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Rechtsdurchsetzung und Verbraucherinteressen

Kapitel 2: Rechtsdurchsetzung in Verbraucherkonflikten

C. Rechtsdurchsetzung und Verbraucherinteressen

Dass ein Konfliktlösungsverfahren auf die Durchsetzung materieller Rechte zielt, ist nicht selbstverständlich. Eine Reihe anderer Verfahrensziele ist denk-bar. Es ist dabei gleichsam eine Vorbedingung eines verbrauchergerechten Ver-fahrens, dass dieses die Verbraucher nicht nur durch Berücksichtigung ihres ty-pischen Konfliktverhaltens dort abholt, wo sie stehen, sondern dass es sie auch dahin bringt, wohin sie wollen. Worauf aber kommt es Verbrauchern im Kon-flikt typischerweise an? Welche Bedeutung hat speziell die Rechtsdurchsetzung für die Bewältigung des Rechtsstreits? Diese Frage stellt sich einerseits aus der Warte der Gesamtheit aller Verbraucher, andererseits aber auch aus der Warte des einzelnen, konkret konfliktbetroffenen Verbrauchers.95

I. Soziale Bedeutung der Rechtsdurchsetzung

In gesamtgesellschaftlicher Hinsicht kommt der Durchsetzung des materiellen Rechts eine wichtige verhaltenssteuernde Funktion zu. Diese soziale Funktion lässt sich aus einer rechtspositivistischen wie auch aus einer rechtsökonomi-schen Warte begründen.96

95 Bisweilen wird auch zwischen objektiver und subjektiver Rechtsdurchsetzung diffe-renziert; so etwa bei Koch, Verbraucherprozeßrecht, 1990, S.58, 119ff. Diese Unterscheidung erscheint zumindest im Zivilrecht nur begrenzt hilfreich, weil es sich hier ausschließlich um subjektive Rechte handelt. Entsprechend interessanter ist die hier aufgeworfene Frage nach dem objektiven oder subjektiven Rechtsdurchsetzungsinteresse.

96 Vgl. die Unterscheidung bei Frerichs, ZfRSoz 2010, 231, wonach es je nach Perspektive so scheint, dass entweder der Markt in die normative Ordnung der Gesellschaft eingebettet ist oder die Gesellschaft der Logik des Marktes folgt.

1. Rechtspositivistische Perspektive

Nimmt man eine rechtspositivistische Perspektive ein, so verfolgt das Recht ei-nen absoluten Geltungsanspruch. Mit den Worten von Joseph Heinrich Kaiser:

„Mit dem Begriff des Rechts ist auch dessen Anspruch auf Geltung vorgegeben;

er gründet also in der Idee des Rechts.“97 Diese für unverzichtbare Grundrechte wohl unumstrittene Auffassung verdient für das Zivilrecht eine gewisse Ein-schränkung. Beim ius dispositivum folgt schon aus seiner Natur, dass der Ge-setzgeber den Rechtssubjekten hier keine zwingende Vorgabe machen will – das entkräftet den Geltungsanspruch jedenfalls dort, wo sich die Beteiligten kraft eigenen Willens anderweitig entscheiden. Ohnehin spricht vieles dafür, es nur in normbezogenen Konflikten zu einer richterlichen Entscheidung kommen zu lassen, rollenbezogene und personale Konflikte Schlichtern und Ratgebern zu überlassen.98 Die Grenzen zwischen diesen Konflikttypen sind im Einzelfall nicht einfach zu ziehen, zumal sich Konfliktthemen im Zeitablauf durchaus ver-schieben und verändern können.99

Nun herrscht freilich gerade im Verbraucherrecht infolge des Versagens selbstregulativer Mechanismen100 das ius cogens vor: Auf ihre zwingenden Rechte können Verbraucher nicht verzichten.101 Zwar können sie die Geltend-machung ihrer Ansprüche unterlassen.102 Dennoch gibt es ein Interesse des Gesetzgebers und der durch ihn repräsentierten Allgemeinheit, dass den ma-teriellen Rechten zumindest in gewissem Umfang Geltung verschafft wird.

