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V. SALEM – KONZEPT EINES LANDERZIEHUNGSHEIMS

1. Hahns geistiges Umfeld: Einflüsse und Einordnung seines Schaffens

Einflüsse und Einordnung seines Schaffens

Das pädagogische Konzept, das Hahn in Salem fruchtbar zu machen suchte, steht in unmittelbarem Zusammenhang mit der von Hermann Lietz (1868-1919) angestoßenen Landerziehungsheimbewegung. Neben Lietz und Hahn sind als weitere wichtige Ver-treter Gustav Wyneken (1875-1964) und Paul Geheeb (1870-1961) zu nennen (vgl.

Badry 1991: 152ff). Tragend für diese Schulreformatoren war die Idee einer Lebens-gemeinschaftsschule, mithin einer Schulform, welche die primär struktur-funktionale Bedeutung eines einseitig auf kognitive Bildung ausgerichteten (staatlichen) Schulsys-tems hinter sich lassen sollte. Gegen das autoritäre, dem Herbartianismus verpflichtete Schulsystem des Wilhelminischen Kaiserreiches, galt es, eine neue Erziehungsform zu etablieren, die einer „neuen Natürlichkeit“ und dem „Eigenwert der Jugend“ verpflichtet war. Hierzu gehört ganz wesentlich die Betonung des unmittelbaren Erlebens und Erfahrens (im Gegensatz zur abstrakten Wissensvermittlung), die Ausrichtung auf die Bildung aller Vermögen der Heranwachsenden, insbesondere des Willens und des Charakters (im Gegensatz zur Vermittlung von bloßen Anstands- und Benimmregeln,

Gehorsamkeit und Staatsraison) und die Ausrichtung auf Erziehung in und durch Le-bensgemeinschaft (im Gegs. zu einer entsolidarisierenden und individualisierenden Erziehung als bloßem Frontalunterricht).

Auf die wegweisende und fundamentale Bedeutung von Lietz‟ Emlohstobba für den jungen Hahn ist bereits hingewiesen worden (vgl. Kap.III.2). Dieses Buch besiegelte, wie Hahn selbst schreibt, sein Schicksal (vgl. Hahn [1965] zit. n. Arnold-Brown 1966:

185). Darin spiegeln sich die Erfahrungen wieder, die Lietz 1896 bei Cecil Reddie an der New School Abbotsholme gesammelt hat.31 Hahn konnte die englischen New Schools und das Leben an den Colleges während seiner mehrmaligen Aufenthalte in Oxford selbst kennen und schätzen lernen. Die Nähe des Hahnschen Erziehungsprog-ramms zu demjenigen von Lietz wird auch daraus ersichtlich, dass sich Salem bereits 1925 der Vereinigung der Freien Schulen (Landerziehungsheime und Freie Schulge-meinden) in Deutschland angeschlossen hat. Diese Vereinigung war im Okt. 1924 gegründet worden und umfasste Heime, die sich dem Geiste von Lietz verpflichtet fühlten. 1930 waren in ihr, neben den 7 Lietz-Schulen32 und Salem Schondorf, die Odenwaldschule, Solling, Hochwaldhausen, Letzlingen und die ‚Schule am Meer‟

vereinigt (vgl. Schwarz 1970: 150).33 Doch Hahn setzt Lietz bzw. das Konzept der englischen New Schools in Salem nicht einfach eins zu eins um. Ein signifikanter Un-terschied zum Lietzschen und britischen Konzept war beispielsweise die Koedukation, die in Salem von Anfang an praktiziert wurde. Davon abgesehen „baute Hahn auf Bewährtes, modernistische Tendenzen in der Pädagogik lehnte er ab. Er wollte weder progressiv sein noch als progressiv gelten, darauf legte er Zeit seines Lebens großen Wert“ (Friese 2000: 79). Wenn auch der Einfluss von Lietz auf den jungen Hahn emi-nent war, bleibt damit festzuhalten, dass, immer auch andere Strömungen und Denkrichtungen von tragender Bedeutung für seine pädagogische Praxis waren.

Zu den wichtigsten Namen, die hierbei zu nennen sind, zählt Leonhard Nelson (1882-1927). Nelson war ein Jugendfreund Hahns. Aus dem wegweisenden Brief an den um vier Jahre älteren Nelson ist bereits zitiert worden (vgl. Kap.III.2). Hahn und Nelson haben sich noch während ihrer Schulzeit in Berlin kennengelernt. 1910 besucht Hahn als Student in Göttingen Seminare zu Ethik und Philosophiegeschichte bei Nelson, der eine akademisch-philosophische Laufbahn eingeschlagen hatte. Ende des Ersten Weltkriegs gründete Nelson in Anlehnung an die Platonische Akademie die Philoso-phisch-Politische Akademie als Trägerin des 1924 eröffneten Landerziehungsheims

31 ‚Emlohstobba‟ leitet sich durch Umkehrung der Buchstabenfolge aus ‚Abbotsholme‟ ab. Damit versinnbildlicht Lietz seinen engen konzeptionellen Bezug zu Reddies Schule.

32 Bieberstein, Gebesee, Buchenau, Haubinda, Ettersburg, Veckenstedt und Spiekeroog.

33 Auch heute noch gehört Salem der Vereinigung deutscher Landerziehungsheime an, die 1947 neu gegründet wurde (vgl. Schwarz 1970: 151).

