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3. Ergebnisse

3.8 Kopfschmerztherapie

3.8.1 Nicht-pharmakologische Behandlung

Die Patienten am SPZ wurden sowohl mit als auch ohne Arzneimittel behandelt. Als Intervention werden alle Maßnahmen sowohl medizinischer als auch nicht-medizinischer Natur bezeichnet, welche in der Kopfschmerzsprechstunde am SPZ empfohlen wurden. Im Rahmen der Sprechstunden wurden mit den Patienten die individuellen Lebensstilfaktoren identifiziert, welche die Entstehung und den Erhalt von Kopfschmerzen beeinflussen. Die Patienten wurden hinsichtlich einer Veränderung ihrer Verhaltensweisen beraten. Den Patienten wurden Kopfschmerztagebücher empfohlen, um ihre Schmerzstärke und Kopfschmerzfrequenz zu objektivieren und die Bewusstseinsbildung und Auseinandersetzung mit den Beschwerden anzuregen.

Zusätzlich wurde eine breite Palette nicht-medikamentöser Therapien entsprechend den spezifischen Bedürfnissen der Patienten verordnet, die im Folgenden auch als Begleittherapien bezeichnet werden (Abbildung 6). Insgesamt erhielten 161 Patienten (72,5% [n = 161/222]) eine oder mehrere nicht-medikamentöse Begleittherapien.

Dabei kann eine solche Begleittherapie in einem ganzheitlichen Konzept vorrangig für die Behandlung von Nebendiagnosen oder anderen begleitenden somatischen oder psychischen Beschwerden angewandt worden sein. Dies betrifft beispielsweise die Ergotherapie, die nicht als First-Line-Behandlung bei Kopfschmerzen zum Einsatz kommt, jedoch z. B. bei einer begleitenden Entwicklungsstörung eine sinnvolle Therapie darstellt.

Abbildung 6: Nicht-medikamentöse Begleittherapien: Darstellung der absoluten Häufigkeiten der jeweils mit einer nicht-medikamentösen Begleittherapie behandelten Patienten (n=222). Patienten konnten mehrere Therapien gleichzeitig erhalten.

0 50 100

150 Familientherapie

PMR Ergotherapie Psychotherapie Physio/Manuelle Therapie

Patientenzahl 103

47 44 0,9

58

26

Von allen Patienten erhielten 46,4% (n = 103/222) eine physikalische oder manuelle Begleittherapie, 21,2% (n = 47/222) eine Ergotherapie und 19,8% (n = 44/222) eine PMR. 26,1% aller Patienten (n = 58/222) nahmen an einer psychologischen Gesprächstherapie und 0,9% aller Patienten (n = 2/222) an einer Familientherapie teil.

Mädchen erhielten häufiger eine Psychotherapie als Jungen (32% [n = 39/122] vs.

19,0% [n = 19/100]; (1) = 4,788; p = 0,029). Insgesamt erhielten 72,5% aller Patienten (n = 161/222) eine der oben beschriebenen nicht-medikamentösen Begleittherapien.

Nur 27,5% der Patienten (n = 61/222) wurden ohne eine Begleittherapie behandelt.

Bezüglich des Outcomes zeigte sich in der statistischen Testung kein signifikanter Vorteil einer nicht-medikamentösen Begleittherapie. Weder die Befindlichkeit der Patienten (69,6% [n = 80/115] vs. 69,0% [n = 29/42]; (1) = 0,004; p = 0,950), die Stärke (60,0% [n = 47/84] vs. 54,8% [n = 17/31]; (1) = 0,011; p = 0,915) oder die Dauer (44,4% [n = 28/63] vs. 61,5% [n = 16/26]; (1) = 2,151; p = 0,142) waren bei letzter Vorstellung am SPZ nach Anwendung einer Begleittherapie signifikant besser als bei den Patienten ohne Begleittherapie.

Auffällig war, dass Patienten, die sich erst nach über einem Jahr in der Kopfschmerzsprechstunde vorstellten, häufiger auch eine Begleittherapie erhielten (77,8% [n = 105/135] vs. 64,4% [n = 47/73]; (1) = 4,320; p = 0,038).

