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Der Versuch, Wertvorstellungen und Tugenden zu untersuchen, die für den mero-wingischen Mann und dessen Wertschätzung innerhalb der eigenen Gesellschaft ausschlaggebend gewesen sein dürften, kann nur mit Hilfe der von Geistlichen verfassten Textquellen erfolgen. Die für dieses Thema ergiebigsten Quellengat-tungen sind die Historiographie und Hagiographie. Eine für die Untersuchung solcher Wertvorstellungen anhand klerikaler Quellen vielversprechende Herange-hensweise ist die semantische Analyse von Begriffen und Konzeptionen, die direkt der Welt des Militärischen verhaftet waren. Indem jeder Text geschrieben wird, um von seinem anvisierten Publikum verstanden zu werden, tendiert jeder Autor dazu, auf eine Begrifflichkeit zurückzugreifen, die von diesen Zeitgenossen ver-wendet wird. Worte spiegeln damit auch immer zeitgenössische Wahrnehmungen und Wertungen wider. Für die vorliegende Untersuchung bedeutet dies, dass selbst dort, wo ein Autor versuchte, eine dezidiert christliche Vision des zeitgenössischen Militärs zu entwerfen – wie dies nachweislich bei Gregor von Tours der Fall war – dieser immer auch auf zeitgenössische Grundvoraussetzungen, Terminologien und Konzepte zurückgreifen musste, die nicht den propagierten Wertvorstellungen entsprachen. Diese Begriffe und die in ihrer Bedeutung vorausgesetzten Selbstver-ständlichkeiten liefern dem Historiker potentiell authentische Informationen über die dahinter stehenden zeitgenössischen Konzeptionen. Im Folgenden möchte ich mich darum einigen Kernbegriffen mit Bezug auf militärische Wertvorstellungen und die Identität kriegerisch aktiver Männer zuwenden, um diese auf ihre Aussa-gefähigkeit hinsichtlich der zeitgenössischen Wahrnehmung zu untersuchen.

Merowingische Quellen, die einen Krieger besonders positiv darstellen, cha-rakterisieren diesen entweder mit Adjektiven wie fortis oder fortissimus23 oder sie bescheinigen ihm Eigenschaften wie fortitudo oder virtus. Der Eindruck, dass 23 E.g. Merobaudes: Panegyricon 1, Fragment IB, Zeilen 17–19, hg. von Frank M. Clover, in: Flavius Merobaudes. A Translation and Historical Commentary (Transactions of the American Philosophical Society 61,1), Philadelphia 1971, S. 63: nec sola/ illa de v<iris fortibus praedicanda sunt quae pu-/ blica fa<ma denuntiat; Gregor von Tours: Historiae (wie Anm.1), Buch 4, Kap. 29, S. 161: Sigiberthus cum exercitu dirigit, habens secum magnam multitudinem virorum fortium. Ebd., Buch 9, Kap. 36, S. 457: Tunc viri fort-iores, qui erant in urbe Sessionica sive Meldensi, venerunt ad eum. Fortunatus: Carmen (wie Anm. 5), Buch 9, Kap. 1, S. 202: Chilperice potens: si interpres barbarus extet,/

‘audiutor fortis’ hoc quoque nomen habes. Fredegarchronik Buch 2, Kap. 53, hg. von Bruno Krusch, in: MGH SS rer. Merov. 2, Hannover 1888, S. 1–193, hier S. 74: cum nimia multitudinem et fortissimus Gothorum pugnatores advenit. Ebd., Buch 2, Kap. 57, S. 80: Quem cum cognovisset fortissimum esse in bellum. Ebd., Buch 2, Kap. 62, S. 86: Ibi viri fortissimi et multi legionis militum a Wandalis saepe fuerant trucidati. Ebd., Buch

