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Kapitel 6: Verzahnung gerichtlicher und außergerichtlicher

C. Effektive Verbraucherrechtsdurchsetzung

II. Gruppenverfahren

Ein zweites Instrument kollektiven Rechtsschutzes sind Gruppenverfahren bzw. Gruppenklagen, die weitgehend synonym auch als Sammelklagen be-zeichnet werden. Anders als bei einer Rechtsverfolgungsgesellschaft sind hier nicht Gesellschaften, sondern Individualpersonen am Verfahren beteiligt. Man

297 Der einzige sichtbar per Crowdfunding finanzierte Zivilprozess ist das Berufungsver-fahren gegen das Urteil des LG Berlin v. 3.Juni 2014, 27 O 56/14, ZUM 2014, 729; selbst hier geht es aber nicht um Verbraucherrechte, sondern um die Abwehr unpopulärer Entschädi-gungsansprüche gegen eine Einzelperson auf Grund einer Persönlichkeitsrechtsverletzung.

In den USA hat sich das Unternehmen LexShares auf das Crowdfunding von Zivilklagen spezialisiert, finanziert aber Prozesse erst ab einem Kostenrisiko von 100.000 US$ und ist damit für die üblichen Verbraucherstreitigkeiten ebenso unerreichbar wie die in Deutschland tätigen Prozessfinanzierer, vgl. oben Kap.2 Fn.42.

kann unterscheiden zwischen Gruppenverfahren, deren Ergebnis nur die Ver-fahrensbeteiligten bindet, und solchen Verfahren, deren Ergebnis auch Verfah-rensexterne bindet, soweit sie als Gläubiger eines gleich gelagerten Anspruchs in Betracht kommen. Weiterhin haben Gruppenverfahren einen sehr unterschied-lichen Charakter abhängig davon, ob es für die Prozessteilhabe eigener Initia-tive der Anspruchsinhaber bedarf (opt-in) oder ob das Verfahren alle in Betracht kommenden Anspruchsinhaber involviert, solange diese einer Verfahrensbe-teiligung nicht aktiv widersprechen (opt-out).298 Der opt-out-Mechanismus wird hierzulande nahezu einhellig kritisch beurteilt, weil er für die beteiligten Rechtsanwälte erhebliche Anreize bietet, schwach begründete Klagen zu erhe-ben, um Unternehmen in bisweilen ruinöse Vergleiche zu zwingen, die sich am Ende vor allem für die Anwälte selbst auszahlen.299 In den USA werden diese Anreize durch die Möglichkeit eines Strafschadensersatzes und die Verknüp-fung mit Erfolgshonoraren noch verschärft.300 Das Für und Wider einer Bün-delung von Individualinteressen auf diesem Wege ist in den vergangenen Jahren in Deutschland wie auch in Europa Gegenstand einer intensiven rechtswissen-schaftlichen Diskussion gewesen.301 Soweit Gruppenverfahren überhaupt be-fürwortet werden, votiert die Mehrheit der Stimmen dabei für die Beschrän-kung auf einen opt-in-Mechanismus und für eine Bindung nur der unmittel-bar Verfahrensbeteiligten, weil nur diese Gestaltung dem Einzelnen die Hoheit über die gerichtliche Durchsetzung seiner Ansprüche belässt.302

298 Eine variable Form findet sich bei der neuen belgischen action en réparation collective, bei der das Gericht nach Art.XVII.38 §1, XVII.43 §2 Nr.3 des Code de droit économique für belgische Anspruchsteller eine Einzelfallentscheidung darüber trifft, ob ein opt-in- oder ein opt-out-System angewendet wird; vgl. Voet, 16 Eur. Bus. Org. L. Rev. 2015, 121, 130ff.;

zum gesamten Verfahren auch Stadler, ZfPW (1) 2015, 61, 68ff.

299 Jüngstes Beispiel ist ein Vergleich über eine Zahlung von mehr als 13 Mio. US$, dem die österreichische Red Bull GmbH im Juli 2014 vor einem New Yorker Bundesgericht zu-stimmte, um einer Verurteilung wegen irreführender Werbung zu entgehen. Die Firma hatte damit geworben, ihr Energiegetränk verleihe Flügel. – Weniger kritisch sehen einen opt-out-Mechanismus Halfmeier/Wimalasena, JZ 2012, 649ff. und Micklitz, DJT-Gutachten A, 2012, S.115f. Eckel, WuW 2015, 4ff., plädiert für ein opt-out-Verfahren analog des UK Consumer Rights Act 2015; Zekoll/Elser, in: Althammer (Hrsg.), Verbraucherstreitbeilegung, 2015, S.55, 74ff., votieren für ein opt-out-Modell nach dem Vorbild des niederländischen WCAM-Verfahrens. Näher zum WCAM-Verfahren Stadler, ZfPW (1) 2015, 61, 70ff.

