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Kompensation durch Schulden

Im Dokument Rendite machen und Gutes tun? (Seite 155-160)

Die folgenden Beschreibungen weisen auf konkrete trade-offs hin, oder Abtausche, die sich in den Ländern in unterschiedlicher Ausprägung wiederfinden. Sie verdeutlichen, warum Verschuldung als politisch-ökonomischer Kompensationsmechanismus betrachtet werden kann.

Als erster Mechanismus ist der sozialpolitische trade-off zu nennen. In seiner Ursprungsform bezieht sich dieser darauf, dass die Bedeutung von Wohneigentum in einem Land umso größer ist, je geringer die öf-fentliche Versorgung mit bezahlbarem Wohnraum ist, aber auch je ge-ringer die Pensionsleistungen sind. Wohneigentum dient als Absiche-rung vor sozialen Risiken und als Instrument der Altersvorsorge, wofür es wiederum zugängliche und leistungsstarke Kreditmärkte geben muss (vgl. unter anderen Castles 1998; Prasad 2012). Die Privatisierung öf-fentlicher Wohnungsbestände in vielen Ländern und die parallele poli-tische Förderung der Eigentümergesellschaft – am prominentesten viel-leicht mit Margaret Thatchers »property-owning democracy« – nebst der vielerorts stattfindenden Absenkung der Rentenniveaus verliehen der Privatverschuldung eine ungeahnte Dynamik, die erst im Zuge der Finanzkrise durch das Platzen der Immobilienblasen aussetzte. Auf eine knappe Formel gebracht: Private Verschuldung kompensiert den Rück-bau und die Vermarktlichung sozialpolitischer Leistungen. In fortge-schrittenen Kreditgesellschaften wie den USA lässt sich dieser trade-off

2 In relativen Zahlen stieg die Verschuldung privater Haushalte von durchschnittlich 37 Prozent der Wirtschaftskraft im Jahr 1980 auf 83 Prozent im Jahr 2009 (Cecchet-ti et al. 2011).

Zum neoliberalen Kontext der Mikrofinanz 155 auch bei der Gesundheitsversorgung beobachten (Zeldin/Rukaniva 2007).

Der zweite Mechanismus ist der sozialinvestive trade-off. In den ver-gangenen Jahrzehnten lässt sich nicht nur ein Rückgang oder eine Sta-gnation im Bereich öffentlicher Infrastruktur feststellen, sondern auch im Bildungsbereich, vor allem bei der Hochschulbildung, sodass die individuelle Finanzierung an Bedeutung gewonnen hat (vgl. Streeck/

Mertens 2013). Es lässt sich insbesondere dann von einem Kompensati-onsmechanismus sprechen, wenn – wie in vielen Ländern in den ver-gangenen Jahren geschehen – öffentliche Finanzierungsprogramme für Studierende um (privatwirtschaftliche) Kreditangebote ergänzt oder teilweise durch diese ersetzt werden. Steigende Studiengebühren und Verschuldung sind mittlerweile ein wirtschafts- und sozialpolitisches Problem geworden, das in den USA, Großbritannien, Chile und Kana-da bereits zu Massenprotesten geführt hat.3

Der dritte Mechanismus, der Einkommens-Trade-off, verweist darauf, dass der Anstieg von Konsumentenkrediten, besonders von Kre-ditkarten- oder Überziehungskrediten, im Zusammenhang mit Lohn-stagnation, fragmentierten Erwerbsverläufen, unsicheren Arbeitsmarkt-verhältnissen und gestiegener Einkommensungleichheit verstanden werden sollte. Im Grunde genommen kompensieren diese Kredite die zunehmende Verteilungsungerechtigkeit in Gesellschaften, deren sozia-le Integration nicht zusozia-letzt auch über die Verwirklichung von Konsum-bedürfnissen sichergestellt wird. Auch fehlende oder abnehmende Absi-cherung von Arbeitsmarktrisiken durch die öffentliche Hand, zum Beispiel in Form von Lohnersatzleistungen, bei gleichzeitiger Zunahme der Volatilität der Arbeitsmärkte führt zu höheren Privatschulden (ex-emplarisch Hacker 2004; Montgomerie 2007; Rajan 2010).

Sowohl die unterliegenden Prämissen neoliberaler Politik als auch die daraus abgeleitete Ausweitung des Finanzsektors sind nicht auf die Länder des Nordens beschränkt: Die Universalisierung dieser Politik gelang bereits durch den Washington Consensus und dessen Umsetzung in den Strukturanpassungsprogrammen von IWF und Weltbank. In

3 In den USA beläuft sich das Volumen ausstehender Studienkredite inzwischen auf fast 1 Billion US-Dollar und ist damit höher als die Summe ausstehender Kreditkar-tenschulden (siehe http://www.newyorkfed.org/studentloandebt/, 16.8.2013).