diese Begriffe durchgehend positiv konnotiert waren, wird durch deren Verwen-dung in der sogenannten Fredegar-Chronik und dem Liber Historiae Francorum bestätigt. Beide attribuieren diese Eigenschaften bevorzugt den frühen Franken und dem ersten fränkischen Großkönig Chlodwig. Besonders deutlich geht die Bedeutung von fortitudo aus einer Fabel hervor, die in der Fredegar-Chronik überliefert ist. Sie berichtet von einem Traum der Königin Basina, der Mutter Chlodwigs und Ehefrau König Childerichs I. Im Traum seien ihr die vier nach-folgenden Generationen in der Gestalt von Tieren erschienen. Jede Tierart habe die fortitudo einer Generation verkörpert: die erste wurde repräsentiert durch die Gestalt des Löwen, die zweite durch den Leopard und das Einhorn, die dritte durch den Bären und den Wolf, und die vierte durch den Hund und anderes niedere Getier.24 Die Fabel belegt damit, dass mit fortitudo Besonderheiten wie körperliche Überlegenheit und Stärke gemeint waren, Eigenschaften, die offen-bar für den (erfolgreichen) Herrscher als unabdingoffen-bar erachtet wurden.

Militärische Fähigkeiten wie Stärke, Mut oder Entschlossenheit wurden nicht nur an herausragenden Kriegern gelobt, sondern grundsätzlich von jedem Mann erwartet und entsprechend gewürdigt. Wie bereits oben angedeutet, hatten sich nach dem Ende des römischen Militärwesens die zivilen und die militä-rischen Bevölkerungsteile weitgehend gemischt. Wer Krieger war und wer zur Zivilbevölkerung gehörte, hing seither weniger von der jeweiligen Person ab als von einer spezifischen Situation sowie der Funktion, welche die betroffene

4, Kap. 38, S. 139: Caesa sunt exercitus eodem prilio nimia multitudo virorum fortium.

Ebd., Buch 4, Kap. 74, S. 158: electis viris fortis de Neuster et Burgundia. Liber Histo-riae Francorum Kap. 4, hg. von Bruno Krusch, in: MGH SS rer. Merov. 2, Hannover 1888, S. 215–328, hier S. 244: ceciditque ibi Priamus eorum fortissimus. Ebd., Kap. 42, S. 314: Fuitque ipse Dagobertus rex fortissimus, enutritor Francorum. Im frühen 8. Jahr-hundert finden sich erste Hinweise auf ein merkliches Eindringen verwandter Wert-vorstellungen in die Welt der Heiligen: Vita Landiberti 14, hg. von Bruno Krusch, Wilhelm Levison, in: MGH SS rer. Merov. 6, Hannover, Leipzig 1913, S. 353–384, hier S. 367: sacerdus illico Landibertus, discaliciatis pedibus, fortissimus proeliatir.

24 Fredegarchronik (wie Anm. 23), Buch 3, Kap.  12, S.  97: Haec interpretationem habent: Nascitur nobis filius fortitudinem leonis signum et instar tenens; filii viro eius leupardis et unicornis fortitudine signum tenent. Deinde generantur ex illis qui ursis et lupis fortitudinem et voracitatem eorum similabunt. Tercio que vidisti ad descessum columpna regni huius erunt, que regnaverint ad instar canibus et minoribus bisteis;

eorum consimilis erit fortitudo. Siehe auch ebd. Buch 2, Kap. 5, S. 46: electum a se regi Francione nomen, per quem Franci vocatur. In postremum, eo quod fortissimus ipse Francio in bellum fuisse fertur, et multo tempore cum plurimis gentibus pugnam gerens.

Person innerhalb dieser einnahm.25 Es verwundert folglich kaum, dass militäri-sche Fähigkeiten als Charakteristikum männlicher Identität auch insgesamt an Bedeutung gewannen. Dieser Umstand geht am deutlichsten aus der merowin-gischen Konzeption von Männlichkeit hervor: der virilitas.