300 Deswegen votiert Madaus, ZEuP (20) 2012, 100, 102ff. für eine sorgfältige Verzah-nung von Verfahrens- und Kostenrecht. Dabei könne das wirtschaftliche Interesse der betei-ligten Anwälte durchaus auch im Sinne der Rechtspflege genutzt werden; ähnlich auch schon Hess, WuW 2010, 493, 497.

301 Siehe bereits oben Kap.4 Fn.279 und 280.

302 Stadler, JZ 2007, 1047, 1050; Stadler, GPR 2013, 281, 285f.

1. Vorbild Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz?

Der deutsche Gesetzgeber hat ein solches opt-in-Verfahren im Jahr 2005 im Spezialbereich des Kapitalanlagerechts eingerichtet. In Verfahren nach dem Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz (KapMuG) werden durch eine Zwi-schenfeststellung bestimmte Tatsachen- oder Rechtsfragen geklärt, die für eine Vielzahl von anhängigen Klagen oder noch nicht klageaktiven Forderungs-prätendenten bedeutsam sind. Nach §9 Abs.2 KapMuG wählt das zuständige OLG aus dem Kreis der Kläger einen Musterkläger aus, der das Musterverfah-ren führt. Die übrigen Kläger sind nach §9 Abs.3 KapMuG Beigeladene des Musterverfahrens; nicht-klagende Anspruchsinhaber können ihre Forderun-gen nach §10 Abs.2, 3 KapMuG anmelden, partizipieren aber nicht an der Bin-dungswirkung des Musterentscheids nach §22 KapMuG.

Durch diese strikte Adhäsion der Bindungswirkung an die Klägerstellung geht die Wirkung des Musterentscheids für Dritte freilich nicht wesentlich über die Präzedenzwirkung eines Urteils im normalen Klageverfahren hinaus. An-spruchsinhaber, die aus dem Verfahren individuelle Vorteile ziehen möchten, kommen nicht umhin, den Aufwand für die Beteiligung am Prozess auf sich zu nehmen. Man mag dennoch erwägen, ein ähnliches Musterverfahren auch für weitere, verbraucheraffine Rechtsmaterien einzurichten.303 Dabei wäre al-lerdings zu berücksichtigen, dass ein solches Verfahren aufgrund des entstehen-den Teilnahmeaufwands für die Durchsetzung von Bagatellforderungen und Ansprüchen auf den Ersatz von Streuschäden kaum infrage kommen wird.304 Dieses Caveat lässt sich konturieren anhand eines Gesetzentwurfs zur Einfüh-rung eines Gruppenverfahrens in den §§606ff. ZPO-E, der in den 18. Deut-schen Bundestag eingebracht wurde und im Frühjahr 2015 Gegenstand einer Anhörung in dessen Rechtsausschuss war.305

Der nämliche Gesetzentwurf sucht einen Ausgleich zwischen der Verfah-rensautonomie der Forderungsinhaber, dem legitimen Gebühreninteresse der beteiligten Rechtsanwälte und dem Ziel einer effizienten Verfahrensgestaltung.

Nach dem Entwurf soll auf Klägerseite ein zentraler Gruppenkläger die

Füh-303 So auch das Plädoyer von Gsell, JZ 2012, 809, 817; vgl. auch Gsell, in: Schulze (Hrsg.), Europäisches Privatrecht in Vielfalt geeint, 2014, S.179, 183, mit einem Votum für einen ech-ten, von einem Repräsentanten geführten Gruppenprozess aus Gründen von Individual-rechtsschutz und Prozessökonomie; ähnlich Geiger, Kollektiver Rechtsschutz im Zivilpro-zess, 2015. Siehe auch Bruns, in: Stürner/Bruns (Hrsg.), Globalisierung und Sozialstaatsprin-zip, 2014, S.255ff.

304 Auch Stadler, ZfPW (1) 2015, 61, 82, weist darauf hin, dass die streitgegenständlichen Individualansprüche so hoch sein müssen, dass ein entsprechendes Interesse an der Rechts-durchsetzung besteht.

