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4 Kooperative Reaktionsmöglichkeiten für TWRM- TWRM-TOPOGRAPHIC: Ein Entwurf

Im letzte Abschnitt dieses Beitrags illustrieren wir die Möglichkeiten, die eine konversationale Interpretation visuell-deiktischer Interaktion für das Design von Benutzerschnittstellen bietet. Am Beispiel eines möglichen kooperativen Reaktionsrepertoirs, das wir für TWRM-TOPOGRAPHIC vorschlagen, wird gezeigt, wie die vorwiegend im Bereich natürlichsprachlicher Schnittstellen entwickelten Methoden der Benutzermodellierung auf den graphisch-interaktiven Anwendungsfall übertragen und um spezifische Komponenten erweitert werden können, die das für expiorative Interfaces wichtige Navigationsverhalten von Benutzern erfassen.

4.1 Benutzermodellierung als Basis kooperativer Dialoge

Die Benutzermodellierung soll den Entwurf komplexer Dialogakte des Systems ermöglichen, die dialogimmanente Ziele des Benutzers antizipieren und so den Navigationsaufwand re-duzieren. Bei der Modellbildung werden unterschiedliche Aspekte des Benutzerverhaltens berücksichtigt und mit dem Blick auf die Spezifikation kooperativer Systemreaktionen integriert.

Interessenprofil. Für den Benutzer potentiell relevante Themen werden in einem "User Profile" repräsentiert, das die im Dialog als interessant selektierten Konzepte enthält. Formal gesehen ist das Interessenprofil eine Konzeptmenge, deren Elemente die Bedingung erfüllen,

18 Diese Formel wird als Integritätsbedingung dem goalstot des Rahmens zugeordnet.

19 Dieses Listenobjekt visualisiert die relevanten Passagenbeschreibungen, vgl. Abb. 2.

daß sie für den Benutzer relevante Textinformation charakterisieren. Die taxonomische Analyse dieser Interessenbeschreibungen liefert Hinweise auf den "Differenzierungsgracf der Anfrage, der als durchschnittliche Anzahl der (modellierten) Merkmale aller in der Anfrage auftretenden Konzepte definiert werden kann. Besteht die Query aus einem oder mehreren Konzeptclustern, so ist ihr "Strukturierungsgracf hoch (den Gegensatz dazu bildet ein Suchprofil aus inhaltlich kaum zusammenhängenden Suchbegriffen).

Taktiken. Darüber hinaus werden Ansätze aus dem Bereich Software-Ergonomie (hier ins-besondere Verfahren zur Bewertung der "Systemkenntnis" bzw. der Vertrautheit mit einzelnen Operationen, vgl. Möller/Rosenow 1987) aufgegriffen. Diese Modellierung erfaßt die Differen-zierung der traditionellen Benutzerklassen (Novize, Gelegenheitsbenutzer, Experte, vgl. Dehning et al. 1981, Brajnik et al. 1987). Kriterien zur Einschätzung der Systemkenntnis ergeben sich aus einer Modellierung von "search tactics" (vgl. Bates 1979), die der Benutzer im Dialogverlauf verwendet. Im Rahmen des graphischen Retrieval beziehen wir den Begriff der Taktik auf kurze Aktionsfolgen, die operationalen Zielen dienen und durch den eingesetzten Navigationsoperator charakterisiert sind. Die generelle Klassifikation des Grades der Vertrautheit, aber auch einzelne eingesetzte Taktiken, gehen in die Bewertung der Eignung komplexerer Dialogakte (wie z.B.

Überbeantwortung) ein.20

Strategien. Eine weitere Dimension der Benutzermodellierung beruht auf den Ergebnis-sen der empirischen Benutzerforschung (Canter et al. 1985) und wird zur Beschreibung des

"Navigationsverhaltens" eingesetzt. Dazu wird die Suchstrategie21 nach topologischen Gesicht-spunkten (bzgl. des Suchraums) klassifiziert, so z.B. nach dem Auftreten von Zyklen. Bei der manipulativen Navigation im Raum der informationeilen Objekte können zwei prinzipielle Be-wegungsrichtungen unterschieden werden, wobei spezielle Mischformen in charakteristischer Weise auftreten:

1. Navigation innerhalb eines Informationsniveaus (Browsing-Sequenz)

Der Benutzer kann durch Browse-Operationen die ihm auf einem gegebenen Abstraktions-niveau zugänglichen Objekte erforschen. Eine Differenzierung ergibt sich nach Bates 1986 aus der Zielgerichtetheit der Aktionen. In unserem Rahmen läßt sich dies wie folgt operationalisieren: Wird bei den Browse-Operationen stets die gleiche Relation (z.B. is-a) gewählt und die Richtung beibehalten,22 so ist das Browsing gerichtet, im anderen Falle ungerichtet.