Die Attribution von virilitas hebt solche Männer hervor, die jene Eigen-schaften aufweisen, die nach zeitgenössischer Auffassung für die Identität eines Menschen als „Mann“ ausschlaggebend sind. Um zu verstehen, welche Eigen-schaften aus Sicht der Autoren als besonders „männlich“ galten, ist es hilfreich, den jeweiligen Kontext und die mit dem Begriff der virilitas verbundene Kon-notation näher zu betrachten. Hierbei fällt auf, dass die merowingischen Quel-len diesen Begriff fast ausschließlich in Verbindung mit kriegerischer Aktivität verwenden. Als Beispiel soll hier ein Gedicht des Venantius Fortunatus an den domesticus Conda dienen, der kurz zuvor in einem Feldzug gegen die Sachsen seine beiden Söhne verloren hatte. Fortunatus tröstet ihn mit den Worten, dass beide mannhaft, d.h. viriliter, gestorben seien, denn einen lobenswerten Tod zu sterben bedeute, ewig zu leben.26 Wie auch andere zeitgenössische Autoren stellt Fortunatus mit dieser Aussage eine enge Verknüpfung zwischen der akti-ven Waffenführung und dem zeitgenössischen Verständnis männlicher Identität her. Dieser Eindruck wird durch den Umstand bestätigt, dass das eigene Versa-gen, den mit virilitas verbundenen Erwartungen zu entsprechen, den Verlust der

25 Laury Sarti: Die Identität des Kämpfenden nach dem Zusammenbruch des römischen Militärwesens in Gallien, in: Archiv für Kulturgeschichte 95,2 (2013), S. 309–332.

26 Fortunatus: Carmen (wie Anm. 5), Buch 7, Kap. 16, Zeilen 46–52, S. 171–172: quae fuerit virtus, tristis Saxonia cantat:/ laus est arma truci non timuisse seni./ pro patriae votis et magno regis amore/ quo duo natorum funera cara iacent./ nec graviter doleas cecidisse viriliter ambos,/ nam pro laude mori vivere semper erit. Siehe auch Epistolae aevi Merowingici collectae 11, hg. von Wilhelm Gundlach, in: MGH Epp. 3, Berlin 1892, S. 434–468, hier S. 451: Quam fortiter et viriliter, si viri fuissetis, pugnature eratis contra inimicos vestros, ne corpus percuteretur, tam constanter et viriliter pugnate contra diabolum. Gregor von Tours: Historiae (wie Anm. 1), Buch 6, Kap. 41, S. 313: repugna-rent viriliter, ne his pars adversa nocerit. Ebd., Buch 8, Kap. 5, S. 374: Denique nec nos pro viris habere debemur, si eius necem ulciscere non valemus hoc anno. Ebd., Buch 8, Kap. 29, S. 392: Armate viriletate animus et considerate saepius fortes vires in bello con-ruere, unde nunc parentes eorum nobilis effecti opibus inmensis. Ebd., Buch 10, Kap. 4, S. 487: ‘Praefectus urbi illius collectis duobus aut tribus hominum milibus inruit super nos, interimque socios meos; in quo excidio et ego ipse interieram, si me viriliter defendere nequivissim’; Passiones Leudegarii prima Kap. 11, hg. von Bruno Krusch, in: MGH SS rer. Merov. 5, Hannover, Leipzig 1910, S. 282–322, hier S. 293–294: quia viriliter se fuerat defensare conatus, permittente Domino, a multitudine fuit oppressus.

gesellschaftlichen Wertschätzung als Mann zur Folge haben konnte. Dies bele-gen eindrücklich mehrere Stellen in den Historien Gregors von Tours, darunter die dem Turoner Chramnesind in den Mund gelegten Worte: Wenn ich den Tod meiner Verwandten nicht räche, so verdiene ich nicht ferner ein Mann zu heißen;