Dieses Allgemeininteresse geht über ein bloßes Kollektivinteresse aller Ver-braucher hinaus,103 denn das geltende Recht repräsentiert ein Idealbild inso-weit einheitlicher Marktbedingungen, das durch kontinuierliche Neuver-handlung erhebliche Transaktionskosten spart und an dessen Durchsetzung

97 Kaiser, in: Badura/Kaiser (Hrsg.), Parlamentarische Gesetzgebung und Geltungsan-spruch des Rechts, 1987, S.39, 40. Ähnlich Schmidt-Jortzig, NJW 1994, 2569, 2571: „Ein Staat, der Recht und Gerechtigkeit zu seinem Richtwert erklärt und sich instrumentell durch Ge-setze und Rechtsvorschriften ordnet, muß Einrichtungen vorhalten, die deren Beachtung auch realiter sicherstellen.“

98 So Gessner, Recht und Konflikt, 1976, S.179, und ihm folgend Kocher, Funktionen der Rechtsprechung, 2007, S.86.

99 Ähnlich Kocher, Funktionen der Rechtsprechung, 2007, S.87.

100 Vgl. Bachmann, Private Ordnung, 2006, S.62.

101 Ein Verzicht oder ein Vergleich über zwingende Rechte ist jedenfalls dann unzulässig, wenn hinsichtlich deren Bestehens kein ernsthafter Zweifel besteht; vgl. BGH v. 6. Dezem-ber 2011, II ZR 149/10, BGHZ 191, 364, 378; HaDezem-bersack, in: Münch Komm- BGB, 2013, §779 Rn.11; Sprau, in: Palandt, BGB, 2016, §779 Rn.6. Siehe dazu ausführlich unten in Kapitel 3 A. I. 3.

102 Das bloße Unterlassen der Geltendmachung eines zwingenden Verbraucherrechts ist damit in der Terminologie Bachmanns ein rechtsfreier Raum; vgl. Bachmann, Private Ord-nung, 2006, S.44.

103 Zur Unterscheidung zwischen beiden Begrifflichkeiten von Moltke, Kollektiver Rechtsschutz der Verbraucherinteressen, 2003, S.22f.

jedenfalls auch diejenigen Unternehmer interessiert sind, die sich ihrerseits diesen Bedingungen anpassen.104

Der Umfang des Geltungsanspruchs lässt sich wie folgt konkretisieren: Für ideale Marktbedingungen bedarf es nicht einer absoluten Rechtsdurchsetzung um jeden Preis,105 wohl aber eines durch Rechtsfortbildung ausdifferenzierten Rechtsrahmens.106 Dieser Rahmen muss in sich berechenbar und stabil sein, es bedarf also auch größtmöglicher Rechtssicherheit. Dabei verfügt gerade die Rechtsdurchsetzung durch Rechtsprechung über eine erhebliche regulatori-sche Kraft, die weit über den betroffenen Einzelfall hinausgeht.107 Das gilt umso mehr, als Gerichtsentscheidungen bürgerliche Werte und Normen ak-tualisieren und kommunizieren;108 die Rechtssubjekte nehmen das Recht mit-hin nicht unbedingt schon im Moment der Gesetzgebung, sondern womöglich erst bei Gelegenheit öffentlicher Rechtsanwendung wahr. Durch diesen Rechtsklärungseffekt kann sich wiederum künftige Rechtsprechung erübri-gen, weil die Rechtsadressaten dann bereits wissen, was sie vom Recht zu er-warten haben.109 Insofern nimmt die staatliche Justiz nicht die einzige, aber doch eine naturgemäß hervorgehobene Funktion bei der Rechtsdurchsetzung ein.110

2. Rechtsökonomische Perspektive

Neben dem rechtspositivistischen gibt es auch einen rechtsökonomischen Blick auf den gesellschaftlichen Wert der Rechtsdurchsetzung. Die Rechtsökonomik betrachtet neben dem Wert von Rechtsfortbildung und Rechtssicherheit111 ins-besondere die Verhaltensanreize, die unterschiedliche Grade der Rechtsdurch-setzung für die Rechtssubjekte setzen.112 Es geht gleichzeitig im Sinne einer

104 Siehe die Nachweise oben in Kap.1 Fn.129.

105 Die Gefahr einer übermäßigen Rechtsdurchsetzung wird häufig mit dem Sprichwort des Fiat iustitia et pereat mundus belegt, auch wenn diese Bedeutung darin ursprünglich nicht angelegt war; vgl. Liebs, JZ 2015, 138ff.