Bei 95 Patienten (45,7% [n = 95/222]) war in der Akte mindestens ein stationärer Aufenthalt wegen der Kopfschmerzen im Krankheitsverlauf verzeichnet, 91,6% [n = 87/95]) waren dabei in der Pädiatrie, 9,5% [n = 9/95]) in der Kinder- und Jugendpsychiatrie und 2,1% [n = 2/95]) in einer psychosomatischen Einrichtung.

Patienten mit einem stationären Aufenthalt in der Anamnese wiesen im Vergleich zu rein ambulant behandelten Patienten nach der Therapie am SPZ häufiger ein Gleichbleiben oder eine Verschlechterung ihrer Befindlichkeit auf (42,6% [n = 29/68]

vs. 19,2% [n = 15/78]; (1) = 9,461; p = 0,002). Die Dauer (52,5% [n = 21/40] vs.

48,8% [n = 21/43]; (1) = 0,111; p = 0,739) und Stärke (52,0% [n = 26/50] vs. 38,6%

[n = 22/57]; (1) = 1,935; p = 0,164) der Kopfschmerzen bei diesen Patienten waren jedoch in der statistischen Analyse nicht signifikant verschlechtert.

27 3.8.2 Pharmakologische Behandlung

Zur Beurteilung der Art(en) der Medikamente und der Dosierungen im zeitlichen Verlauf wurde die pharmakologische Behandlung zu drei Zeitpunkten aufgezeichnet:

Vor der ersten Präsentation am SPZ, bei der ersten Präsentation am SPZ und bei der letzten Präsentation am SPZ.

Die Mehrheit der Patienten (87,8% [n = 195/222]) versuchte zu einem dieser drei Zeitpunkte einen pharmakologischen Ansatz. 77,9% der Patienten (n = 173/222) hatten bereits vor der Erstvorstellung in der Kopfschmerz-Sprechstunde selbstständig Medikamente gegen die Kopfschmerzen ausprobiert oder diese von ihren Eltern oder ihrem Hausarzt erhalten. Anlässlich der Erstvorstellung in der Kopfschmerz-Sprechstunde wurde die vorherige Medikation häufig angepasst oder abgesetzt. Hier erhielten 50,9% der Patienten (n = 113/222) eine Empfehlung zur medikamentösen Behandlung. Zum Zeitpunkt der letzten Vorstellung nahmen nur noch 36,0% der Patienten (n = 80/222) Medikamente ein. Betrachtet man die Entwicklung über alle 3 Zeitpunkte, so fällt auf, dass die Anzahl der medikamentös therapierten Patienten im Verlauf der Behandlung statistisch signifikant abnahm (Abbildung 7) (Cochran-Q-Test (Q (2) = 88,331; p < 0,001).

Abbildung 7: Häufigkeit der pharmakologisch behandelten Patienten vor der ersten Präsentation (77,9% [n = 173/222]), bei der ersten Präsentation (50,9% [n = 113/222]) und bei der letzten Präsentation (36,0% [n = 80/222]) in der Kopfschmerzsprechstunde. Die Anzahl der Patienten nahm mit der Zeit signifikant ab (p < 0,001, Cochran-Q-Test).

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Eine Subgruppenanalyse zwischen den drei beobachteten Gruppen bestätigte die Signifikanz dieser Unterschiede im McNemar-Test. Vor der ersten Präsentation am SPZ war die Anzahl der medikamentös therapierten Patienten signifikant höher als bei der ersten Präsentation ( = 37,032; p < 0,001). Die Anzahl der bei Erstvorstellung medikamentös behandelten Patienten wiederum war signifikant höher als die der Patienten bei letzter Präsentation ( = 12,047; p = 0,001). Die Anzahl der Patienten;

die vor der Erstvorstellung bereits Medikamente genommen hatten war im Vergleich zur Anzahl der Patienten bei letzter Vorstellung ebenfalls signifikant höher ( = 68,813; p < 0,001).

