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IV. SOZIALIDEALISMUS – NEUE RICHTLINIEN SOZIALER ERZIEHUNG

5. Inhalt der sozialen Erziehung: die ganze Welt als Schöpfung

(VI) Ausgangspunkt von Natorps Überlegungen zum „Inhalt der sozialen Erziehung“

bildet der durch Kant in seiner ganzen Klarheit zum Ausdruck gebrachte Widerstreit der theoretischen mit der praktischen Vernunft.

„Wir sind davon ausgegangen, dass Kant uns in dem Widerstreit ‚theoretischer‟

und ‚praktischer Vernunft‟, der auf den des Finitismus und Infinitismus zuletzt zu-rückgeht, doch nicht rat- und hilflos stecken lassen wollte, sondern uns nach dem Ausgleich in einem Dritten zum wenigstens fragen gelehrt hat. Daß dies Dritte aber doch wohl auch ‚Vernunft‟ sein muß, nur eben nicht theoretische oder praktische, sondern eine, die eine, in sich so übertheoretische wie überpraktische, soviel musste schon dem mitdenkenden Leser Kants selbst klar werden; eben dahin war schon durch ihn die Frage unausweichlich gestellt, damit aber auch die Antwort, die Notwendigkeit wenigstens einer Auflösung dieses größten Problems, absehbar geworden“ (Natorp 1920: 172).

Nach Kant ist Gegenstand der theoretischen Vernunft das (endliche) Sein der Dinge, nicht das Ding an sich, sondern dessen Erscheinung, d.h. die bedingte, empirische Wirklichkeit. Damit ist die theoretische Vernunft das Vermögen der Indikation, d.h. der Feststellung. Ihr Urteil erstreckt sich darauf, ob und wie etwas ist oder nicht ist.

Gegenstand der praktischen Vernunft hingegen ist das (unendliche) „Sein“ der Ideen, nicht das höchste Wesen selbst, sondern dessen unbedingter, über-empirischer Sol-lens-Anspruch. Die praktische Vernunft bewegt sich nicht im Bereich des Seins, sondern des Sollens. Ihre Aussagen haben als unbedingte Einsagen imperativen Charakter. Die Vernunft vernimmt, ob etwas sein soll oder nicht sein soll. Sie ist das Vermögen der Wahrnehmung der Idee.

Als Gegenstand der „dritten“ Vernunft bestimmt Natorp nun die Frage nach dem Indivi-duum, „die damit sich als die eigentliche Kernfrage der ‚Kritik der Urteilskraft‟

herausstellt“ (Natorp 1920: 172).22 „Das Individuum ist, ganz nach dem Wortsinn, das Un-teilhafte“ (Natorp 1920: 172) und damit kein bloßer Teil eines Allgemeinen. Es steht vor dem Sein der Dinge und vor dem Sein-Sollen der Idee. Es ist deren beider Urs-prung. Es ist das Leben selbst, „jenes Leben, das man nicht fragen darf, warum oder wozu es lebe; es könnte, wenn es überhaupt einer so törichten Frage Rede stehen

22 Nach der Kritik der reinen Vernunft (1781), d.h. der theoretischen Vernunft und der Kritik der prakti-schen Vernunft (1788), ist die Kritik der Urteilskraft (1790) die dritte der großen Kritiken Kants.

IV. Sozialidealismus – Neue Richtlinien sozialer Erziehung müsste, (nach Eckhart)23 nur zur Antwort geben: Ich lebe darum und dazu, daß ich lebe“ (Natorp 1920: 173).