106 Konkret zum Wert der Rechtsfortbildung im Verbraucherrecht Tonner, ZKM 2015, 132. Zum Umfang der Bindung an die Ergebnisse richterlicher Rechtsfortbildung Brehm, in:

FS Schumann, 2001, S.57, 67ff.; Wiedemann, NJW 2014, 2407ff.

107 Podszun, Wirtschaftsordnung durch Zivilgerichte, 2014, S.184.

108 Genn, 24 Yale J. Law & Human. 2012, 397.

109 Höland, ZfRSoz 2009, 23, 35ff. Ein Anderes gälte nur dann, wenn nach dem heute ergehenden Urteil kein ähnlich gelagerter Streitfall mehr aufträte, der gerade wegen des heu-tigen Urteils unbeurteilt bleiben könnte.

110 Hoffmann-Riem, ZRP 1997, 190, 197, formuliert noch vergleichsweise zurückhaltend, wenn er die staatliche Justiz als Orientierung und Sicherheitsnetz bezeichnet.

111 Schmidtchen/Bier, in: Bork/Eger/Schäfer (Hrsg.), Ökonomische Analyse des Verfah-rensrechts, 2009, S.51, 53ff., sprechen von der „Durchsetzung des Sozialvertrages“.

112 Wagner, ZEuP (16) 2008, 6, 8f.

Folgenorientierung113 darum, welches Maß an Rechtsdurchsetzung zum sozial optimalen Verhalten der Marktteilnehmer führt.114

Dabei ist zunächst festzustellen, dass die Rechtsdurchsetzung eine Wirkung für die Vergangenheit und einen Effekt für die Zukunft hat. Für die unmittelbar am Rechtsstreit beteiligten Individuen entfaltet sie Regelwirkung hinsichtlich des Umgangs mit einem Sachverhalt aus der Vergangenheit; gleichzeitig wirkt sie auch in die Zukunft, weil die erstrittene Präzedenz die rechtliche Bewertung zukünftig eintretender Konflikte weitgehend präjudiziert. Was den Nutzen der Rechtsdurchsetzung für die Allgemeinheit anbetrifft, so sorgt jedenfalls eine öffentlich wahrnehmbare Präzedenz innerhalb der Gesellschaft zukünftig für Rechtssicherheit und Vorhersehbarkeit. Sie wirkt aber gleichzeitig auch zeitlich zurück, weil viele Rechtssubjekte ihr Verhalten so steuern werden, dass sie der gegen sie betriebenen Rechtsdurchsetzung entgehen.115

Entscheidend sind dabei allerdings Wahrscheinlichkeit und Maß der Rechts-durchsetzung. Es macht einen Unterschied, ob ein Rechtsadressat damit rech-nen muss, für rechtswidriges Verhalten zur Rechenschaft gezogen zu werden, oder damit rechnen kann, mit großer Wahrscheinlichkeit unbehelligt zu blei-ben. Deswegen werden rational denkende Rechtssubjekte, die keinen morali-schen Bindungen unterliegen und allein ihren Nutzen zu maximieren suchen,116 ihr Verhalten nicht am geltenden, sondern am tatsächlich durchgesetzten Recht ausrichten. Sie antizipieren das Maß der Rechtsdurchsetzung und preisen es in ihre Entscheidungen mit ein. Verursacht ein Rechtssubjekt etwa durch ein be-stimmtes rechtswidriges Marktverhalten bei jedem Vertragspartner einen Scha-den von 100 €, werScha-den die daraus resultierenScha-den SchaScha-densersatzansprüche aber nur in der Hälfte der Fälle durchgesetzt, so verbleiben ihm durchschnittlich 50 €

113 Grundlegend Deckert, Folgenorientierung in der Rechtsanwendung, 1995, passim, weiter Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 2015, S.397ff., und van Aaken, „Rational Choice“ in der Rechtswissenschaft, 2003, S.162ff.