305 BT-Drs. 18/1464; zustimmend Keßler, ZRP 2016, 2, 3. Zum Vorläufer dieses Gesetz-entwurfs in der 17. Legislaturperiode Montag, ZRP 2013, 172ff. Ein ähnliches Gesetz ist im Frühjahr 2014 in Frankreich in Kraft getreten; vgl. Rohlfing-Dijoux, EuZW 2014, 771ff.

rung übernehmen, während der Rest der Anspruchsteller die weitgehend pas-sive Rolle sogenannter Teilnehmer einnimmt.306 Der Gruppenkläger kann seine Klage unter Beifügung seiner eigenen und mindestens neun weiterer Teilnah-meerklärungen erheben.307 Nach dem gerichtlichen Eröffnungsbeschluss und der öffentlichen Bekanntmachung der Klage in einem Klageregister setzt das Gericht eine opt-in-Frist zum Anschluss weiterer Teilnehmer; auch eine verspä-tete Zulassung bis zum Ende der erstinstanzlichen mündlichen Verhandlung ist allerdings vorgesehen.308

2. Verfahrenskosten

Auch wenn der erläuterte Gesetzesvorschlag versucht, aus der noch jungen Geschichte des KapMuG zu lernen, bleiben doch wesentliche Bedenken hin-sichtlich der vorgesehenen Ausgestaltung des Verfahrens.309 Zunächst berührt die Repräsentation der Beteiligten durch den Gruppenkläger die Gewährung rechtlichen Gehörs für die weiteren Teilnehmer. Der Gesetzentwurf will dies dadurch lösen, dass er eine Delegation des Gehörsrechts von den Teilnehmern auf den Gruppenkläger konstruiert.310 Auf diese Weise ist jedoch gerade nicht gewährleistet, dass die Teilnehmer sich äußern können, wenn die Verfahrens-führung des Gruppenklägers situativ nicht in ihrem Sinne ist.311

Auch die im Gesetzesvorschlag angesetzten Verfahrenskosten sind kritisch zu sehen. Denn sie erscheinen entgegen der Zielsetzung des Vorschlags nicht ge-ring genug bemessen, um Verbraucher in nennenswertem Umfang zur Nutzung des Verfahrens auch für die Durchsetzung geringwertiger Forderungen zu mo-tivieren. Der opt-in-Mechanismus setzt zusammen mit dem insbesondere durch die zwingende anwaltliche Vertretung ausgelösten312 Minimalkostenrisiko von

306 §§606 Nr.4, 619 Abs.1, 620 Abs.3 ZPO-E.

307 §609 Abs.1 Nr.3 ZPO-E.

308 §§612, 614, 617 ZPO-E.

309 Die Eignung des vorgeschlagenen Gruppenverfahrens zur Rechtsdurchsetzung ent-spricht in vielerlei Hinsicht dem in Kapitel 4 A. 1. erörterten Befund für das klassische Klage-verfahren. So kann man beim Verfahrensergebnis nur eingeschränkt von Rechtsdurchsetzung sprechen, wenn sich die Parteien vergleichen, §§623ff. ZPO-E. Weiter ist die Unabhängigkeit des Richters im Lichte seiner persönlichen Verhaltensanreize zu sehen. Die größten Probleme des Gruppenverfahrens liegen allerdings auf der im Folgenden erläuterten Verfahrensgestal-tung.

310 BT-Drs. 18/1464, S.17, unter Verweis auf Micklitz/Stadler, Das Verbandsklagerecht in der Informations- und Dienstleistungsgesellschaft, 2005, S.1385, und die Regelung in §6 SpruchG.

311 Hess, Stellungnahme zum Entwurf eines Gesetzes über die Einführung von Gruppen-verfahren, 2015, S.2, nennt dies eine „prozessuale Entmündigung“ der Teilnehmer. Anders Halfmeier/Wimalasena, JZ 2012, 649ff.

312 Soweit Wagner, in: Zekoll/Bälz/Amelung (Hrsg.), Formalisation and Flexibilisation in Dispute Resolution, 2014, S.369, 397, darauf hinweist, dass sich die Einschaltung eines Anwalts zur Durchsetzung einzelner geringwertiger Forderungen selten lohnt, ist dem

inso-über 70 €313 eine erhebliche Hürde für die Teilnahme am Verfahren,314 die es für die meisten Anspruchsinhaber vermutlich allenfalls ab einem mittleren dreistel-ligen Forderungsbetrag lohnenswert erscheinen lassen kann.

