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4. Diskussion

4.1 Kohorte und möglicher Einfluss der Genese und der Komorbiditäten

Die vorliegende Studie bietet einen Einblick in die Wirksamkeit eines multimodalen Ansatzes mit medikamentöser und nicht-medikamentöser Therapie bei der Behandlung von primären Kopfschmerzen in einer pädiatrischen Kohorte von 222 Patienten mit einem Durchschnittsalter von 12,5 Jahren (Bereich 5-18) und einer leichten Dominanz des weiblichen Geschlechts (weiblich 55%, männlich 45%). Dies stimmt gut mit Daten der Gesamtbevölkerung überein, welchen zufolge Mädchen ab der Pubertät häufiger von Kopfschmerzen betroffen sind als Jungen5.

Betrachten wir zunächst die Kopfschmerzdiagnosen in der Kohorte. Die vorherrschende Diagnose war die isolierte Migräne (32,9%), gefolgt von isolierten Kopfschmerzen vom Spannungstyp (29,3%), einem gemischten Kopfschmerztyp (22,5%) und mit geringerer Häufigkeit anderen Kopfschmerztypen. Der höhere Anteil an Migränepatienten in unserer Kohorte im Vergleich zur berichteten Prävalenz1 ist vermutlich auf eine Selektionsverzerrung in einer spezialisierten Kopfschmerz-Sprechstunde zurückzuführen. Migränepatienten in unserer Studie litten vor der Intervention am SPZ im Vergleich zu den Patienten mit anderen primären Kopfschmerzformen häufig unter stärkeren Kopfschmerzen auf der numerischen Bewertungsskala. Auch viele andere Studien zeigen, dass eine höhere Schmerzstärke ein sensitiver Parameter für die Migräne ist38-40. Die höhere Schmerzbelastung könnte erklären, weshalb die Behandlung der Patienten mit Migräne in der Kohorte häufiger den Einsatz von Medikamenten erforderte.

Als nächstes soll der Zusammenhang zwischen der verstrichenen Zeitspanne vom Beginn der Kopfschmerz-Symptomatik bis zur ersten Präsentation in der spezialisierten Kopfschmerz-Sprechstunde diskutiert werden. Hier zeigte sich ein statistischer Zusammenhang zwischen einer verlängerten Zeitspanne > 12 Monate und einer stärkeren Kopfschmerzstärke (p < 0,001). Zunächst erscheint es kontraintuitiv, dass Patienten mit stärkeren Kopfschmerzen länger warten, bevor sie sich spezialisierte Hilfe gegen ihre Beschwerden holen. Anders betrachtet könnte es sein, dass ein längeres Zögern der Patienten, sich in der Kopfschmerzsprechstunde vorzustellen, zu einer Progressivität der Beschwerden führt. Dazu passt auch, dass in

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unserer Studie die Patienten mit über 12 Monaten Wartedauer vor erster Präsentation signifikant häufiger schon Medikamente gegen ihre Kopfschmerzen ausprobiert hatten als diejenigen Patienten, die sich bereits im ersten Jahr nach Symptombeginn in der Kopfschmerzsprechstunde vorstellten. Dieselben Patienten wurden bei erster Präsentation am SPZ dann auch häufiger medikamentös (weiter-) behandelt und erhielten bei Betrachtung aller Untersuchungszeitpunkte allgemein häufiger Medikamente. Auch nicht-medikamentöse Begleittherapien kamen bei diesen Patienten signifikant häufiger zum Einsatz. Dies spricht für einen erhöhten Interventionsbedarf bei diesen Patienten und damit für eine stärker ausgeprägte Kopfschmerz-Symptomatik. Zusammenfassend ist es wahrscheinlich, dass viele Patienten zuerst versuchen, ihre Symptome alleine oder mit ihrem Hausarzt zu behandeln, bevor sie sich an eine spezialisierte Kopfschmerzsprechstunde wenden.

Dieser Theorie nach würden manche Patienten nicht vorstellig, solange ihre Kopfschmerzstärke mild und kontrolliert bleibt. Erst wenn die Kopfschmerzstärke ansteigt oder von der ersten Behandlungslinie nicht mehr kontrolliert werden kann, suchen die Patienten Hilfe auf. Die Patienten kämen deshalb mit einer stärker ausgeprägten Symptomatik in die Kopfschmerzsprechstunde, die einer intensiveren Therapie bedarf. Abschließend lässt sich hierzu sagen, dass diese Theorie auch von der Literatur unterstützt wird: Einer Studie zufolge suchen Migränepatienten aller Altersstufen selten medizinische Hilfe auf, weshalb Schätzungen zufolge etwa nur die Hälfte aller Migränepatienten am Ende auch eine Migränediagnose erhalten41.

Wenden wir uns nun den Komorbiditäten in der Kohorte und den damit verbundenen Ergebnissen in der Studie zu. Es ist bekannt, dass kindliche Kopfschmerzen - vor allem Migräne - häufig mit anderen Erkrankungen assoziiert sind42. Spannungs-kopfschmerzen gehen einer Vergleichsstudie zufolge eher mit nichtorganischen, die Migräne eher mit organischen Begleitdiagnosen einher40. Die häufigste Komorbidität in unserer Studie waren Schmerzstörungen. In der Literatur ist eine Beziehung zwischen Schmerzstörungen und dem gehäuften Auftreten einer Migräne bzw.