114 Das Recht hat insoweit auch Präventivfunktion, vgl. von Hippel, ZRP 2001, 145, 148.

Zur Zulässigkeit der Verhaltenssteuerung durch Privatrecht Wagner, AcP (206) 2006, 352, 422ff.

115 Vgl. die von Kocher, Funktionen der Rechtsprechung, 2007, S.96, 101, 108, aufgestellte Trias, wonach die Legislative die Konflikte der Zukunft löst, die Exekutive sich mit den Pro-blemen der Gegenwart beschäftigt und der Justiz die Streitigkeiten aus der Vergangenheit zu-gewiesen sind. Die hiesige Betrachtung zeigt, dass die Wirkungen der Rechtsprechung bzw.

allgemeiner der Rechtsdurchsetzung gerade auch in die Zukunft reichen.

116 Die Modellierung des Menschen als eines Nutzenmaximierers geht auf das Modell des homo oeconomicus zurück; dazu statt vieler Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 2015, S.21ff. m.w.N. Im wohlverstandenen Sinne hat es der Nutzenmaximierer nicht allein auf Geld abgesehen. Vielmehr umfasst sein Nutzenspektrum auch diverse nicht-monetäre Elemente, darunter insbesondere auch die Vereinbarkeit mit ethischen Überzeugungen. Beim Versuch einer rechnerischen Näherung ist man aus Praktikabilitätsgründen gleichwohl häu-fig auf die monetäre Ebene zurückgeworfen; die dadurch verursachten Unschärfen nimmt man in Kauf.

Gewinn pro Fall.117 Es kann danach zwar illegal, aber rational vorteilhaft sein, sich rechtsbrüchig zu verhalten, wenn die Anspruchsinhaber ihre Forderungen nicht vollständig durchsetzen.

Diese Rechnung verändert sich etwas, wenn man die Kosten der Rechts-verfolgung mit einbezieht. Anders als etwa in den USA trägt in Europa ganz überwiegend derjenige die Kosten des Rechtsstreits, der die gerichtliche Aus-einandersetzung verliert.118 Löckt also jemand wider den Stachel des Rechts, so muss er damit rechnen, die gesamten Kosten der Rechtsverfolgung zusätzlich zu tragen. Abhängig von der Höhe des Gesamtkostenrisikos119 kann dadurch der Anreiz zum illegalen Verhalten verschwinden, weil die Rechtsverfolgungs-kosten den durch unvollständige Rechtsdurchsetzung entstandenen Gewinn womöglich auffressen.

Das jedoch ist gerade im Kontext zwischen Verbrauchern und Unternehmern nicht der Normalfall. Es ist durchaus möglich, dass dem Unternehmer nach Auskehrung der eingeklagten Forderungen und Abzug der zu ersetzenden Kos-ten des Rechtsstreits noch immer ein Gewinn verbleibt, mithin ein kalkulierter Rechtsbruch weiter attraktiv ist.120 Dies hängt entscheidend von der Frage ab, in welchem Maß die Rechte der Forderungsinhaber durchgesetzt werden und wie hoch die zu erstattenden Rechtsverfolgungskosten ausfallen. Ein Unternehmer wird dann illegales Marktverhalten wählen, wenn er daraus positive Gewinne erwartet, wohingegen die Gesamtgesellschaft ein Interesse daran hat, dass ein Rechtsbruch unrentabel ist, damit der Anreiz zu kalkuliert illegalem Verhalten verschwindet.

So attraktiv die Vorstellung ist, dass illegales Marktverhalten durch den Markt bestraft werden und deswegen wirtschaftlich unattraktiv sein müsste:

In der Praxis klafft in vielen Bereichen eine erhebliche Rechtsdurchsetzungs-lücke, die Unternehmen durch rechtswidriges Verhalten zum eigenen Nutzen unternehmerisch ausnutzen können und zu deren Ausnutzung sie in einem wesentlich auf maximale Gewinnerzielung ausgerichteten maximalen System auch verleitet sind.121 Die Betroffenen ihrerseits reagieren nur schwach auf

die-117 Das Grünbuch KOM(93) 576 endg., S.7 Fn.14a, spricht hier von der „Internalisierung von Kosten, die ohne das Verfahren extern blieben“. Um klassische externe Effekte im Sinne der ökonomischen Theorie handelt es sich dennoch nicht, weil Geschädigter nicht ein Dritter, sondern der Vertragspartner ist.