Als Ursprung der Welt des Seins und der Welt des Sollens, der empirischen Welt und der intelligiblen Welt24, bildlich gesprochen, des „gestirnten Himmels über mir“ und des

„moralischen Gesetztes in mir“ (KpV, A 289), wohnt dem Individuum Schöpferkraft inne. Diese Schöpferkraft kann aus theologischer Perspektive als der tiefste und unmit-telbarste Ausdruck der Gottebenbildlichkeit des Menschen betrachtet werden. Also liegt die „wahre Selbstheit und Freiheit“ des Menschen begründet „im ursprünglichen Selbstsein und Freisein lebendiger – Schöpfung; Schöpfung nicht im bloß passiven Sinn des Geschaffenseins, noch im bloß aktiven des Schaffens, sondern im medialen und damit erst ganz radikalen des sich selber Schaffens“ (Natorp 1920: 174).

Das Leben lebt im Individuum als dem „‟Punkt‟ nicht im negativen Sinne des Letzten, nicht mehr zu Teilenden, des Hier, nicht Da, Jetzt, nicht Dann, sondern in der reinen Positivität absolut einziger Bestimmtheit, Selbstbestimmtheit, und damit vielmehr be-stimmenden Kraft für alles, was nicht er, d.h. nicht ‚Individuum‟, Un-teilhaftes, sondern eben Teilbestimmtheit ist“ (Natorp 1920: 176). Das Individuum steht nicht in Raum und Zeit, sondern ist der Ursprung von Raum und Zeit. Der Mensch lebt von Ewigkeit her.

Als Urkraft des Menschen ist die ‚Schöpferkraft‟ bzw. die ‚schöpferische Vernunft‟ also Ursprung von ‚Sein‟ (als dem Gegenstand der Theorie) und ‚Sollen‟ (als der Aufgabe der Praxis) und damit der gesuchte Vereinigungspunkt des ‚Seins‟ mit dem ‚Sollen‟, des ‚Sollens‟ mit dem ‚Sein‟, d.h. Ursprung (Prinzip) der ‚Individuität‟ (als der Hoffnung des Menschen).25 Das Individuum ist es, das die Welt des Theoretischen und des Praktischen „ganz in eins schlingt: zum Sollen, das selber ist, Sein, das selber ins ewige Soll sich entwickelt, d.i. Leben“ (Natorp 1920: 176).

Auf der Basis dieser philosophischen Grundsatzerwägungen macht sich Natorp nun an die eigentliche Beantwortung der Frage nach dem Inhalt der Erziehung bzw. nach dem Gehalt der Bildung. Seine Antwort formuliert er in kritischer Auseinandersetzung mit Ernst Tröltsch, der in seinem Beitrag ‚Deutsche Bildung‟ zur Sammelschrift Der Leuch-ter (Darmstadt: 1919) „ein höchstes Geistiges allein, als die Frage der Bildung wirklich

23 Gemeint ist Eckhart von Hochheim (1260-1328), bekannt als Meister Eckhart. Er war ein bedeuten-der Theologe und Philosoph des christlichen Mittelalters und einer bedeuten-der großen Vertreter bedeuten-der Deutschen Mystik.

24 „Intelligible Welt“: (kosmos noêtos, mundus intelligibilis): die nur durch den Intellekt erfassbare Welt, die geistig-übersinnliche Welt, Idealwelt, Vernunftwelt (vgl. Eisler: 1904).

25 „Was kann ich wissen, was soll ich tun, was darf ich Hoffen“, nach Kant die drei Grundfragen des philosophischen Denkens, zusammengefasst in der Frage: „Was ist der Mensch?“ Diese vier Fragen finden sich so in Kants Vorlesung über Logik (1800 durch Jäsche herausgegeben) und bezeichnen Metaphysik (bzw. Erkenntnistheorie), Ethik, Religionsphilosophie und Anthropologie.

angehend, ins Auge faßt, alles bloß Naturhafte, aber auch, als diesem viel zu nahe bleibend, alles bloß Wirtschaftliche und Politische – also gerade das, was unter dem Titel der ‚Geschichte‟ bisher vorzugsweise Beachtung gefunden hat – aus der Erwä-gung“ ausscheidet (Natorp 1920: 177). Die Ausscheidung dieses Bereichs als nicht zum „Kern des Wesens“ gehörig, „als bloß verfügbare, der Gestaltung wartende Mate-rie, als nur schicksalhaft Gegebenes, das man zuvor wissen, mit dem man rechnen muß, das aber die ‚Bildung‟ eigentlich nicht angeht“ wird bei Tröltsch weiter ausge-dehnt auf „den ganzen Inhalt der positiven Wissenschaften, Natur- wie Geschichtswissenschaften“ und schließlich sogar auf die nach Tröltsch „bloß partikula-ren und positiven Festlegungen der Wertwelt“ (Natorp 1920: 177).