Es wurde ein statistisch signifikanter Zusammenhang zwischen dem Geschlecht der Patienten und der Gabe einer medikamentösen Therapie beobachtet. Weibliche Patienten erhielten demnach häufiger eine medikamentöse Therapie als männliche Patienten (92,6% [n = 113/122] vs. 82,0% [n = 82/100]; (1) = 5,805; p = 0.016).

Wir betrachteten weiterhin die verschiedenen Wirkstoffe, welche von den Patienten am SPZ gegen ihre Kopfschmerzen ausprobiert/eingenommen wurden. Für Patienten, die eine pharmakologische Therapie erhielten (87,8 % [n = 195/222]), konnten im Durchschnitt 1,9 verschiedene Wirkstoffe erfasst werden (Abbildung 8).

Abbildung 8: Anzahl der ausprobierten Wirkstoffe (87,8 % [n = 195/222]): Die Abbildung zeigt die Anzahl an Wirkstoffen, die von den Patienten der Kohorte gegen ihre Kopfschmerzen insgesamt ausprobiert/eingenommen wurden. Darstellung in absoluten Häufigkeiten; Min. 1; Max. 5; Mittelwert 1,9; Median 2; SD 0,9.

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Verschiedene Wirkstoffklassen kamen in der Kohorte zum Einsatz (Abbildung 9).

Es gilt hierbei, die Medikamente der Akuttherapie von jenen Medikamenten zu unterscheiden, welche der Prophylaxe dienen und das Auftreten von Kopfschmerzanfällen verhindern bzw. deren Häufigkeit reduzieren sollen.

Am häufigsten verwendet wurden die Akutmedikamente Ibuprofen (91,3% [n = 178/195]), Metamizol (20,5% [n = 40/195] und Paracetamol (50,8% [n = 99/195]).

Seltener eingenommene Medikamente zur Akutbehandlung von Kopfschmerzen waren Acetylsalicylsäure (3,6%; [n = 7/195]), Triptane (12,8% [n = 25/195]) und Morphinderivate (1,0% [n = 2/195]). 12,8% (n = 25/195) aller medikamentös behandelten Patienten erhielten eine medikamentöse Prophylaxe. Diese erfolgte mit Betablockern (28% [n = 7/25]), Antikonvulsiva (40,0% [n = 10/25]), Magnesium (28,0%

[n =7/25]) und/oder Amitriptylin (8,0% [n = 2/25]).

Abbildung 9: Häufigkeit der verwendeten Wirkstoffe der Patienten in der Akuttherapie und Prophylaxe für die Zeit vor der Erstvorstellung, bei Erstvorstellung und bei letzter Vorstellung in der Kopfschmerzsprechstunde.

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Die Dosierungen aller Wirkstoffklassen wurden zu den drei Untersuchungszeitpunkten erhoben. Da in der Kinderheilkunde eine gewichtsbezogene Dosierung erfolgt, ist die Angabe einer absoluten Dosis allein nicht aussagekräftig, sondern das Delta zwischen mehreren Beobachtungszeitpunkten. Bei variablen Mengenangeben eines Wirkstoffes wurde nur der größere Wert in den Erfassungsbogen übernommen, um die Rechnung mit einem Einzelwert zu ermöglichen.

Beim Vergleich der in der Zeit vor der ersten Präsentation mit den bei der ersten Präsentation in der Kopfschmerzsprechstunde verordneten Dosierungen der jeweiligen Wirkstoffe stieg die durchschnittliche Dosierung der häufigsten Medikamente Ibuprofen, Paracetamol und Metamizol an (Tabelle 4). Während die Dosierungen von Metamizol und Paracetamol im parametrischen Test konstant blieben, zeigte Ibuprofen einen signifikanten Anstieg von einer mittleren Dosierung von 416,5 mg/Tag (Median 400mg) um 15% auf 479,8 mg/Tag (Median 600mg). Im Wilcoxon-Test zeigte sich ein signifikanter Unterschied zwischen den Dosierungen (T = 499; z = -4,013; p < 0,001).