118 So etwa die deutsche Regelung in §91 ZPO. Demgegenüber sind nach der American Rule die Anwaltskosten grundsätzlich von jeder Partei selbst zu tragen; die Gerichtskosten trägt freilich auch hier üblicherweise die unterlegene Partei; vgl. etwa Rule 54 (d) (1) der US-amerikanischen Federal Rules of Civil Procedure.

119 Nach deutschem Kostenrecht (RVG, GKG) wäre aufgrund der degressiven Kostenstei-gerung bei einem Streitwert von 100 € mit einem Gesamtkostenrisiko in Höhe des gut vierfa-chen Streitwertes zu rechnen; bei einem Streitwert von 1.000 € betrüge das Kostenrisiko nur noch 68 %des Streitwerts, bei einem Streitwert von 10.000 € nur noch 41 %des Streitwerts.

120 Grundmann, in: FS Wulf-Henning Roth, 2015, S.181, 195f.

121 Das stete Gewinnstreben von Unternehmen wurzelt gerade bei Rechtssubjekten mit

ses Verhalten – einerseits infolge ihrer Konfliktscheu,122 andererseits aber auch deswegen, weil förmliche Verfahren Voraussetzungen für die Geltendmachung von Ansprüchen formulieren, die schlicht nicht jeder Anspruchsinhaber erfül-len kann.123 Dabei ist die Rechtsdurchsetzungslücke umso größer, je schwächer der Verbraucher ist – sei es, weil er angesichts der Geringfügigkeit einer Streit-sache den Aufwand der Rechtsdurchsetzung scheut, sei es, weil er das Kalkül seines unternehmerischen Kontrahenten gar nicht erst durchschaut.124

Ohne Frage: Soweit die Mechanismen des Marktes funktionieren, können diese das Maß der Rechtsbefolgung durchaus erhöhen und damit die Rechts-durchsetzungslücke verringern. Verbraucher können Informationen über die Rechtstreue unterschiedlicher Unternehmer austauschen und auf deren Basis ihre Vertragspartner auswählen. Dieser Mechanismus steht und fällt allerdings mit der Qualität und Verfügbarkeit der entsprechenden Informationen. Wäh-rend sich die Anbieter großer internationaler Handelsplattformen im Zweifel unter einer engmaschigen Kontrolle von Behörden und Medien befinden, exis-tiert daneben eine Vielzahl kleiner Unternehmer, die bisweilen ohne öffent-lich verfügbare Anbieter- oder Registerinformationen agieren und so für Ver-braucher schwer zu fassen sind. Und selbst dort, wo sie mit offenem Visier auf-treten, werden sie selten zur Befolgung des materiellen Rechts gezwungen, weil es Verbrauchern an einem Nachweis für den systematischen Rechtsbruch fehlt, weil die Rechtsverstöße reines Marktordnungsrecht ohne verbundene Indivi-dualansprüche für Verbraucher betreffen125 oder weil sich die oben genannten Kontrollinstitutionen aufgrund des geringen Wertes des konkret streitigen Fal-les nicht für die Angelegenheit interessieren. Wenn der Gesetzgeber die dadurch entstehende Rechtsdurchsetzungslücke schließen will, muss er das Maß der in-dividuellen126 oder kollektiven Rechtsdurchsetzung erhöhen oder die Rechts-verfolgungskosten der Unternehmer steigern.

Fremdorganschaft, namentlich der Aktiengesellschaft, in deren Zweckwidmung und ist in-sofern systembedingt; Stürner, ZZP (127) 2014, 271, 320 Fn.238.

122 Siehe oben Kapitel 2 A. II., aber auch noch unten Kapitel 2 C. II. 1.

123 Wagner, VersR 1999, 1441, 1447, spricht im Kontext der prozessualen Durchsetzung außervertraglicher Haftungsansprüche von „Unzulänglichkeiten des heimischen [deutschen]

Zivilprozeßrechts“.

