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4. Diskussion

4.2 Bedeutung medikamentöser und nicht-medikamentöser Therapien

Im Folgenden soll in Anlehnung an die Fragestellung diskutiert werden, welchen Einfluss die medikamentöse und nicht-medikamentöse Behandlung in der Akut- und Langzeitbehandlung primärer Kopfschmerzen von Kindern und Jugendlichen hat.

Wenden wir uns zunächst den nicht-medikamentösen Therapien zu. Viele Studien haben den verbessernden Einfluss nicht-medikamentöser Therapien auf die Ausprägung der Kopfschmerzen bei Kindern und Jugendlichen und vor allem ihre wichtige Rolle bei der Vorbeugung derselben gezeigt59. Auch die Beratung zu Schlafhygiene und der adäquaten, altersabhängigen Schlafzeit60 können nachweislich helfen, Kopfschmerzen zu reduzieren34,61. Am SPZ erhielten deshalb alle Patienten eine Beratung zu ihren individuellen Risikofaktoren in Hinsicht auf Trinken, Ernährung und körperliche Aktivität sowie zu möglichen Verhaltensweisen zur Reduktion der Kopfschmerzen. 72,5% aller Patienten erhielten eine nicht-medikamentöse Begleit-therapie, am häufigsten waren dabei physiotherapeutische und psychotherapeutische Verfahren. Auffällig war, dass in unserer Kohorte Mädchen signifikant häufiger eine Psychotherapie erhielten als Jungen. Eine mögliche Erklärung wäre, dass Mädchen eher als Jungen das Angebot einer Psychotherapie wahrnehmen. Bei Erwachsenen in Deutschland verhält es sich so, dass psychisch erkrankte Frauen doppelt so häufig wie Männer bereit dazu sind, Gesundheitsdienstleistungen in Anspruch zu nehmen62. Bei Kindern und Jugendlichen könnte es sich dementsprechend ähnlich verhalten.

Chronische Kopfschmerzen im Kindes- und Jugendalter sind Studien zufolge mit psychischen Komorbiditäten und Suizidgedanken assoziiert63,64, was weitreichende Folgen hat. Laut einer finnischen Studie sind psychische Probleme bei Jungen bereits im Alter unter 8 Jahren ein Prädikator für Suizidalität im Jugend- und frühen Erwachsenenalter65. Eine kanadische Studie zeigte, dass gerade suizidgefährdete Jugendliche jedoch häufig keine psychiatrische Therapie erhielten66. Der Erfolg einer Psychotherapie zur Behandlung von Kopfschmerzen wurde dabei schon 2002 in einem umfangreichen systematischen Review nahe gelegt67. In einer Metaanalyse von 23 Studien aus dem Jahr 2016 wurde festgestellt, dass psychologisch basierte Therapien zu einer Reduktion der Kopfschmerzen in 50% der Patienten68 führen.

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Insgesamt 87,8% der Patienten in dieser Studie erhielten eine medikamentöse Behandlung. Statistisch zeigte sich ein signifikanter Zusammenhang zwischen einer höheren Kopfschmerzstärke vor Erstvorstellung in der Kopfschmerzsprechstunde und einer medikamentösen Therapie vor Erstvorstellung, aber auch bei allgemeiner Betrachtung der 3 Untersuchungszeitpunkte. Stärkere Schmerzen prädisponieren den Patienten demnach für den Einsatz von Medikamenten. Interessanterweise wurden weibliche Patienten signifikant häufiger medikamentös therapiert als Jungen. Als möglicher Erklärungsansatz käme ein Genderbias in Betracht69, der eine höhere Therapiebereitschaft des behandelnden Arztes bzw. der behandelnden Ärztin bei Mädchen als bei Jungen nach sich zöge. Die Gabe von Arzneimitteln nahm bei Vergleich der Anzahl medikamentös therapierter Patienten vor der ersten Präsentation, bei der ersten Präsentation und bei der letzten Präsentation am SPZ deutlich ab. Dies ist höchstwahrscheinlich auf den Behandlungserfolg zurückzuführen.