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3.9 Therapieerfolg

Der Erfolg der Therapie am SPZ wurde anhand des Verlaufs der Erkrankung im Behandlungszeitraum bemessen. Zu deren Beurteilung wurde der klinische Zustand der Patienten zum letzten Vorstellungstermin am SPZ aus den Akten erhoben. Der Outcome der Studie entspricht der Veränderung des klinischen Zustands durch die Intervention am SPZ und wurde zum letzten Vorstellungszeitpunkt bestimmt.

Die folgenden Outcome-Parameter wurden festgelegt:

1. Die Befindlichkeit des Patienten bei letzter Vorstellung am SPZ 2. Die Kopfschmerz-Dauer bei letzter Vorstellung am SPZ

3. Die Kopfschmerz-Stärke (nach NRS) bei letzter Vorstellung am SPZ

4. Die Anzahl der Kopfschmerztage pro Monat bei letzter Vorstellung am SPZ

Insgesamt wurden zu 157 Patienten (70,7% [n = 157/222]) Informationen über die Verbesserung bzw. Verschlechterung ihrer Befindlichkeit durch die Kopfschmerz-Therapie am SPZ in den Akten gefunden. 109 Patienten (69,4% [n = 109/157]) gaben bei letzter Vorstellung am SPZ eine Verbesserung ihrer Befindlichkeit an, für 48 Patienten (30,6% [n = 48/157]) besserte sich die Befindlichkeit mit den Schmerzen jedoch nicht oder wurde sogar schlechter.

Zu 115 Patienten (51,8% [n = 115/222]) fanden sich Angaben über die Kopfschmerzstärke zum Zeitpunkt der letzten Vorstellung am SPZ. 64 Patienten (55,7% [n = 64/115] berichteten bei letzter Vorstellung am SPZ von einer Abnahme ihrer Kopfschmerzstärke durch die Behandlung in der Kopfschmerzsprechstunde. 51 Patienten (44,3% [n = 51/115]) erlebten dagegen ein Gleichbleiben bzw. eine Zunahme der Kopfschmerzstärke.

Bei der Untersuchung der Dauer der Kopfschmerzen fanden sich Angaben von 89 Patienten (40,1% [n = 89/222]) in den Akten. Für 44 Patienten (49,4% [n = 44/89]) hatte sich die Dauer der Kopfschmerzen verkürzt, für 45 Patienten (50,6% [n = 45/89]) blieb die Dauer jedoch gleich oder nahm zu.

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Einen Überblick über die Befindlichkeit, die Kopfschmerzstärke und die Kopfschmerz- Stärke im Verlauf der Behandlung am SPZ verschafft Abbildung 10 zum Therapie-Outcome.

Abbildung 10: Outcome: Absolute Häufigkeiten für die Verbesserung und Verschlechterung der Dauer der Kopfschmerzen (40,1% [n = 89/222]), der Stärke der Kopfschmerzen (51,8% [n = 115/222]) und der Befindlichkeit der Patienten (70,7%

[n = 157/222]) im Untersuchungszeitraum. Die Veränderung der Parameter ergibt sich aus dem Vergleich des berichteten Zustands vor Intervention am SPZ mit dem Zustand bei letzter Präsentation am SPZ.

Schlussendlich wurde auch die Kopfschmerzfrequenz in den letzten 6 Monaten vor Therapie am SPZ mit der Anzahl der Kopfschmerztage in den letzten 6 Monaten vor der letzten Vorstellung am SPZ verglichen. Die Anzahl der Kopfschmerztage pro Halbjahr wurde auf die Kopfschmerzfrequenz pro Monat heruntergerechnet. Da manche Patienten an weniger als einem Tag pro Monat in den letzten 6 Monaten Kopfschmerzen hatten, z. B. nur einmal im Quartal, ergaben sich deshalb teils auch Werte < 1 Kopfschmerztag/Monat.