ein schwaches Weib muss man mich dann nennen!27

Offenbar befürchtete Chramnesind, nicht nur seine virilitas, sondern damit auch seine „Ehre“ (Mhd. êre) zu verlieren.28 Dieses Konzept würde im Latei-nischen grundsätzlich mit honor übersetzt werden. Eine Studie zur merowin-gischen Konzeption von honor sollte folglich helfen, das damit verbundene zeitgenössische Verständnis und die Kriterien für männliche Anerkennung zu verstehen. Eine umfassende Untersuchung der merowingischen Verwendung von honor, die von mir anhand des überlieferten Quellenmaterials durchgeführt wurde, hat jedoch keinen Eintrag hervorbringen können, wo dieser Begriff, sei-ner antiken Bedeutung entsprechend,29 im Sinne von „Ehre“/„Ehrhaftigkeit“, verwendet wurde. Immer lässt sich honor entweder mit „Amt“ übersetzen,30 27 Gregor von Tours: Historiae (wie Anm. 1), Buch 9, Kap. 19, S. 433: Nisi ulsiscar inter-itum parentum meorum, amittere nomen viri debeo et mulier infirma vocare. Über-setzung nach Buchner (wie Anm. 1), S. 257.

28 Siehe Wolfgang Haubrichs: Ehre und Konflikt. Zur intersubjektiven Konstitution der adligen Persönlichkeit im frühen Mittelalter, in: Kurt Gärtner, Ingrid Kasten, Frank Shaw (Hg.): Spannungen und Konflikte menschlichen Zusammenlebens in der deutschen Literatur des Mittelalters, Tübingen 1996, S. 35–58, hier S. 35; Nira Gradowicz-Pancer: Femmes royales et violences anti-episcopales à l’époque mérovin-gienne: Frédégonde et le meurtre de l’évêque Prétextat, in: Natalie Fryde, Dirk Reitz (Hg.): Bischofsmord im Mittelalter. Murder of Bishops (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 191), Göttingen 2003, S. 37–50, hier S. 48. Vgl. Gerd Althoff: Compositio. Wiederherstellung verletzter Ehre im Rahmen gütlicher Konflikt-beendigung, in: Klaus Schreiner, Gerd Schwerhoff (Hg.): Verletzte Ehre. Ehrkonflikte in Gesellschaften des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Köln 1995, S. 63–76, hier S. 64.

29 Siehe, z. B. die Bedeutung von honor in Cicero, Verrem Buch 2, Kap. 4.64 [142], hg. von Gerhard Krüger, in: Cicero. Reden gegen Verres V. Zweite Rede gegen C. Verres. Viertes Buch, Stuttgart 1998, S. 148: Mos est Syracusis ut, si qua de re ad senatum referant, dicat sententiam qui velit; nominatim nemo rogatur, et tamen, ut quisque aetate et honore antecedit ita primus solet sua sponte dicere, itaque a ceteris ei conceditur. Salvianus von Marseille: De Gubernatione Dei Buch 6, Kap. 10, hg. von Karl Wotke, in: Salviani presbyteri Massiliensis opera quae supersunt (CSEL 8.1), Wien 1883, S. 76: Si enim inlustrem ac praepotentem virum nequaquam exhonorari a quoquam licet et, si quis-quam exhonoraverit, decretis legalibus reus sistitur et inuriarum auctore iure damnatur, quanto utique maioris piaculi crimen est iniuriosum quempiam deo esse.

30 E.g. Fortunatus: Carmen (wie Anm. 5), Buch 7, Kap. 16, Zeilen 11, 17, 35, S. 171: Nam si praefertur generis qui servat honorem. […] Theudericus ovans ornavit honore tribunum.

oder durch gloria (Ruhm) ersetzen.31 Damit beschränkt sich die merowingische Konzeption von honor auf solche Elemente, die mehr oder weniger kurzfristig erworben wurden. Belege für die Konzeption jener „Ehre“, die ein Mensch hat, bis er sie unter Umständen verliert, finden sich in der merowingischen Über-lieferung nicht.