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diesem Kontext erwiesen sich Mikrokredite in verschiedenen Ländern des Südens als perfektes Mittel, um beispielsweise für die ländliche Be-völkerung das Ende ihrer Agrarsubventionen zu kompensieren und für Stadtbewohner den Übergang in den informellen Sektor zu erleichtern.

Das neue offizielle Leitbild der Mikrofinanz trägt der Funktion von Mikrokrediten als Kompensationsmittel für fehlendes Einkommen oder Vermögen sogar direkt Rechnung: »finanzielle Inklusion«, die Ein-bindung aller Menschen in den Finanzmarkt (siehe Sabrow in diesem Buch). Die moderne Entwicklungstheorie postuliert, dass die Liberali-sierung des Finanzmarktes und die damit verbundene Ausweitung des Zugangs zu Finanzdienstleistungen, insbesondere zu Krediten, zentrale Hebel zur Beseitigung von Armut und Einkommensungleichheit sind (so zum Beispiel Demirgüç-Kunt 2010: 745–748). Die Weltbank-Un-terorganisation Consultative Group to Assist the Poor (CGAP), deren alleiniges Ziel die Förderung der Mikrofinanz ist, schreibt sogar:

Wie alle anderen auch, brauchen und nutzen arme Menschen jederzeit Finanz-dienstleistungen. Sie brauchen sie, um Geschäftsmöglichkeiten wahrzunehmen, um in ihre Wohnungen zu investieren und um wiederkehrende Ausgaben für Schulgebühren und Festlichkeiten zu decken. Sie brauchen Finanzdienstleistun-gen, um für Ereignisse wie die Hochzeit einer Tochter oder den Tod einer Groß-mutter aufzukommen. Sie brauchen Finanzdienstleistungen, um Notfälle wie den plötzlichen Tod eines Einkommensbeziehers oder die Verwüstungen durch einen Monsun zu meistern. (CGAP 2004: 2; eigene Übersetzung)

Fazit

Unabhängig davon, ob es sich um Spar- oder Kreditangebote handelt, die benötigt werden sollen: Die Vorstellung, dass ein keynesianischer Wohlfahrtsstaat mit einer gemischten Wirtschaftsordnung seine Bürger mit freier Bildung versorgen, bei Einkommensausfall absichern oder bei Naturkatastrophen umfassend unterstützen könnte, ist zugunsten der Finanzmarktexpansion und seiner Profite längst in den Hintergrund getreten. Sie wurde durch eben jenen Paradigmenwechsel der späten 1970er-Jahre und durch das Fehlen sogenannter good governance in den Ländern des Südens diskreditiert. Stattdessen schreitet die

Individuali-Zum neoliberalen Kontext der Mikrofinanz 157 sierung von sozialen Risiken mittels Finanzdienstleistungen voran, legi-timiert durch ein universelles »Menschenrecht auf Kredit« (Yunus 1997).

Wo liegen eigentlich die Grenzen einer solchen Politik der Kompen-sation durch Schulden? Die Verschärfung der Schuldenproblematik im Norden wie im Süden erfordert eine grundsätzliche Verständigung dar-über, welche Rolle die Kreditmärkte bei der Verbesserung der Lebensbe-dingungen auf lange Sicht einnehmen sollen. Die Hoffnung, die den Mikrokrediten nun auch als Existenzgründungskredite im krisenhaften Europa zuteilwird (Klas 2013), lässt allerdings darauf schließen, dass sie weiterhin das kompensieren sollen, was der Staat im Zeitalter der Aus-terität nicht mehr bereitstellen kann – oder will.

Literatur

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Washington, DC: CGAP.

Crouch, Colin, 2009: Privatised Keynesianism: An Unacknowledged Policy Regime. In: The British Journal of Politics and International Relations 11, 382–399.

Demirgüç-Kunt, Asli, 2010: Finance and Economic Development: The Role of Government. In: Allen N. Berger/Philip Molyneux/John O. S. Wilson (Hg.), The Oxford Handbook of Banking. Oxford: Oxford University Press, 729–755.

Hacker, Jacob S., 2008: The Great Risk Shift: The New Economic Insecurity and the Decline of the American Dream. New York: Oxford University Press.

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158 Daniel Mertens

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58.

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=com_content&task=view&id=332&Itemid=368> (21.8.2013)

Zeldin, Cindy/Mark Rukaniva, 2007: Borrowing to Stay Healthy: How Credit Card Debt is Related to Medical Expenses. New York: DEMOS. <http://

www.demos.org/publication/borrowing-stay-healthy-how-credit-card-debt-related-medical-expenses> (15.8.2013)

Im Dokument Rendite machen und Gutes tun? (Seite 155-160)