Die Anzahl der Kopfschmerztage pro Monat vor der Therapie am SPZ konnte von 93,2% (n = 207/222) und nach Therapie von 48,6% (n = 108/222) der Grundgesamtheit erhoben werden. Der Mittelwert pro Monat verringerte sich signifikant von 13 Tagen (Mittelwert 13; Median 8,7; SD 10,7; Min 0,3; Max 30,42) um 46,7% auf 7 Tage (Mittelwert 7; Median 3; SD 9,7; Min. 0; Max 30,42) im WilcoxonTest (T = 548,5; z = -5,868; p < 0,001).

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Die Patienten wurden in Anlehnung an die ICD-10 Klassifikation in verschiedene Untergruppen unterteilt: Man grenzt sowohl bei Spannungskopfschmerzen als auch bei Migräne eine chronische Verlaufsform von einer nicht-chronischen Verlaufsform anhand der Kopfschmerztage pro Monat ab16. Um von einem chronischen Verlauf sprechen zu können, müssen die Kopfschmerzen an mindestens 15 Tagen im Monat auftreten. Entsprechend dieses Klassifikationskriteriums wurden die Patienten in zwei Gruppen unterteilt. Patienten mit einer Kopfschmerzfrequenz von mindestens 15 Tagen pro Monat vor Erstvorstellung (47,3% [n = 105/222]) hatten bei letzter Vorstellung am SPZ ein schlechteres Outcome ihrer Kopfschmerz-Stärke (76,5% (n = 13/17 vs. 30,9% (n = 21/68); p = 0,001; Fisher-exakt Test), ihrer Kopfschmerz-Dauer (100% [n = 16/16] vs. 32,1% [n = 17/53]; p < 0,001; Fisher-exakt Test) und ihrer subjektiv wahrgenommenen Befindlichkeit (14,8% [n = 13/88] vs. 88,2% [n = 15/17]; p

< 0,001; Fisher-exakt Test).

In 20,3% der Patientenakten (n = 45/222) wurden Angaben zum Behandlungsende im Jahr 2017 gemacht. Davon gaben 28,9% (n = 13/45) an, die Behandlung auf eigenen Wunsch beendet zu haben. 37,8% (n = 17/45) brachen die Behandlung ab. Bei 33,3%

(n = 15/45) gab es hingegen keinen Bedarf für eine weitere Behandlung.

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4. Diskussion

4.1 Kohorte und möglicher Einfluss der Genese und der Komorbiditäten auf die Behandlung primärer Kopfschmerzen

Die vorliegende Studie bietet einen Einblick in die Wirksamkeit eines multimodalen Ansatzes mit medikamentöser und nicht-medikamentöser Therapie bei der Behandlung von primären Kopfschmerzen in einer pädiatrischen Kohorte von 222 Patienten mit einem Durchschnittsalter von 12,5 Jahren (Bereich 5-18) und einer leichten Dominanz des weiblichen Geschlechts (weiblich 55%, männlich 45%). Dies stimmt gut mit Daten der Gesamtbevölkerung überein, welchen zufolge Mädchen ab der Pubertät häufiger von Kopfschmerzen betroffen sind als Jungen5.

Betrachten wir zunächst die Kopfschmerzdiagnosen in der Kohorte. Die vorherrschende Diagnose war die isolierte Migräne (32,9%), gefolgt von isolierten Kopfschmerzen vom Spannungstyp (29,3%), einem gemischten Kopfschmerztyp (22,5%) und mit geringerer Häufigkeit anderen Kopfschmerztypen. Der höhere Anteil an Migränepatienten in unserer Kohorte im Vergleich zur berichteten Prävalenz1 ist vermutlich auf eine Selektionsverzerrung in einer spezialisierten Kopfschmerz-Sprechstunde zurückzuführen. Migränepatienten in unserer Studie litten vor der Intervention am SPZ im Vergleich zu den Patienten mit anderen primären Kopfschmerzformen häufig unter stärkeren Kopfschmerzen auf der numerischen Bewertungsskala. Auch viele andere Studien zeigen, dass eine höhere Schmerzstärke ein sensitiver Parameter für die Migräne ist38-40. Die höhere Schmerzbelastung könnte erklären, weshalb die Behandlung der Patienten mit Migräne in der Kohorte häufiger den Einsatz von Medikamenten erforderte.