2. Bewegung entlang den Stufen des kaskadierten Abstracting (Zooming-Sequenz) Ein Wechsel des Abstraktionsniveaus ohne dazwischengeschaltete Selektionen, die eine Fokussierung bzw. Verlagerung des Interesses kennzeichnen, dient der Auswahl der geeigneten Darstellung einer bereits gefundenen Information.

3. Komplexe Navigationsstrategien

Durch die Kombination der Wirkungen verschiedener Operationen können komplexe Strate-gien realisiert werden. Als ein Beispiel betrachten wir an dieser Stelle das retrieval by reformulation: Nach Bearbeitung der Suchanfrage stellt die Textwissensverwaltung eine Liste der relevanten Textpassagen zur Verfügung. Der Benutzer wird dann (evtl. nach einer Scrolloperation) einen Listeneintrag durch zooming in eine graphische Themenskizze ex-pandieren, deren thematische Struktur er zunächst betrachten kann. Er kann nun, statt in der Zooming-Sequenz das nächste Informationsniveau aufzusuchen, seine Anfrage mit Hilfe von Textinformationen verfeinern, indem er die präsentierte Themenbeschreibung als neue Query selektiert. Auch eine Modifikation des Graphen durch Freigeben, Austauschen oder Hinzunehmen von Konzepten ist erlaubt.

20 In der Formalisierung betrachten wir Taktiken als klassendefinierende Instanzen von Aktionsframes mit nicht gefülltem Argument-Slot Dadurch wird die Modalität der Aktion erfaßt, während vom manipulierten Objekt abstrahiert wird.

21 Die Strategie manifestiert sich anhand beobachtbarer Handlungsmuster, die sich in der direkten Navigation ausprägen.

22 Eine neue Browse-Aktion setzt dabei auf einem Objekt, das durch die unmittelbar vorhergehende Aktion erreicht wurde, die Sequenz fort.

Eine framebasierte Formulierung der empirischen Benutzerklassifikation. Anhand der skizzierten Kriterien lassen sich zunächst stereotypische Benutzerklassen formalisieren, die als spezielle Frames repräsentiert werden können. Wir beginnen mit den Fideischen Benutzertypen (Fidel 1984), die aufgrund einer ausgefeilten, allerdings quantitativ beschränkten Fallstudie als differenzierte Hypothesen über stereotypische Verhaltensweisen bei der Informationssuche postuliert wurden. Danach lassen sich zwei Prototypen von professionellen Rechercheuren ausmachen:

1. "Operationalisten", die unter virtuoser Ausschöpfung aller Möglichkeiten der Systemfunk-tionalität eine optimale Strategie anstreben, so daß die nachgewiesenen Dokumente eine hohe Relevanz aufweisen. Dieser Typ kann wie folgt modelliert werden:

Operationalist

Profil:< Konzeptmenge >

Differenzierungsgrad: < bel.>

Strukturierungsgrad: niedrig

Systemkenntnis: <(fast) alle Taktiken>

Navigationsverhalten: <komplexe Strategie>

2. "Konzeptualisten", die zunächst die Anfrage in Facetten strukturieren, dann die interes-santeste Facette eingeben und anschließend unter Verwendung der anderen Facetten den Recall verbessern.

Konzeptualist

Profil: < Konzeptmenge >

Differenzierungsgrad: < bel.>

Strukturierungsgrad: hoch Systemkenntnis: <einige Taktiken>

Navigationsverhalten: cyclic_query_extension

Zusätzliche im Rahmen der Dialogführung erforderliche Unterscheidungen zwischen Be-nutzertypen können unter Ausnutzung der inhärenten Vererbungsmechanismen des Formalis-mus leicht eingebracht werden, z.B. der Typ des "Analogisten" (vgl. Pejtersen 1986), der die komplexe Strategie des "retrieval by reformulation" verfolgt und dabei nach Art des "Konzep-tualisten" immer weiter verfeinerte Queries erstellt. Als Ausgangspunkt nimmt er dabei aber nicht die im Weltwissen erstellte Ursprungsquery, sondern eine ihm interessant erscheinende Themenbeschreibung, die er dann modifiziert. Dies setzt eine relativ hohe Systemkenntnis vo-raus, so daß man hier von einem nicht in das oben entwickelte Schema passenden Verhalten ausgehen muß:

Analogist

Profil: < Konzeptmenge >

Differenzierungsgrad: < bel.>

Strukturierungsgrad: <bel.>

Systemkenntnis: <einige Taktiken, darunter das Selektieren eines Themenbeschreibungsgraphen>

Navigationsverhalten: retrieval_by_reformulation

Mit Hilfe der hier vorgestellten (und ähnlich konzipierten) Stereotypen ist es möglich, allein aus dem Dialogverhalten des Benutzers Kriterien abzuleiten, die eine kooperative Systemantwort ermöglichen.23 Dabei könnte das System z.B. auf die im folgenden Abschnitt vorgeschlagenen komplexen Dialogakte zurückgreifen.

4.2 Komplexe Dialogakte des Systems

Die konversationale Perspektive auf den "Retrievaldialog" ermöglicht nicht nur eine sprechakttheoretische Rekonstruktion der graphisch-interaktiven Dialogsegmente — diese kann

23 Die Beschränkung auf das Dialogverhalten als Informationsquelle leitet sich aus dem medialen Charakter des Informationssystems ab. Der Benutzer soll mit den angebotenen Informationsobjekten un-eingeschränkt umgehen und nicht durch Fragen zur Person, Interessenlage etc. abgelenkt werden.

z.B. der Integration der graphischen Komponenten in ein multi-modales Dialogmodell vorausge-hen —, sondern erlaubt darüber hinaus den Entwurf situationsspezifischer Antworten des Sy-stems, die den graphischen Dialog im Sinne des Griceschen Kooperationsprizips flexibilisieren können. Wir illustrieren dies zum Abschluß an einigen Beispielen für komplexe visuell-deiktische Dialogakte:

1. overanswer:

Zusätzlich zum im /nform-Akt präsentierten Wissensfragment können weitere angeboten werden, falls die Strategie des Benutzers hinreichend sicher vermutet werden kann. Dies kann durch folgende Kriterien geprüft werden:

a. Der Benutzer ist als Konzeptualist klassifiziert, so daß unterstellt werden kann, daß er bei der Erstellung der Query sorgfältig vorgegangen ist. Deshalb können die als relevant eingestuften Objekte sein Informationsbedürfnis wahrscheinlich recht gut befriedigen.

b. Die Dialoghistorie zeigt eine auf diese Objekte zielende Folge von Navigationsaktionen (Browsing- bzw. Zooming-Sequenz).24

So kann im Falle einer sehr konkreten Query beim Übergang in das Themenprofil einer Passage unterstellt werden, daß der Benutzer die im Fokus befindlichen Konzepte ex-pandieren wird, da er sich offensichtlich für faktische Details interessiert. Im Falle einer gerichteten konzeptuellen Browsingsequenz ist anzunehmen, daß der Benutzer seine Query vervollständigen will. Bei der Hinzunahme weiterer Konzepte wird der Benutzer den Differen-zierungsgrad wahrscheinlich beibehalten wollen, so daß eine passende "Überbeantwortung"

der Browse-Aktion das (zusätzliche) Präsentieren von Konzepten ist, die im Grad der Mo-dellierung den bereits in der Query vorhandenen entsprechen.

2. validate:

Auch dieser Dialogakt basiert auf einer antizipierten Benutzerstrategie, die in diesem Fall erkennbar auf eine Absicherung bzw. Überprüfung bereits vermittelter Information abzielt.

Eine kooperative Systemreaktion in dieser Situation ist die Wiederholung einer Sequenz von Aktionen zur Sichtung des Retrievalergebnisses. Die Relevanz eines solchen Aktes kann sich z.B. aus einer leicht modifiziert wiederholten Aktionenfolge des Benutzers herleiten, wie dies z.B. bei der Strategie Retrieval-by-Refomulation eines Analogisten auftritt. Der Dialogakt legitimiert sich also durch folgende Benutzerstrategie, die auf eine Absicherung bzw. Überprüfung bereits vermittelter Information abzielt:

a. Der Dialogverlauf weist wiederholt ähnliche Queryobjekte auf, ist also zyklisch mit leichten Differenzierungen im Fokus.

b. Die Operationen auf den Queryobjekten bezogen sich auf den Austausch von Konzepten gegen verwandte Begriffe ( u p - , downposting).