Interessanterweise war die Anzahl der Patienten, denen bei der ersten Präsentation am SPZ Medikamente verschrieben wurden, signifikant niedriger als vor der ersten Präsentation. Dies impliziert, dass zuvor z. B. vom Hausarzt verschriebene oder von den Eltern bereit gestellte Arzneimittel bei der ersten Konsultation in der Kopfschmerzsprechstunde abgesetzt wurden. In diesen Fällen scheint ein rein nicht-pharmakologischer Ansatz bevorzugt worden zu sein. Eine gründliche Analyse und Empfehlungen zu einflussreichen Lebensstil-Faktoren, gegebenenfalls kombiniert mit alternativen Therapien, könnten als suffiziente Behandlung gewirkt haben. Alternativ kann das Vermeiden von Arzneimitteln auch eine eigenständige Therapieform gewesen sein, nämlich bei denjenigen Kopfschmerzen, die durch einen übermäßigen Gebrauch von Analgetika verursacht werden70. Die Gesamtprävalenz für solche medikamenteninduzierten Kopfschmerzen bei Kindern und Jugendlichen liegt bei 0,3-0.5%71. Bei Patienten mit chronischen Verläufen der Kopfschmerzen im Kindes- und Jugendalter kommt es hingegen in bis zu 20.8% der Fälle durch eine inadäquate medikamentöse Therapie zu einem Medikamentenübergebrauch72.

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Im Folgenden wurden sowohl die Medikamente der Akuttherapie als auch der medikamentösen Prophylaxe analysiert. Bei Betrachtung der durchschnittlichen Dosierungen der am häufigsten verschriebenen Akutmedikamente Ibuprofen, Paracetamol und Metamizol vor und bei der Erstvorstellung in der Kopfschmerzsprechstunde zeigte sich ein Trend zu einer Erhöhung der mittleren Dosierungswerte. Diese Dosiserhöhung war signifikant für das das Medikament Ibuprofen, welches in der Kohorte am häufigsten zum Einsatz kam. Dieses Ergebnis konnte für Paracetamol und Metamizol nicht repliziert werden, wobei diese Arzneimittel auch von deutlich weniger Patienten eingenommen wurden. Die geringere Stichprobenzahl könnte die statistische Aussage verzerrt haben. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass Patienten ihre Medikamente eher unterdosieren, möglicherweise, weil Patienten oder ihre Eltern Angst haben, hohe Dosen zu verabreichen. Dies deckt sich auch mit einer Aussage in der Leitlinie der AWMF zur Akuttherapie der Migräne von Kindern und Jugendlichen, hiernach sei eine „höhere Ibuprofendosierung (…) im praktischen Alltag oft besser wirksam, hierfür liegen jedoch keine Studien vor“26. Eine Studie aus den Niederlanden untersuchte die medikamentöse Behandlung von 223 Migränepatienten unter dem 18. Lebensjahr in der hausärztlichen Versorgung. Die Studie zeigte, dass 41,3% der Patienten in der Studie vom Hausarzt mit Medikamenten behandelt wurden, die nicht in den Guidelines empfohlen waren73. In einer anderen Studie wurde untersucht, wie zuverlässig Eltern die Schmerzstärke ihrer Kinder einschätzen. Dazu wurden 110 Kinder zwischen 7 und 12 Jahren und deren Eltern unabhängig voneinander zu der gefühlten bzw.

geschätzten Schmerzstärke der Kinder im Rahmen kleinerer chirurgischer Eingriffe befragt. Die Ergebnisse der Studie wiesen eine mangelnde Sensitivität der Eltern im Erkennen klinisch relevanter Schmerzen ihrer Kinder auf74. Eine ähnliche Studie untersuchte anhand von Fragebögen die Eigen- und Fremdwahrnehmung der Schmerzen von 68 Kindern mit Spina Bifida und deren Eltern. 88% der Patienten in dieser Studie hatten Kopfschmerzen. Die Studie zeigte, dass Eltern die aktuelle Schmerzstärke ihrer Kinder und deren Schmerzstärke in den letzten 7 Tagen signifikant unterschätzten75. Diese Unterschätzung der Schmerzen durch die Eltern könnte zu einer unzureichenden medikamentösen Behandlung der Kopfschmerzen von Kindern und Jugendlichen führen. Eine bessere Aufklärung der Hausärzte und Eltern in Bezug auf die richtigen Wirkstoffe und Dosierungen könnte demnach zu einer Besserung der Kopfschmerztherapie von Kindern- und Jugendlichen führen.