Als nächstes soll der Zusammenhang zwischen der verstrichenen Zeitspanne vom Beginn der Kopfschmerz-Symptomatik bis zur ersten Präsentation in der spezialisierten Kopfschmerz-Sprechstunde diskutiert werden. Hier zeigte sich ein statistischer Zusammenhang zwischen einer verlängerten Zeitspanne > 12 Monate und einer stärkeren Kopfschmerzstärke (p < 0,001). Zunächst erscheint es kontraintuitiv, dass Patienten mit stärkeren Kopfschmerzen länger warten, bevor sie sich spezialisierte Hilfe gegen ihre Beschwerden holen. Anders betrachtet könnte es sein, dass ein längeres Zögern der Patienten, sich in der Kopfschmerzsprechstunde vorzustellen, zu einer Progressivität der Beschwerden führt. Dazu passt auch, dass in

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unserer Studie die Patienten mit über 12 Monaten Wartedauer vor erster Präsentation signifikant häufiger schon Medikamente gegen ihre Kopfschmerzen ausprobiert hatten als diejenigen Patienten, die sich bereits im ersten Jahr nach Symptombeginn in der Kopfschmerzsprechstunde vorstellten. Dieselben Patienten wurden bei erster Präsentation am SPZ dann auch häufiger medikamentös (weiter-) behandelt und erhielten bei Betrachtung aller Untersuchungszeitpunkte allgemein häufiger Medikamente. Auch nicht-medikamentöse Begleittherapien kamen bei diesen Patienten signifikant häufiger zum Einsatz. Dies spricht für einen erhöhten Interventionsbedarf bei diesen Patienten und damit für eine stärker ausgeprägte Kopfschmerz-Symptomatik. Zusammenfassend ist es wahrscheinlich, dass viele Patienten zuerst versuchen, ihre Symptome alleine oder mit ihrem Hausarzt zu behandeln, bevor sie sich an eine spezialisierte Kopfschmerzsprechstunde wenden.

Dieser Theorie nach würden manche Patienten nicht vorstellig, solange ihre Kopfschmerzstärke mild und kontrolliert bleibt. Erst wenn die Kopfschmerzstärke ansteigt oder von der ersten Behandlungslinie nicht mehr kontrolliert werden kann, suchen die Patienten Hilfe auf. Die Patienten kämen deshalb mit einer stärker ausgeprägten Symptomatik in die Kopfschmerzsprechstunde, die einer intensiveren Therapie bedarf. Abschließend lässt sich hierzu sagen, dass diese Theorie auch von der Literatur unterstützt wird: Einer Studie zufolge suchen Migränepatienten aller Altersstufen selten medizinische Hilfe auf, weshalb Schätzungen zufolge etwa nur die Hälfte aller Migränepatienten am Ende auch eine Migränediagnose erhalten41.

Wenden wir uns nun den Komorbiditäten in der Kohorte und den damit verbundenen Ergebnissen in der Studie zu. Es ist bekannt, dass kindliche Kopfschmerzen - vor allem Migräne - häufig mit anderen Erkrankungen assoziiert sind42. Spannungs-kopfschmerzen gehen einer Vergleichsstudie zufolge eher mit nichtorganischen, die Migräne eher mit organischen Begleitdiagnosen einher40. Die häufigste Komorbidität in unserer Studie waren Schmerzstörungen. In der Literatur ist eine Beziehung zwischen Schmerzstörungen und dem gehäuften Auftreten einer Migräne bzw.

