• Keine Ergebnisse gefunden

I. EINLEITUNG

3. Konkretisierung der Fragestellung und Aufbau der Arbeit

Vorab gilt es, danach zu fragen, was einen Vergleich von Kurt Hahn und Paul Natorp legitimiert und interessant macht. Zunächst: Der grundsätzliche Wert eines Vergleichs als solchem liegt unbestritten in seiner heuristischen Funktion, d.h. die Merkmale einer spezifischen Denk- und Handlungsweise treten gerade im Kontrast zu einer anderen besonders deutlich hervor. Doch diese rein formale Begründung allein ist nicht hinrei-chend. Sie muss durch inhaltliche Argumente ergänzt werden. Ein solches ist, dass die zu vergleichenden Konzepte grundlegende gemeinsame Bezugspunkte aufweisen, ohne dabei freilich komplett in eins zu fallen. Ein Vergleich verspricht also besonders dann, aufschlussreich zu werden, wenn die entscheidenden Fragen, mit denen sich die zu vergleichenden Akteure auseinandergesetzt haben, im Kern dem selben Problem-kreis entspringen.

Ein solcher, für das Denken Hahns und Natorps zentraler und gemeinsamer Problem-kreis erwächst ohne Zweifel aus dem kulturellen und gesellschaftlichen Zusammenbruch nach dem Ersten Weltkrieg und der damit verbundenen tiefen Er-schütterung nicht nur der deutschen, sondern der gesamteuropäischen politischen,

4 Um eine konsistente Begrifflichkeit zu gewährleisten, wird der Ausdruck Sozialpädagogik abwei-chend von dem uns heute geläufigen Verständnis – wenn nicht anders vermerkt oder aus dem Kontext ersichtlich – in dieser umfassenderen Bedeutung, d.h. im Sinne Natorps, verwendet.

I. Einleitung wirtschaftlichen und kulturellen Strukturen. Das Wilhelminische Kaiserreich hatte sich überlebt und war mit der durch militärische Rückschläge erzwungenen Abdankung des Kaisers an sein überfälliges Ende gelangt. Wohl lag der deutsche Staat nach Ende des Krieges am Boden, doch gerade darin bestand auch die Chance des Neubeginns.

Lebensgeschichtlich in diese existenzielle Katastrophe gleichermaßen involviert, such-ten sowohl Hahn als auch Natorp ihren Beitrag zum politischen und gesellschaftlichen Neubau von Seiten der Pädagogik her zu leisten. Erneuerung der Gesellschaft durch Erneuerung der Erziehung und Bildung, das war das Projekt, dem das pädagogische Schaffen beider in den frühen 20er-Jahren verpflichtet war. Für Hahn bedeutete dies die Abkehr aus dem Geschäft der Politik und den Eintritt in die „pädagogische Provinz“, d.h. den Aufbau einer Internatsschule nach reformorientierten und erlebnispädagogi-schen Richtlinien; für Natorp eine erneute und grundlegende Durcharbeitung seiner pädagogischen und philosophischen Prinzipien und deren Reformulierung im Sozial-idealismus, seinem „Kriegs- und Revolutionsbuch“ mit dem programmatischen Untertitel Neue Richtlinien sozialer Erziehung. Natorps Werk erscheint 1920, dem Jahr der Gründung der Internatsschule Schloss Salem. Wie Salem als Hahns, so kann der Sozialidealismus als Natorps essentieller Beitrag zur Neugestaltung von Erziehung, Gemeinschaft und Gesellschaft angesehen werden. Das Suchen und Formulieren von Antworten auf die existenziellen Nöte der gesellschaftlichen Umbruchszeit um 1919/20 bildet also einen zentralen und synchronen Motivationsfaktor des pädagogischen Schaffens beider; womit sich dieses Bestreben als hervorragend geeigneter Bezugs-rahmen des anzustellenden Vergleichs erweist.

Damit lässt sich Aufgabe und Thema dieser Arbeit wie folgt konkretisieren: Ziel ist eine vergleichende Analyse der erziehungstheoretischen Konzepte von Paul Natorp und Kurt Hahn, wie sie im Sozialidealismus und in der Internatsschule Schloss Salem als ihren zentralen Beiträgen zur, nach der Zäsur des Ersten Weltkriegs notwendig gewor-denen, gesellschaftlichen Erneuerung zum Ausdruck kommen.