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Betrachten wir nun die Medikamente der Kopfschmerzprophylaxe. In unserer Studie erhielten 12,8% der Patienten eine medikamentöse Prophylaxe. Es ergaben sich in Bezug auf die Prophylaxe in unserer Studie jedoch keine signifikanten Zusammenhänge. Auch in der Literatur findet man zur Wirksamkeit einer medikamentösen Prophylaxe primärer Kopfschmerzen bei Kindern und Jugendlichen allenfalls widersprüchliche Forschungsergebnisse. In einer kleinen Studie mit nur 39 Patienten konnte kein Unterschied bei der Prophylaxe kindlicher Kopfschmerzen mit Betablockern gegenüber Placebo bewiesen werden76. Auch für den Einsatz von Antiepileptika gibt es in der Literatur widersprüchliche Empfehlungen. Für die Wirksamkeit einer Migräneprophylaxe mit Topiramat gibt es in der Literatur unterstützende Forschungsergebnisse77,78. Auch für Amitryptilin zeigten Studien Ansprechraten über 80 Prozent79,80. Die CHAMP-Studie81, eine randomisiert kontrollierte Studie zur Behandlung von Migräne bei Kindern und Jugendlichen, welche die Wirksamkeit von Topiramat und Amitryptilin beweisen sollte, musste jedoch abgebrochen werden, da im Vergleich zur mit Placebo behandelten Kontrollgruppe mehr Nebenwirkungen auftraten82. Die Behandlung mit Topiramat zeigte auch im Vergleich zum Betablocker Propranolol in einer Studie mit 78 Patienten keine Vorteile83. In einer randomisiert kontrollierten Studie mit 99 Patienten mit dem Antikonvulsivum Pregabalin zeigte sich hingegen eine signifikante Reduktion der Kopfschmerzfrequenz im Vergleich zu Propranolol84. Magnesium führte als Migräneprophylaxe in einer randomisiert kontrollierten Studie zu einem signifikanten Rückgang der Kopfschmerzstärke im Vergleich zu einer Placebo-Kontrollgruppe. Eine signifikante Minderung der Kopfschmerzfrequenz ließ sich in derselben Studie jedoch nicht objektivieren85. In einer Studie, welche die Gabe von Magnesium an 45 Kindern und Jugendlichen mit Spannungskopfschmerzen untersuchte, wurde nach einem Jahr eine Reduktion der Kopfschmerztage um fast 70% beobachtet86, wobei dieses Ergebnis wegen der geringen Stichprobenzahl der Studie kritisch zu betrachten ist.

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Das Outcome unserer Studie wurde anhand der Befindlichkeit der Patienten, der Kopfschmerzstärke, der Kopfschmerzdauer und der Kopfschmerztage pro Monat im Vergleich zum Zustand vor Intervention am SPZ bemessen. Die Befindlichkeit derjenigen Patienten, die einen stationären Aufenthalt in ihrer Anamnese hatten, war im Vergleich zu ausschließlich ambulant behandelten Patienten signifikant schlechter.

Dies dürfte am Ehesten darauf zurückzuführen sein, dass es sich bei diesen Patienten um stärker betroffene Fälle handelte. Diejenigen Patienten, die bei letzter Vorstellung am SPZ noch mehr als 15 Kopfschmerztage pro Monat hatten, berichteten im Vergleich zu den Patienten mit weniger als 15 Kopfschmerztagen im Monat auch von einer signifikant schlechteren Befindlichkeit, einer höheren Stärke und längeren Dauer ihrer Kopfschmerzen. Dieser Untergruppe der Patienten, die ja gewissermaßen die Therapieversager darstellen, sollte besondere Aufmerksamkeit zukommen, da die hohe Anzahl der Kopfschmerztage als diagnostisches und definierendes Kriterium für die Chronifizierung von Kopfschmerzen gilt16. Es ist bekannt, dass unbehandelte Kopfschmerzen des Kindes- und Jugendalters häufig im Erwachsenenalter chronifizieren87.