V. Salem – Konzept eines Landerziehungsheims Walkemühle bei Kassel, sowie die Gesellschaft der Freunde der Philosophisch-Politischen Akademie. Dem folgte die Gründung des Internationalen Jugendbundes, den er 1926 nach Unvereinbarkeitsbeschlüssen seitens der SPD zum Internationalen Sozialistischen Kampfbund umwandelte. Nelson sah sich als ethischen, antiklerikalen, nichtmarxistischen, eher an Kant orientierten Sozialisten (vgl. Internet [22.1.08]:

http://de.wikipedia.org/wiki/Leonard_Nelson). Der besagte Brief an Nelson macht deut-lich, dass sich in dem jugendlichen Hahn eine tiefgreifende Wandlung vollzogen hat, die er Nelson zu verdanken weiß:

„[…] Du hast mir gezeigt, daß Ästhetik treiben wohl eine löbliche, ja erforderliche Beschäftigung ist, aber als dauernde und einzige mir nicht das Recht geben würde, mich einen gebildeten Menschen zu nennen; […] Also kurz, Du hast mir gezeigt, daß es meine ‚Pflicht‟ ist, mich mit Naturerkenntnis, mit Philosophie zu beschäfti-gen. […] ‟Du sollst mein Führer und Geleiter sein.‟ Ich sehne mich nach Deinem Regime bei der bevorstehenden Tätigkeit. Was Du nach diesem Bekenntnis zu tun hast, weißt Du wohl selbst. Bestelle mir die Bücher, die ich lesen soll, und lasse sie mir mit quittierter Rechnung hierher schicken“ (Hahn 1998: 13).

Ein weiterer wichtiger Vertreter reformpädagogischer Bestrebungen, mit dem Hahns Denken in enger Verbindung steht, ist Leopold Ziegler (1881-1958). Wie Nelson war auch Ziegler Philosoph. Wohnhaft in Überlingen am Bodensee stand er mit Hahn in freundschaftlichem Kontakt (vgl. Knoll in Hahn 1998: 158). In seinem Vorwort zur Mag-na Charta einer Schule von 1928 weist Ziegler auf „wiederholte Gespräche mit dem Leiter einer Schulgemeinde“ seiner Nachbarschaft hin, die ihn davon überzeugt hätten,

„daß jene aufrüttelnde Bewegung, die um die Jahrhundertwende zur Gründung deutscher Landerziehungsheime führte, unabwendbar totlaufen müsse, wenn man weiter die neuen Erziehungsziele mit veralteten Lehrplänen zu verwirklichen trachte“

(Ziegler 1928: XIII). Von daher kann davon ausgegangen werden, dass sich die Magna Charta zu einem Gutteil mit den Grundansichten Kurt Hahns deckt. Auf die Lektüre von Zieglers Schrift Zwischen Mensch und Wirtschaft (1927) entgegnete Hahn dem Autor:

„Die Antwort auf ihr Buch kann nur eine Schule sein!“ (Ziegler 1928, XVII). Friese geht sogar so weit, in der Magna Charta einer Schule die theoretischen Grundlagen für Salem zu sehen. Doch Frieses Behauptung, Ziegler hätte hier lediglich als Hahns ausführende Hand und Redaktor gearbeitet (Friese 2000: 17), lässt sich bei genauerer Betrachtung wohl kaum aufrechterhalten. Dazu war Ziegler wiederum ein zu eigens-tändiger Geist. Hahn und Ziegler begegneten sich auf derselben Augenhöhe.

Eminenten Einfluss auf die Fundierung der Hahnschen Pädagogik übte auch Friedrich Wilhelm Foerster (1869-1966) aus (vgl. Friese 2000: 76f). Foerster war seit 1914 or-dentlicher Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität in München, wo er Pädagogik und Philosophie lehrte. Wie Hahn setzte er sich kritisch mit der deutschen Kriegspolitik während des Ersten Weltkrieges und der Frage der Kriegsschuld ausei-nander. Wegen seiner politischen und ethischen Anschauungen wurde er von

nationalistischen Kreisen massiv angegriffen, worauf hin er bereits 1920 sein Lehramt niederlegte und in Emigration ging. In seinem Werk setzte sich Foerster mit ethischen, politischen, sozialen, religiösen und sexuellen Themen auseinander und forderte eine Reform der Erziehung auf christlicher und ethischer Grundlage. Als sein Hauptwerk gilt das 1905 veröffentlichte Christentum und Klassenkampf (vgl. Internet [11.12.07]:

http://de.wikipedia.org/wiki/Friedrich_Wilhelm_Foerster). In Übereinstimmung mit Hahn beklagte Foerster den „Verfall der Selbstdisziplin“, die Herabwürdigung des Tugendbe-griffes und den „Mangel an einem konkreten Charakterideal“, welches er aus der Jugendbewegung heraus nicht entstehen sah. Wie Hahn stand auch ihm als charakter-liches Vorbild das Ideal des englischen Gentleman vor Augen, welches Selbstdisziplin, Pflichttreue und unbedingtes „Zur-Stelle-Sein“, vereinigt mit den Elementen des die-nenden Helfens und der Rücksichtnahme, zur Ausprägung bringe (vgl. Friese 2000:

76f).

Als wichtige Reformpädagogen, welche in ihren Grundüberzeugungen Hahn sehr nahe standen, seien aus dem weiteren Umfeld noch wenigstens dem Namen nach erwähnt Georg Michael Kerschensteiner (1854-1932), Alfred Lichtwark (1852 -1914) und – aus dem angelsächsischen Sprachraum – die US-Amerikaner William James (1842-1910), William Heard Kilpatrick (1871-1965) und ganz besonders dessen Lehrer John Dewey (1859-1952). Bedeutung für Salem erlangte Deweys Konzept der Schule als „embryo-nic community“. Für Hahn „sollte Salem von Anfang an keine große Familie, sondern ein kleiner Staat werden“ (Hahn zit. n. Friese 2000: 78). Hahn beruft sich explizit neben Hermann Lietz besonders oft auch auf Platon. Dabei zeigen sich die ersten Kapitel der Politeia als besonders relevant (vgl. Pielorz 1991: 46).