Soweit der im Gruppenverfahren gestellte Antrag nur auf Feststellung einer einzelnen Tatbestandsvoraussetzung, nicht aber auf Leistung an die Verfahrens-teilnehmer lautet, sind nach dem Gesetzesvorschlag Individualklagen der Teil-nehmer erforderlich, um den Anspruch vollends durchzusetzen. Dadurch erhö-hen sich die Kosten und der nicht-monetäre Aufwand für die Anspruchsteller erneut, wenn man nicht annehmen möchte, dass ein unterlegener Musterfest-stellungsbeklagter die Ansprüche sämtlicher Teilnehmer freiwillig erfüllt. Inso-fern erscheint fraglich, ob einem Gruppenverfahren nach dem Strickmuster des vorgeschlagenen Gesetzentwurfs nennenswert größerer Erfolg als dem in der Praxis nur sehr zurückhaltend genutzten KapMuG beschieden wäre.315 3. Verfahrenseffizienz

Für die Justiz wäre die Einführung eines Gruppenverfahrens freilich trotz des-sen begrenzt verbrauchergerechter Ausgestaltung noch durchaus attraktiv, weil selbst die seltene Nutzung solcher Prozessformen in einigen Fällen die ressour-cenintensive Mehrfachbefassung der Gerichte vermeiden kann.316 Aus der Ef-fizienzperspektive positiv erscheint auch, dass der Gesetzesvorschlag in §620 Abs.2 ZPO-E vorsieht, dass die Verfahrenskommunikation mit den Teilneh-mern über ein elektronisches Informationssystem erfolgen soll. Ein solches In-formationssystem könnte darüber hinaus bereits vor dem Beginn des Verfahrens den Zusammenschluss von Verbrauchern mit inhaltsähnlichen oder inhaltsglei-chen Forderungen erleichtern. Alternativ dazu kommt auch in Betracht, diese

fern hinzuzufügen, dass sich daran auch bei einer Kollektivierung dieser Forderungen nicht unbedingt etwas ändert, wenn nämlich die Sammlungs- und Bündelungskosten die erzielten Skalenvorteile weitgehend wieder aufzehren.

313 Das Kostenrisiko umfasst die üblichen Gebühren des gegnerischen Rechtsanwalts, 0,8 Gebühren für den eigenen Rechtsanwalt (Nr.3339 VV RVG-E) und 0,5 Gerichtskosten (Nr.1902 KV GKG-E). Für den einzelnen Teilnehmer sind die Kosten durch §629 Abs.2 ZPO-E gedeckelt auf den vierfachen Satz der Gebühren nach §13 RVG. Selbst bei minimalen Klagebeträgen kann das Kostenrisiko aber wegen des Mindestsatzes anwaltlicher und ge-richtlicher Gebühren nicht unter 73,19 € fallen.

314 Ähnlich auch Madaus, ZEuP (20) 2012, 100, 107: Man müsste den Betroffenen schon jegliches Kostenrisiko abnehmen, damit sie überhaupt tätig werden. Und selbst dann blieben noch die nicht-monetären Barrieren für die Inanspruchnahme gerichtlicher Hilfe.

315 Verhalten optimistisch hinsichtlich einer allgemeinen Musterfeststellungsklage nach dem Vorbild der KapMuG Meller-Hannich/Höland, Gutachten Evaluierung der Effektivi-tät kollektiver Rechtsschutzinstrumente, 2011, S.45ff. Siehe auch Stadler, in: FS Schumann, 2001, S.465ff.

316 Erläuternd Lüke, ZZP (119) 2006, 131,ff.; siehe auch Wolf/Lange‚ in: Vorwerk/Wolf, KapMuG, 2007, Einleitung, m.w.N.; Podszun, Wirtschaftsordnung durch Zivilgerichte, 2014, S.543.

Rolle den Verbraucherzentralen zuzuweisen. Angesichts dessen, dass diese frei-lich gemäß §611 Nr.2 ZPO-E auch selbst als Kläger im Gruppenverfahren auf-treten können sollen, stellt sich die Frage, inwieweit dann überhaupt ein Regu-lierungsbedarf besteht, da bereits die lex lata in §79 Abs.2 S.2 Nr.3 ZPO eine Verbandsklage zur Einziehung von Verbraucherforderungen vorsieht.