Spannungskopfschmerzen etabliert43. Kopfschmerzen in der pädiatrischen Bevölkerung sind allgemein stark mit anderen Schmerzsymptomen assoziiert40. In der Untergruppe der Patienten mit Schmerzstörung fanden wir in dieser Studie viele signifikante Zusammenhänge, die auf eine größere Betroffenheit dieser Patienten im Vergleich zu denen ohne Schmerzstörung hinweisen: Sie hatten einen früheren tageszeitlichen Beginn ihrer Schmerzen, mehr Schulfehltage durch ihre

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Kopfschmerzen, erlebten häufiger einen stationären Aufenthalt und hatten vor allen Dingen ein schlechteres Outcome trotz der Behandlung am SPZ. Die Befindlichkeit, Stärke und Dauer der Kopfschmerzen nach Behandlung am SPZ waren schlechter als bei Patienten ohne Schmerzstörung. Die höhere Betroffenheit würde auch erklären, weshalb die Patienten mit Schmerzstörung in unserer Kohorte signifikant häufiger eine medikamentöse Behandlung bei erster Präsentation am SPZ erhielten und signifikant häufiger eine medikamentöse Prophylaxe bezogen. Patienten mit einer Schmerzstörung als Begleiterkrankung scheinen aufgrund ihrer größeren Betroffenheit demnach einer größeren Aufmerksamkeit und intensivierten Therapie zu bedürfen.

Nach der Schmerzstörung waren Asthma und Adipositas die häufigsten Komorbiditäten der Patienten. Auch andere Studien haben eine Beziehung zwischen Asthma und pädiatrischem Kopfschmerz gezeigt44,45. Übergewicht ist ebenfalls in höherem Maße mit Kopfschmerzen assoziiert und die Gewichtsabnahme ein wichtiger Pfeiler der Therapie46,47.

In der hier vorliegenden Studie untersuchten wir auch einen genetischen Einfluss auf die Entstehung primärer Kopfschmerzen bei Kindern und Jugendlichen. Hier zeigte sich ein signifikanter Zusammenhang zwischen dem Vorkommen einer Migräne bei den Patienten und deren mütterlichem Elternteil. Auch bewies sich eine Migränediagnose bei einer diesbezüglich leeren Familienanamnese in der statistischen Testung unwahrscheinlicher. Diese Ergebnisse unterstützen die Bedeutung einer genetischen Komponente in der Entstehung der Migräne. Dies konnte auch in anderen Studien gezeigt werden48,49. Dabei scheint sogar die Kopfschmerzfrequenz der Mutter die Frequenz beim Kind zu beeinflussen50. Das Auftreten von Kopfschmerzen der Mutter vor der Schwangerschaft kann einer 7 Jahre Follow-up Studie zufolge bereits als Indikator für das Auftreten von Kopfschmerzen bei Kindern im Vorschulalter gewertet werden51. Für zahlreiche Unterformen der Migräne konnten inzwischen Polymorphismen identifiziert werden, die zumindest teilweise an der Pathogenese der Erkrankung beteiligt zu sein scheinen52.

Weiterhin wurden die kopfschmerzbegleitenden Symptome der Patienten in der Kohorte vor der Intervention am SPZ untersucht. Für die Begleitsymptome Phonophobie, Photophobie, Übelkeit, Erbrechen, Gesichtsfeldausfälle, Augenflimmern, Röte/Blässe des Gesichts und Muskelverspannungen zeigten sich statistisch relevante Zusammenhänge zur Diagnose einer Migräne im

Chi-Quadrat-37

Test (p<0,001). In der Literatur ist beschrieben, dass Kinder und Jugendliche im Gegensatz zu Erwachsenen eine größere Vielfalt an Begleitsymptomen bei Migräne bieten53. Zudem ändert sich das Spektrum dieser Symptome mit dem Alter der Patienten. Typischerweise beschreiben gerade Kinder vor der Pubertät ihre Kopfschmerzen weniger akkurat und präsentieren dafür häufiger gastrointestinale Symptome als Jugendliche, deren Symptome eher mit denen erwachsener Patienten übereinstimmen54. Phonophobie, Photophobie und Übelkeit werden als sensitivste dieser Parameter für die Diagnose einer Migräne bei Kindern und Jugendlichen beschrieben39,53. Dies stimmt gut mit unseren Untersuchungsergebnissen überein.