Die Quellenstelle, in der die Bedeutung von honor der heutigen Verwendung von „Ehre“ am nächsten kommt, findet sich in der Vita Eligii. Hier erklärt der Autor, dass der junge Eligius einst dem Goldschmied Abbo als Lehrling über-geben worden sei, wobei er den Begriff honor verwendet, um zu unterstreichen, dass Abbo ein ehrbarer Mann gewesen sei.32 Die Vita selbst wird heute wieder ins spätere 7.  Jahrhundert datiert, wobei die heute überlieferte Fassung eine frühkarolingische Überarbeitung des Originals darstellen dürfte.33 Auch wenn es dadurch schwierig ist zu bestimmen, inwiefern die im Text dokumentierten

[…] mutati reges, vos non mutastis honores. Fredegarchronik (wie Anm. 23), Buch 3, Kap. 58, S. 109: illi hoc honorem respuens. Passio Praeiecti episcopi et martyris Arverni Kap. 23, hg. von Bruno Krusch, in: MGH SS rer. Merov. 5, Hannover 1910, S. 225–248, hier S. 239: His ita transactis, erat quidam infamis vir Hector nomine, qui aput Massiliam patriciatus honore adeptus fuerat.

31 E.g. Epistolae Austrasicae (wie Anm. 7), 22, S. 134: Salute Iohannem, beati praecur-soris de honore nominis coruscantem, rectorem domus ecclesiae singularem. Ebd., 26, S. 139: Quapropter tranquillissime pietatis vestrae debito tanti culminis honore salutis officia reverentissime persolventes. Fortunatus: Carmen (wie Anm. 5), Buch 7, Kap. 16, Zeile 46, S. 171: vitaque quam senior, tam tibi crevit honor. Gregor von Tours: De passione et virtutibus sancti Iuliani Martyris, hg. von Bruno Krusch, in: MGH SS rer.

Merov. 1.2, Berlin 1885, ND 1969, Kap. 50, S. 134: in honore sancti martyris. Fortu-natus: Carmen (wie Anm. 5), Buch 7, Kap. 21, Zeilen 13–14, S. 174: qui mihi festivae diei duplicastis honorem,/ sic vester crescat munere regis honor. Fortunatus: Vita sancti Medardi (wie Anm. 5), Kap. 35, S. 73: cui est honor et gloria, laus et imperium per cuncta saecula saeculorum.

32 Vita Eligii episcopi Noviomagensis, hg. von Bruno Krusch, in: MGH SS rer. Merov. 4, Hannover, Leipzig 1902, S. 663–742, Buch 1, Kap. 3, S. 671: tradidit eum inbuendum honorabili viro Abbone vocabulo, fabro aurifice probatissimo.

33 Zur jüngeren Forschungsdebatte, siehe Clemens M. Bayer: Vita Eligii, in: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 35 (2007), S. 461–524; Walter Berschin: Der hei-lige Goldschmied. Die Eligiusvita – ein merowingisches Original?, in: Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung 118,1–2 (2010), S. 1–7; Laury Sarti: The digression on Pope Martin I in the Life of Eligius of Noyon. A testimony to late seventh-century knowledge exchange between East and West?, in: Stefan Esders, Yaniv Fox, Yitzhak Hen, Laury Sarti (Hg.): The Merovingian Kingdoms and the Medi-terranean in the Early Middle Ages, Cambridge, im Erscheinen.

Begriffe auf das Original zurückgehen, ist es bemerkenswert, dass sich keine wei-teren vergleichbaren Belege in den merowingischen Quellen finden lassen.

Die selektive Verwendung von honor legt nahe, dass die mit diesem Wort verbundene Konzeption nicht (mehr) dem zeitgenössischen Verständnis von

„Ehrhaftigkeit“ entsprach. Dies lässt nach der spätantiken Bedeutung von honor fragen. Wie die Untersuchung von Carlin A. Barton zeigt, bezog sich der antike honor-Begriff (neben seiner Verwendung zur Benennung des Amtes und des Ruhmes) vornehmlich auf zivile Werte wie Handlungsfreiheit und das Vorhan-densein jener Rahmenbedingungen, die dem Betroffenen eine freiwillige Inakti-vität ermöglichten (otium), d.h. sich durch die Abkehr von weltlichen Pflichten (= Zwang) dem neg-otium zu entziehen.34 Der antike honor bezog sich folglich auf Eigenschaften und Werte, die sich deutlich vom merowingischen Verständ-nis von Ehrhaftigkeit und dem damit eng verknüpften Ideal der virilitas unter-schieden.