124 Siehe oben Kapitel 2 A. und B.

125 So steht es etwa bei Verstößen gegen die Preisangabenverordnung, die bei Verbrau-chern häufig zu manifesten Nachteilen führen, auf den vereinbarten Preis einer Dienstleis-tung oder eines Produkts aber in der Regel keine Auswirkung haben.

126 von Hippel, Verbraucherschutz, 1986, S.156.

II. Individuelle Bedeutung der Rechtsdurchsetzung

Der Nutzen oder Vorteil, den ein einzelner Forderungsinhaber aus einem Kon-fliktlösungsverfahren zieht, muss nicht allein von der Rechtsdurchsetzung be-stimmt werden. Seine Interessen und Bedürfnisse können daneben auch noch eine Vielzahl anderer Aspekte umfassen, die im Jhering’schen Sinne nicht recht-lich geschützt sind.127 Typische Interessen außerhalb der reinen Rechtsdurch-setzung sind der rasche Abschluss einer Streitigkeit, die Vermeidung einer Es-kalation wie auch des damit verbundenen emotionalen Aufwands und die Ver-meidung unnötiger Konfliktbereinigungskosten. Diese Bedürfnisse sind häufig Ausprägungen der Konfliktscheu des Verbrauchers, der über begrenzte Mittel verfügt, seine Verluste und Risiken minimieren will und vor der Inanspruch-nahme öffentlicher Institutionen für die Lösung des Konflikts zurückweicht.128 Aus diesen Beobachtungen folgt die Frage, in welchem Maße das Interesse des Verbrauchers an der Rechtsdurchsetzung zum eigenen materiellen Vorteil durch andere Bedürfnisse überlagert und verdrängt wird.

1. Rechtsdurchsetzung und rationales Desinteresse

Die bisherige Untersuchung hat gezeigt, dass Verbraucher gerade bei gering-wertigen Streitigkeiten und bei langandauernden Vertragsbeziehungen wenig Interesse an einer Verfolgung ihrer Rechte haben. Die Scheu, Forderungen ak-tiv durchzusetzen und dazu womöglich sogar gerichtliche Hilfe in Anspruch zu nehmen, ist dabei individuell alles andere als unvernünftig. Es lohnt sich für die meisten Verbraucher nicht, Rechtskenntnisse zu erwerben, Verhandlungs-fähigkeiten zu trainieren, sich mit Möglichkeiten gerichtlicher Rechtsdurchset-zung vertraut zu machen oder ihr Privatleben beweissicherer zu organisieren, weil sie zu selten in rechtliche Streitigkeiten geraten, als dass der zu erwartende Ertrag diesen Aufwand rechtfertigen würde. Einen Ersatz gerade für Bagatell-schäden gerichtlich durchzusetzen, kostet die meisten Verbraucher mehr, als es ihnen bringt. Man spricht deswegen vom rationalen Desinteresse129 der Betrof-fenen.130

127 von Jhering, Geist des römischen Rechts, 1954, S.339; vgl. ausführlich Wagner, AcP (193) 1993, 319, 322ff. Die von Kelsen, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, 1960, S.618f., angestoßene Debatte um Für und Wider des Interesses als Kern eines Rechts – dazu ausführ-lich Wagner, AcP (193) 1993, 319, 338ff. m.w.N. – ist für die hier geführte Diskussion ohne Bedeutung, zumal nicht einmal von Jhering selbst einen Fall nannte, in dem das fehlende Interesse zu einem Fortfall des Rechts geführt hätte.

128 Siehe oben Kapitel 2 A. II.

129 Schäfer, in: Basedow et al. (Hrsg.), Die Bündelung gleichgerichteter Interessen im Pro-zeß, 1999, S.67, 68.

130 Ein anschauliches Beispiel gibt Ahrens, WRP 2015, 1040ff., mit einem Hinweis auf eine britische Kollektivkartellschadensersatzklage mit Individualschäden im Bereich von