Spannungskopfschmerzen etabliert43. Kopfschmerzen in der pädiatrischen Bevölkerung sind allgemein stark mit anderen Schmerzsymptomen assoziiert40. In der Untergruppe der Patienten mit Schmerzstörung fanden wir in dieser Studie viele signifikante Zusammenhänge, die auf eine größere Betroffenheit dieser Patienten im Vergleich zu denen ohne Schmerzstörung hinweisen: Sie hatten einen früheren tageszeitlichen Beginn ihrer Schmerzen, mehr Schulfehltage durch ihre

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Kopfschmerzen, erlebten häufiger einen stationären Aufenthalt und hatten vor allen Dingen ein schlechteres Outcome trotz der Behandlung am SPZ. Die Befindlichkeit, Stärke und Dauer der Kopfschmerzen nach Behandlung am SPZ waren schlechter als bei Patienten ohne Schmerzstörung. Die höhere Betroffenheit würde auch erklären, weshalb die Patienten mit Schmerzstörung in unserer Kohorte signifikant häufiger eine medikamentöse Behandlung bei erster Präsentation am SPZ erhielten und signifikant häufiger eine medikamentöse Prophylaxe bezogen. Patienten mit einer Schmerzstörung als Begleiterkrankung scheinen aufgrund ihrer größeren Betroffenheit demnach einer größeren Aufmerksamkeit und intensivierten Therapie zu bedürfen.

Nach der Schmerzstörung waren Asthma und Adipositas die häufigsten Komorbiditäten der Patienten. Auch andere Studien haben eine Beziehung zwischen Asthma und pädiatrischem Kopfschmerz gezeigt44,45. Übergewicht ist ebenfalls in höherem Maße mit Kopfschmerzen assoziiert und die Gewichtsabnahme ein wichtiger Pfeiler der Therapie46,47.

In der hier vorliegenden Studie untersuchten wir auch einen genetischen Einfluss auf die Entstehung primärer Kopfschmerzen bei Kindern und Jugendlichen. Hier zeigte sich ein signifikanter Zusammenhang zwischen dem Vorkommen einer Migräne bei den Patienten und deren mütterlichem Elternteil. Auch bewies sich eine Migränediagnose bei einer diesbezüglich leeren Familienanamnese in der statistischen Testung unwahrscheinlicher. Diese Ergebnisse unterstützen die Bedeutung einer genetischen Komponente in der Entstehung der Migräne. Dies konnte auch in anderen Studien gezeigt werden48,49. Dabei scheint sogar die Kopfschmerzfrequenz der Mutter die Frequenz beim Kind zu beeinflussen50. Das Auftreten von Kopfschmerzen der Mutter vor der Schwangerschaft kann einer 7 Jahre Follow-up Studie zufolge bereits als Indikator für das Auftreten von Kopfschmerzen bei Kindern im Vorschulalter gewertet werden51. Für zahlreiche Unterformen der Migräne konnten inzwischen Polymorphismen identifiziert werden, die zumindest teilweise an der Pathogenese der Erkrankung beteiligt zu sein scheinen52.

Weiterhin wurden die kopfschmerzbegleitenden Symptome der Patienten in der Kohorte vor der Intervention am SPZ untersucht. Für die Begleitsymptome Phonophobie, Photophobie, Übelkeit, Erbrechen, Gesichtsfeldausfälle, Augenflimmern, Röte/Blässe des Gesichts und Muskelverspannungen zeigten sich statistisch relevante Zusammenhänge zur Diagnose einer Migräne im

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Test (p<0,001). In der Literatur ist beschrieben, dass Kinder und Jugendliche im Gegensatz zu Erwachsenen eine größere Vielfalt an Begleitsymptomen bei Migräne bieten53. Zudem ändert sich das Spektrum dieser Symptome mit dem Alter der Patienten. Typischerweise beschreiben gerade Kinder vor der Pubertät ihre Kopfschmerzen weniger akkurat und präsentieren dafür häufiger gastrointestinale Symptome als Jugendliche, deren Symptome eher mit denen erwachsener Patienten übereinstimmen54. Phonophobie, Photophobie und Übelkeit werden als sensitivste dieser Parameter für die Diagnose einer Migräne bei Kindern und Jugendlichen beschrieben39,53. Dies stimmt gut mit unseren Untersuchungsergebnissen überein.

Des Weiteren wurden die geburts- und entwicklungsgeschichtlichen Faktoren in der Kohorte analysiert. Kinder mit Entwicklungsstörung kamen im Vergleich zu jenen ohne diese Begleitdiagnose signifikant häufiger per Sektio zur Welt und erlebten während der Geburt signifikant häufiger Komplikationen. Eine Studie aus dem Jahr 2018 assoziierte eine Geburt per Sektio mit Entwicklungsverzögerungen bei den untersuchten Patienten im Alter von 3-60 Monaten55. Auch in einer weiteren Studie waren von 50 untersuchten Patienten mit Entwicklungsverzögerungen im ersten Lebensjahr 68% per Sektio zur Welt gekommen, was einen signifikanten Zusammenhang im Vergleich zur Kontrollgruppe darstellte56. Der Zusammenhang zwischen Geburtskomplikationen wie z. B. Asphyxie oder Krampfanfällen zum Auftreten von Entwicklungsverzögerungen ist in der Literatur vielfach beschrieben und deckt sich somit gut mit unseren Studienergebnissen57,58.

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