Eine mögliche Erklärung für die selektive Verwendung von honor ist die enge Verknüpfung von Ehre und Aktivität, die sich seit dem 6. Jahrhundert anhand der Quellen feststellen lässt. Dieser Aspekt ist auch in den bereits besprochenen Kernbegriffen impliziert. Indem das Wort honor nur noch in Bezug auf ein Amt und den Ruhm verwendet wurde, wurde dieses auf jene zwei Aspekte innerhalb seines möglichen Bedeutungsspektrums beschränkt, die aktiv erworben werden mussten und/oder das Tätig-Sein erforderten. Dieser Befund bestätigt damit, dass das merowingische Verständnis von honor grundsätzlich Aktivität voraus-setzte. Da die antike Konzeption eines statischen honor im merowingischen Gal-lien ihre Bedeutung verloren hatte, gab es keinen Grund, den weiterhin positiv konnotierten Begriff honor in diesem Sinne zu verwenden.

Die hier beschriebene semantische Veränderung von honor hatte zur Folge, dass die merowingischen Quellen kein einschlägiges Äquivalent zum deutschen Work „Ehre“ kennen. Dieser Befund lässt sich durch eine bei Gregor von Tours beschriebene Pariser Fehde untermauern, die durch den Ehebruch einer Frau

34 Carlin A. Barton: Roman Honor. The Fire in the Bones, Berkeley 2001, insbesondere S. 90, 123–124. Siehe auch Nira Gradowicz-Pancer: ‚L’honneur oblige‘. Esquisse d’une cartographie des conduites et des stratégies de l’honneur aux Ve et VIe siècles, in: Revue belge de philology et d’histoire 74,2 (1996), S. 273–293, hier 277–278, 285; Isidor von Sevilla: Etymologiae Buch 18, Kap. 15.3, in: Isidori Hispalensis Episcopi. Etymo-logiarum sive originum libri XX, hg. von W. M. Lindsay (Scriptorum Classicorum.

Bibliotheca Oxoniensis), London 1911, S. 89: Negotium multa significat: modo actum rei alicuius, cui contrarium est otium; modo actionem causae, quod est iurgium litis. Et dictum negotium quasi nec otium, id est sine otio.

ausgelöst worden sein soll. Die Familie des Ehemannes verlangte daraufhin von den Angehörigen der Ehefrau, entweder deren Unschuld zu beweisen oder die Ehebrecherin zu töten. Gregor erklärt, dass die Betroffenen andernfalls befürch-tet hätten, dass dieser Fall die Familienehre beschmutze. Bezeichnenderweise benutzt er hierbei nicht den Begriff honor, sondern umschreibt die durch die Verletzung hervorgerufene gesellschaftliche Stigmatisierung. Dem Kontrahen-ten legt er die Worte in den Mund: Entweder beweise, dass deine Tochter unschul-dig ist, oder sie muss sterben, auf dass nicht ihr Ehebruch Schande bringe über unser Geschlecht [Aut idoneam redde filiam tuam, aut certe moriatur, ne stuprum hoc generi nostro notam infligat].35