Des Weiteren wurden die geburts- und entwicklungsgeschichtlichen Faktoren in der Kohorte analysiert. Kinder mit Entwicklungsstörung kamen im Vergleich zu jenen ohne diese Begleitdiagnose signifikant häufiger per Sektio zur Welt und erlebten während der Geburt signifikant häufiger Komplikationen. Eine Studie aus dem Jahr 2018 assoziierte eine Geburt per Sektio mit Entwicklungsverzögerungen bei den untersuchten Patienten im Alter von 3-60 Monaten55. Auch in einer weiteren Studie waren von 50 untersuchten Patienten mit Entwicklungsverzögerungen im ersten Lebensjahr 68% per Sektio zur Welt gekommen, was einen signifikanten Zusammenhang im Vergleich zur Kontrollgruppe darstellte56. Der Zusammenhang zwischen Geburtskomplikationen wie z. B. Asphyxie oder Krampfanfällen zum Auftreten von Entwicklungsverzögerungen ist in der Literatur vielfach beschrieben und deckt sich somit gut mit unseren Studienergebnissen57,58.

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4.2 Bedeutung medikamentöser und nicht-medikamentöser Therapien

Im Folgenden soll in Anlehnung an die Fragestellung diskutiert werden, welchen Einfluss die medikamentöse und nicht-medikamentöse Behandlung in der Akut- und Langzeitbehandlung primärer Kopfschmerzen von Kindern und Jugendlichen hat.

Wenden wir uns zunächst den nicht-medikamentösen Therapien zu. Viele Studien haben den verbessernden Einfluss nicht-medikamentöser Therapien auf die Ausprägung der Kopfschmerzen bei Kindern und Jugendlichen und vor allem ihre wichtige Rolle bei der Vorbeugung derselben gezeigt59. Auch die Beratung zu Schlafhygiene und der adäquaten, altersabhängigen Schlafzeit60 können nachweislich helfen, Kopfschmerzen zu reduzieren34,61. Am SPZ erhielten deshalb alle Patienten eine Beratung zu ihren individuellen Risikofaktoren in Hinsicht auf Trinken, Ernährung und körperliche Aktivität sowie zu möglichen Verhaltensweisen zur Reduktion der Kopfschmerzen. 72,5% aller Patienten erhielten eine nicht-medikamentöse Begleit-therapie, am häufigsten waren dabei physiotherapeutische und psychotherapeutische Verfahren. Auffällig war, dass in unserer Kohorte Mädchen signifikant häufiger eine Psychotherapie erhielten als Jungen. Eine mögliche Erklärung wäre, dass Mädchen eher als Jungen das Angebot einer Psychotherapie wahrnehmen. Bei Erwachsenen in Deutschland verhält es sich so, dass psychisch erkrankte Frauen doppelt so häufig wie Männer bereit dazu sind, Gesundheitsdienstleistungen in Anspruch zu nehmen62. Bei Kindern und Jugendlichen könnte es sich dementsprechend ähnlich verhalten.

Chronische Kopfschmerzen im Kindes- und Jugendalter sind Studien zufolge mit psychischen Komorbiditäten und Suizidgedanken assoziiert63,64, was weitreichende Folgen hat. Laut einer finnischen Studie sind psychische Probleme bei Jungen bereits im Alter unter 8 Jahren ein Prädikator für Suizidalität im Jugend- und frühen Erwachsenenalter65. Eine kanadische Studie zeigte, dass gerade suizidgefährdete

Chronische Kopfschmerzen im Kindes- und Jugendalter sind Studien zufolge mit psychischen Komorbiditäten und Suizidgedanken assoziiert63,64, was weitreichende Folgen hat. Laut einer finnischen Studie sind psychische Probleme bei Jungen bereits im Alter unter 8 Jahren ein Prädikator für Suizidalität im Jugend- und frühen Erwachsenenalter65. Eine kanadische Studie zeigte, dass gerade suizidgefährdete