Bei der gerichteten Navigation zwischen Themenbeschreibungsgraphen oder Passagen haben die Objekte eine hohe Relevanz, die einerseits mit der Query eine weitgehende thematische Übereinstimmung aufweisen. Falls diese nicht mit dem aktuellen Objekt in der gerade die Browse-Sequenz bestimmenden Relation stehen, wird die Systemreaktion als va/Wate-Akt, der kontrastive Information vermittelt, geplant.

Initiierung eines Meta-Dialogs. Die sprechakttheoretische Modellierung der graphischen Interaktion erlaubt nicht nur die Flexibilisierung des Dialogverhaltens durch situationsadäquate Systemantworten, sondern ermöglichen darüber hinaus ein aktives Initiieren von Meta-Dialogen durch das System. Die Direktiva, über die das System — in dem hier nur skizzierten Modell — verfügen könnte, basieren auf der Analyse des Navigationsverhaltens des Benutzers:

1. anticipative offer:

Im Falle des Scheiterns von Benutzeraktionen sind Hilfsangebote erforderlich, die es dem Benutzer ermöglichen, sich neu zu orientieren. Im Gegensatz zu Ansätzen im Bereich ak-tiver Hilfesysteme (vgl. Lutze 1985) sollen hier jedoch nicht Einspielungen von Erläuterungen oder Verbesserungsvorschläge zur Vorgehensweise (vgl. Wahlster et al. 1988) betrachtet

24 Im Falle des visuell-deiktischen Dialogs ist die räumliche Metapher der "Richtung" einer Argumentation oder Fragensequenz direkt aus der dialogischen Uminterpretation der Benutzeraktionen herleitbar.

werden, sondern ein eher an natürlichen Dialogen orientiertes Paraphrasieren fraglicher Komponenten der aktuellen Dialogsituation, z.B. die Verbalisierung graphisch präsentierter Relationskanten, in Kombination mit dem Aufzeigen von Informationsobjekten als Antworten auf eine im Dialogkontext zu erwartende, jedoch nicht erfolgte Aktion des Benutzers.

Das Scheitern von Benutzeraktionen läßt sich im hier betrachteten Kontext auf zwei Fälle zurückführen:

a) Mißlingen der Referenz (Anwendung des intendierten, also richtigen Operators auf das falsche Objekt)

b) Mißlingen der Prädikation (Anwendung des falschen Operators)

Eine Hypothese über die Art der vermutlichen Fehleingabe kann im Einzelfall aufgestellt werden, so ist z.B. im Falle der Anwendung des Browse-Operators auf das Weltwissens-objekt (vgl. Abb. 1) folgende Heuristik sinnvoll:

Sind wenige Konzepte in die Query aufgenommen und/oder der Benutzer ein Operationalist (vgl. den Abschnitt über Benutzermodelle), so ist es wahrscheinlicher, daß die Browse-Operation auf ein Konzept zielte, dabei aber infolge falscher Mauspositionierung das die Konzeptobjekte präsentierende Weltwissensfenster angesprochen wurde. Ist die Query dagegen elaboriert und/oder der Benutzer als Konzeptualist klassifiziert, so kann eine Ver-tauschung der Maustasten, also eine mißlungene Prädikation angenommen werden.

2. encourage:

Um den Benutzer zu einer ausschöpfenden Anwendung der Systemfunktionalität zu befähigen bzw. anzuregen, kann das System im Falle alternativer Fortsetzungen des Di-alogs die auf Verdacht generierten Antworten zur Auswahl stellen und dies geeignet kom-mentieren. Werden unterschiedliche Entwicklungen angedeutet, kann der Benutzer flexibler reagieren. Für den Dialogakt gibt es somit zwei komplementäre Begründungen:

a. Einerseits können die guten Kenntnisse des Benutzers zur Rechtfertigung herangezo-gen werden: Der Benutzer muß als Operationalist klassifiziert sein und die Dialogsitua-tion zwei (oder mehrere) potentiell sehr relevante Fortsetzungen aufweisen. In diesem Fall kann die antizipative Ausführung dieser Aktionen — die natürlich zu revidieren sein muß — die Planung und Ausführung komplexer Strategien anregen und erleichtern.

b. Andererseits kann der Akt gelegentliche Benutzer über die volle Funktionalität des Systems unterrichten: Im Falle einer ungerichteten Browsing-Sequenz im Weltwissen ist es plausibel, davon auszugehen, daß der Benutzer den Konzeptraum erforschen will, und deshalb insbesondere bei geringer Systemkenntnis Alternativen als hilfreich ansehen wird.