Um die merowingische Konzeption von „Ehre“ besser zu verstehen, möchte ich mich nun weiteren Quellenbeispielen zuwenden, die sich mit verletzter Ehre befassen. In diesem Zusammenhang verwenden die Quellen auch Begriffe wie inuria oder humiliare. Gregor von Tours berichtet z. B., wie der fränkische Kleinkönig Ragnachar (von Cambrai) besiegt und gefesselt vor König Chlodwig gebracht wurde, worauf dieser den Gefangenen mit folgenden Worten angegan-gen habe: Wie konntest du […] so unser königliches Geschlecht erniedriangegan-gen, dass du dich binden ließest? Ruhmvoller wäre für dich der Tod gewesen!36 Gregor legt damit nahe, dass erst das Binden die Ehrverletzung unerträglich gemacht hatte, ein Zustand, der die eigene Bewegungsfreiheit vollkommen einschränkte.37 Weitere Erniedrigungstechniken, die in den Quellen erwähnt werden, sind das unfreiwillige Entkleiden und Entwaffnen: Nachdem König Theuderich II. durch seine Niederlage von 612 in Gefangenschaft geraten war, wurden ihm vor dem in Ketten legen seine königlichen Gewänder und das königliche Sattelzeug sei-nes Pferdes abgenommen.38 Offenbar zielte das Entkleiden und Fesseln jeweils darauf ab, eine Person nicht nur handlungsunfähig zu machen, sondern auch das äußere Erscheinungsbild zu beschädigen. Der Betroffene wurde damit der Lächerlichkeit preisgegeben. Die radikalste Methode der Erniedrigung war das Verstümmeln, wie im Falle Gailens, des Vertrauten Merowechs:  Ihm wurden

35 Gregor von Tours: Historiae (wie Anm. 1), Buch 5, Kap. 32, S. 237. Übersetzung nach Buchner (wie Anm. 1), S. 339. Siehe hierzu auch Haubrichs: Ehre und Konflikt (wie Anm. 28), S. 51.

36 Übersetzung nach Buchner (wie Anm. 1), S. 139. Gregor von Tours: Historiae (wie Anm. 1), Buch 2, Kap. 42, S. 92: ‚Cur‘, inquid, ‘humiliasti genus nostrum, ut te vincere permitteris. Melius enim tibi fuerat mori’.

37 Für weitere Beispiele, siehe Sarti: Perceiving War (wie Anm. 3), S. 284–286.

38 Fredegarchronik (wie Anm. 23), Buch 4, Kap. 38. Ähnliches ist für den Königssohn Chlodwig belegt, Gregor von Tours: Historiae (wie Anm. 1), Buch 5, Kap. 39.

Hände, Füße sowie Nase und Ohren abgeschlagen.39 Entwaffnet, gefesselt und verstümmelt konnten die Betroffenen den zeitgenössischen Idealen von kör-perlicher Integrität und Aktivität nicht mehr entsprechen, ein Umstand, der unweigerlich den Verlust der eigenen „Ehre“ zur Folge hatte. Die öffentliche Zurschaustellung solcher Demütigungen wurde folglich als unerträglich emp-funden, wie Gregors Historien explizit bezeugen.40

Die hier kurz angerissenen Beispiele belegen, dass das merowingische Verständ-nis von „Ehre“ eng an die Erwartung körperlicher Einsatzbereitschaft und Durch-setzungsfähigkeit geknüpft war. Die damit verbundenen Wertvorstellungen waren zentral für die zeitgenössische Konzeption von virilitas. Obwohl nicht gleichbedeu-tend mit „Ehre“, dürfte das merowingische Verständnis von virilitas der zeitgenös-sischen Vorstellung von Ehrhaftigkeit recht nahegekommen sein. Dieser Eindruck wird durch den Umstand bestätigt, dass die eigene virilitas und die eigene „Ehre“

durch Inaktivität eingebüßt werden konnten, und in beiden Fällen damit das eigene Ansehen deutlich gefährdet war.

Militärische Tugenden und Fähigkeiten nahmen in der merowingischen Gesellschaft einen hohen Stellenwert ein und stellten ein wichtiges Kriterium männlicher Wertschätzung und Identität dar. Am Eindrücklichsten geht dies

Militärische Tugenden und Fähigkeiten nahmen in der merowingischen Gesellschaft einen hohen Stellenwert ein und stellten ein wichtiges Kriterium männlicher Wertschätzung und Identität dar. Am Eindrücklichsten geht dies