Einer solchen Ausscheidung von vermeintlich unwesentlichen Bereichen der Wirklich-keit aus dem, was Bildung unmittelbar angeht, kann Natorp nicht zustimmen, denn „ist es nicht […] ein einfaches Gebot der Wahrhaftigkeit, dies alles, da es doch unzweifel-haft ist und lebt, auch voll anzuerkennen und in Rechnung zu stellen? Soll es einmal [nach Tröltsch, Anm. d. Verf.] gelten, dass alles schicksalhaft Gegebene, Positive nur dazu da ist, vom Geiste ‚bewältigt‟ zu werden, so darf es uns nicht bloß Gegebenes, Positives, nicht ‚Schicksal‟ bleiben, sondern muß sich ganz in Selbsttat, in Schöpfung wandeln; der Geist muß seiner Herr werden, wenn nicht es, das Positive, ihn zum Knecht machen soll“ (Natorp 1920: 178). Demnach umfasst der Inhalt der Erziehung und Bildung die Beschäftigung mit der ganzen Welt, nicht mit der Welt als ganzer, aber grundsätzlich mit jedem Ding und Wert und Individuum. Denn in jedem Ding, in jedem Wert, in jedem Individuum drückt sich Geist aus – Schöpfergeist. Nichts und niemand ist schlechthin ungeistig und unwert sich ihm zuzuwenden. Um was es Natorp hier geht, ist die Heiligung der ganzen Welt als Schöpfung, mit anderen Worten: die Er-kenntnis Gottes als des ‚Gottes der kleinen Dinge‟.

„Das Wort ward Fleisch, nicht, es schied sich von ihm. […] Der ganze Gegensatz:

Geist und Ungeist, als absoluter, muß fallen; man darf dem Ungeist gar nicht soviel nachgeben, dass man ihn, wenngleich als den Feind, anerkennt, man muß ihm beweisen, dass er gar nicht ist; man muß dem Gespenst zuleibe gehen, bis es verschwindet und in nichtigen Schein zergeht“ (Natorp 1920: 180).

Wichtiger als diese „vielleicht allzu metaphysische Erwägung“ bleibt als Einwand gegen Tröltsch, dass sein ahistorischer und anti-positivistischer Ansatz „dem Ernste der heu-tigen Lage nicht gerecht wird“ (Natorp 1920: 178), denn Tröltschs Ansatz marginalisiert die kritische Analyse der Machtstrukturen und Abhängigkeitsverhältnisse in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft. Auch wenn in diesen Bereichen die Gefahr besteht, sich in tausend Einzelfragen zu verzetteln und sich in der Peripherie zu verlieren, so „gehört das alles darum nicht weniger dem Geiste selbst an. Er wäre nicht das Zentrum, wenn nicht der ganze Umkreis sich zuletzt von ihm aus bestimmte und in ihm

zusammen-IV. Sozialidealismus – Neue Richtlinien sozialer Erziehung fasste, konzentrierte“ (Natorp 1920: 179). Soziale und historische Gegebenheiten, politische und gesellschaftliche Strukturen, der ganze Inhalt positiver Wissenschaften:

nichts ist auszuscheiden. In allem drückt sich Geist und somit Bildungsgehalt aus. Es gibt nichts Ungeistiges, der wirklichen Bildung unwürdiges. So der zusammengefasste Standpunkt Natorps, was die Frage nach dem Inhalt von Erziehung und Bildung anbe-langt.