Im weiteren Verlauf wird sich zeigen: eine gleiche Suche bedingt nicht die gleichen Antworten. So darf das Spannungsverhältnis, in welchem Natorp und Hahn stehen und welches einen Vergleich inhaltlich überhaupt erst ergiebig zu machen verspricht, nicht übersehen werden. Dazu sei vorab soviel bemerkt: Im Jahr 1920 steht der 33-jährige Hahn zeitlich gesehen am Anfang, der 66-jährige Natorp hingegen auf dem Höhepunkt seines pädagogischen Schaffens. Letzterer hat in Marburg einen Lehrstuhl für Philoso-phie und Pädagogik inne und konzipiert seine Lösungsansätze entsprechend von akademisch-wissenschaftlicher Seite her, während der aus dem politischen Geschäft kommende Hahn sich ganz konkret an die praktische Umsetzung seiner

pädagogi-schen Prinzipien macht. Natorps Schaffen bleibt zeitlebens grundlagen- und theorie-orientiert, während Hahn ganz entschieden ein Mann der Praxis war. Er „verfasste kein pädagogisches Gesamtwerk, er war kein Theoretiker […].“ (Friese 2000: 16f). Dafür hat er seine gesamte Schaffenskraft ab den 20er-Jahren der unmittelbaren und konkre-ten Umsetzung seiner pädagogischen Vorstellungen gewidmet. Natorp hingegen ist immer auch als Philosoph und Vertreter des Kritischen Idealismus neukantianischer Prägung zu sehen. Als solcher sah er die Sozialpädagogik wohl als ein essentielles Aufgabenfeld, aber eben doch nur als eines unter anderen mehr. Sein Verdienst auf diesem Gebiet liegt, wie bereits angedeutet, in der theoretischen Entfaltung und Fun-dierung der Sozialpädagogik als Disziplin.

Weltanschaulich vertritt Natorp das Ideal eines ethischen, aber darum nicht weniger radikalen5 Sozialismus mit dem Ziel der Aufhebung der kapitalistischen durch eine genossenschaftliche Wirtschaftsordnung und der Umwandlung der politischen Organi-sation nach Maßgabe basis- und rätedemokratischer Grundsätze, wohingegen sich Hahns politisches Ideal an dem (eher liberal-konservativen) Zweikammernsystem des Viktorianischen England orientiert. Das kapitalistische Wirtschaftssystem rückt so gut wie gar nicht in den Horizont von Hahns Kritik. Als ein erster Hinweis auf Differenzen in Position und Perspektive mag dies genügen. Detaillierte Ausführungen wird der eigent-liche Vergleichsteil mit sich bringen.

Zum Aufbau der Arbeit: Zunächst geht es darum, für Natorps und Hahns Denkentwick-lung relevante lebensgeschichtliche Ereignisse und Wendepunkte darzustellen (Kap. II und III). Es folgt eine möglichst umfassende und konsistente Explikation des jeweiligen erziehungstheoretischen Konzeptes (Kap. IV und V). Auf dieser Basis kann die inten-dierte Erörterung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden dann stichhaltig aufgebaut werden (Kap. VI). Der Schlussteil (Kap. VII) bietet Raum für eine kritische Bilanz, die Erarbeitung weiterführender Fragestellungen und die dialektische Entwicklung mögli-cher Synthesen.

Die großen Hoffnungen sowohl Hahns als auch Natorps ruhen, was die Neuordnung von Staat und Gesellschaft anbelangt, auf der Jugend. Von daher sehen beide ihre entscheidende Herausforderung darin, für eine bessere Zukunft der kommenden Ge-neration in ihrem Werden beiseite zu stehen. Der Anspruch, der sich für die Pädagogik daraus ergibt, ist ein hoher. Doch nicht weniger hoch waren Engagement und Einsatz, mit welchen beide für dessen Einlösung eingetreten sind, – ein jeder auf seine Weise.

5 ‚Radikal‟ meint bei Natorp ‚von der Wurzel (lat.: radix) her‟, d.h. ‚von Grund aus‟; nicht aber eine Form von militantem Aktionismus, wie der heutige Sprachgebrauch das nahe legen mag.