurden vom Regierungspräsidenten angefordert und trafen mit einem Extrazug ein. Pioniere und Feuerwehr versuchten, die Vermissten auszugraben.120

Abbildung 4: Rettungsarbeiten in Kaub121

Noch am Morgen wollte man deutliche Hilferufe gehört haben.122 Der evangelische Pfarrer des Ortes meinte dagegen, es müsse sich um das Brüllen des verschütteten Viehs gehandelt haben. Jegliches Hineinrufen nach den Namen der Verschütteten blieb ohne Antwort.123 Schon in der Nacht hatte es keine Antwort gegeben, als die Stimmen der

119 Kruse: Bergsturz, S. 253. Die Namen der Regierungsbeamten werden im Artikel der Garten-laube durch Initialen angedeutet und bleiben so mehr oder minder anonym. Vgl. Rheinischer Kurier (12.3.1876), dort sind die Namen ausgeschrieben.

120 Rheinischer Kurier vom 12.3.1876.

121 Zeichnung unbekannter Herkunft.

122 Kruse: Bergsturz, S. 253.

123 Anthes: Bericht, S. 294.

Männer in die Öffnungen des Trümmerhaufens hineingerufen hatten: „Siebert, lebst du noch? – Pfaff, lebst du noch? – Hehner, Dillenburger, lebt ihr noch?“124

Weil die Rheinstraße überschwemmt war, mussten die Pioniere zunächst eine hölzerne Brücke errichten, bevor die eigentlichen Arbeiten in Angriff genommen werden konnten. Nachdem am Samstag die Arbeiten aufgrund drohender Gefahr kurzfristig eingestellt worden waren, wurden sie am Sonntag unter Leitung der kommandieren Offiziere wieder aufgenommen. Bis zum Sonntagnachmittag waren erst sechs Leichen ausgegraben. „[…] die Wegräumungs- und Rettungsversuche stießen auf unendliche Schwierigkeiten“, hieß es in einer Schulchronik.

Jeder Balken, jeder Stein bildete eine Stütze für eine darauf ruhende Masse, welche durch Anregung in weitere Schiebung kam und stets die arbeitende Mannschaft zu schädigen oder gar zu bedecken drohte.

Ja, es war sogar zu fürchten, daß die eigentliche Hauptmasse der Bergwand, von der kaum 1/10 abgerutscht war, nachkommen und dann die noch verschonten Häuser in der Rheinstraße, diese Straße selbst und sogar den Eisenbahndamm bedecken werde.125

Bis die letzte Leiche eines neunjährigen Mädchens am 23. März gefunden wurde, waren fast zwei Wochen vergangen.126 Der Zustand der Leichen war von allgemeinem Interesse sowohl in den Medien als auch in der Verwaltung. Während der Rheinische Kurier die „schauderhaft verstümmelten“ Leichen auch im Detail beschrieb, wurde in der Gartenlaube erwähnt, dass eine Frau noch mehrere Stunden gelebt habe und „somit einen schrecklichen, qualvollen Tod gefunden hat“127. Abgesehen von dieser einen hätten alle einen schnellen Tod infolge gefährlicher Quetschungen und Brüche erlitten.128 Der evangelische Pfarrer Eugen Anthes resumiert, dass keiner der Toten nach dem Sturz noch mehr als einige Minuten gelebt habe. Die meisten seien an

„Schädelbrüchen“ gestorben oder „platt gedrückt“129 worden.

Neben 26 Menschenleben fielen dem Unglück vier Pferde, fünf Kühe, ein Rind und zwölf Ziegen zum Opfer.130 Merkwürdigerweise konnten mehrere Tiere einige Tage

124 Cauber Nachrichten Bergrutsch, S. 302.

125 Koblenz, LHA, Abt. 716, Nr. 175, Reizenhain, darin 1876. Der Schreiber der Chronik scheint den Artikel von Kruse in der Gartenlaube gekannt zu haben und referiert diesen in weiten Teilen.

126 Kruse: Bergsturz, S. 253. Interessanterweise ist der evangelische Pfarrer davon überzeugt, dass die Leiche erst am 24. März gefunden wurde; ein Pionier, der selbst die Leiche mit aus-gegraben hat, schreibt 50 Jahre später, es sei am 22. März, an des Kaisers Geburtstag, um 14 Uhr, gewesen (Schäfer: Brief, S. 301). Die amtliche Version bestätigt den in der Gartenlaube angegebenen 23. März allerdings zweifelsfrei.

127 Kruse: Bergsturz, S. 253; Rheinischer Kurier 12.3.1876.

128 Kruse: Bergsturz, S. 253.

129 Anthes: Bericht, S. 294.

130 Heller: Bericht, S. 300. Die Angabe von 26 Toten ist nur dadurch zu erklären, dass eine der

130 Heller: Bericht, S. 300. Die Angabe von 26 Toten ist nur dadurch zu erklären, dass eine der