Wenn ein Rechtsinhaber für sich die Entscheidung trifft, lieber die Hände in den Schoß zu legen, als seine Ansprüche zu verfolgen, so ist dies auch in einem Rechtsstaat grundsätzlich hinzunehmen. Die Jhering’sche Auffassung, wonach die Verteidigung materieller Rechte eine Pflicht nicht nur gegenüber sich selbst, sondern auch gegenüber dem Gemeinwesen ist,131 darf insoweit heute als über-holt gelten.132 Es besteht kein rechtsstaatliches Interesse, Konfliktparteien zu ei-ner rechtsorientierten Lösung ihrer Streitigkeit zu drängen.133 Der Staat zwingt seine Bürger nicht jenseits ihrer privaten Interessen zur „Mitwirkung an der Verwirklichung der Rechtsidee“134. Eine andere Frage ist freilich diejenige nach der Bagatellgrenze, ab der die Rechtsverfolgung für die Betroffenen rational un-interessant wird. Selbst wenn sich der Staat aus der individuellen Entscheidung über die weitere Rechtsverfolgung heraushält, so kann er doch die Rahmenbe-dingungen für die Konfliktbehandlung mehr oder weniger attraktiv gestalten.

In der Rechtswissenschaft wird die Frage nach günstigen Rahmenbedingungen für die Durchsetzung typischer Verbraucherforderungen unter dem Stichwort access to justice behandelt. An dieser Stelle soll die Feststellung genügen, dass man aus der Beobachtung, dass die Konfliktaversion von Verbrauchern nicht unvernünftig ist, nicht schließen darf, dass das Maß dieser Konfliktaversion nicht durch die Gestaltung von Konfliktbehandlungsverfahren beeinflusst wer-den könnte.135

2. Rechtsdurchsetzung und Erhalt der Kundenbeziehung

Neben dem rationalen Desinteresse der Streitparteien kommt weiterhin in tracht, dass deren Interesse am Erhalt einer geschäftlichen Beziehung das Be-dürfnis nach einer Durchsetzung materieller Rechte abschwächen könnte.

Insbesondere bei Verträgen mit erheblichem Wert und langer Bindungs-dauer, die durch Vertreter oder Vermittler zustande kommen, versuchen diese häufig, den Verbraucher über eine gute Kundenbeziehung zum Vertragsschluss zu motivieren und bei auftretenden Problemen seinen Empörungsimpuls136 un-ter Hinweis auf diese Beziehung zu besänftigen. Bisweilen wird sogar die Be-ziehung geradezu benutzt, um vom Gegenüber materielle Zugeständnisse zu 5–20 £, der sich augenscheinlich noch nicht einmal jeder tausendste Anspruchsberechtigte angeschlossen hat.

131 von Jhering, Der Kampf um’s Recht, 1872, S.56.

132 So für den Zivilprozess beklagt von Wolf, NJW 2015, 1656, 1658.

133 Ähnlich Podszun, Wirtschaftsordnung durch Zivilgerichte, 2014, S.179, und Hegen-barth, ZfRSoz 1981, 34, 50f.

134 So aber die Vorstellung von Jhering, Der Kampf um’s Recht, 1872, S.58, der vom pri-vaten Interesse als einem „niedern Motiv“ spricht und verlangt, dass sich der rechtswidrig behandelte Bürger im Interesse der Allgemeinheit wehrt.

135 Siehe dazu noch unten Kapitel 6 B.

136 Diese anschauliche Begrifflichkeit verwendet Rupprecht Podszun. In ähnlicher Weise spricht Lorenz, VersR 2004, 541, 549, von „empörter Rechtsleidenschaft“.

erreichen.137 Allerdings dominiert bei höherwertigen wie auch bei geringwer-tigen Streitigkeiten auf Seiten des Verbrauchers regelmäßig das Interesse, die Beziehung zum Gegenüber zu kappen und möglichst schnell aus der Sache he-rauszukommen.138 Das reduziert den Bedarf nach einer intelligenten Lösung des Konfliktes nach privat verhandelten Regeln139 auf ein Minimum. Dies gilt insbesondere auf standardisierten Verbrauchsgütermärkten, wo Verbraucher aus einer Fülle ähnlicher Anbieter auswählen können und – im Unterschied zu ihrem Gegenüber – keinen Vorteil aus der Fortsetzung einer konflikthaften Vertragsbeziehung ziehen.

Bildlich kann man sich die Verbraucherinteressen wie einen Trichter

Bildlich kann man sich die Verbraucherinteressen wie einen Trichter