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Heldentum und Kampfverweigerung als narrative Konstrukte

Dominanz beansprucht in den Narrativen jedenfalls der Kreuzzugsheld, dessen Heldentum sich aus unterschiedlichsten Quellen speist. Für sein konkretes Ver-halten sind vielfach weltliche Vorstellungen handlungsleitend, während er sich auf einer übergeordneten Ebene weitgehend den religiösen Idealen der Kreuz-zugsidee verpflichtet fühlen muss. Der mustergültige athleta Christi des Ersten Kreuzzuges ist bereit, alle Schwierigkeiten und Mühsale der bewaffneten Pilger-fahrt im Namen des Heidenkampfes auf sich zu nehmen. Er verzichtet auf die Annehmlichkeiten des heimischen Herdes und erduldet in bewusster Nachfolge Christi Hunger, Durst, Krankheit und Verfolgung. Auf seiner beschwerlichen Reise zum Sehnsuchtsort Jerusalem entledigt sich der adelige Held seiner super-bia und erwirbt die erforderliche humilitas, um das ‚Heilige Werk‘ vollbringen zu können.3 Deshalb wird der strahlende Ritter seines Pferdes beraubt und zum Fußsoldaten degradiert4 oder, was noch entehrender wirkt, auf eine Kuh, einen Ochsen oder einen großgewachsenen Schafsbock gesetzt, wie etwa in der Chronik des Robert von Reims.5 Als Waffen und Rüstung den miles Christi am

3 Kenneth Baxter Wolf: Crusade and Narrative: Bohemond and the Gesta Francorum, in: Journal of Medieval History 17 (1991), S. 207–216, hier S. 210.

4 Gesta Francorum et aliorum Hierosolimitanorum, hg. und übers. von Rosalind Hill (Oxford Medieval Texts), London 1962, Buch 4, Kap. 10, S. 23.

5 Robert von Reims: Historia Iherosolimitana, in: Recueil des historiens des croisa-des. Historiens occidentaux, 5 Bde., Paris 1844–1895, hier Bd. 3, Paris 1866, Buch 3, Kap. 18, S. 766: Ibi mortua fuit major pars equorum, et multi qui prius equites exstiterant pedites effecti sunt. Equitabant vaccas et boves, et magnae fortitudinis et altitudinis terrae illius arietes et canes.

Weiterzug hindern, muss er sich unter Tränen und Klagen von den Insignien seines Standes trennen.6 Dieses Opfer fällt ihm nicht leicht, aber es ist notwen-dig, denn es bedarf genau dieser Erniedrigung, um die Gnade Gottes erwerben zu können, die letztlich zum Sieg verhilft. Weltliches Kriegsgerät, so stellen die durchwegs klerikalen Verfasser der ersten Kreuzzugsberichte klar, hat nur gerin-gen Wert; stärker sind geistige Waffen.

Obwohl die Autoren stets bemüht waren, den Aspekt der Pilgerschaft her-vorzuheben und die reale Not der Kreuzfahrt zu einer heilbringenden Passio zu stilisieren,7 durften sie die Bedürfnisse ihres potentiellen Publikums nicht völlig außer Acht lassen. Die adelige Kriegerelite des 11. und 12. Jahrhunderts definierte hegemoniale Männlichkeit8 vornehmlich über den Kampf, in dem individueller honor errungen und vermehrt werden konnte.9 Nach dem Vorbild antiker Epen stehen daher häufig autonom agierende Helden im Mittelpunkt der Erzählungen. Mit herausragenden individuellen Waffentaten entschieden sie über das Schlachtengeschick, wenngleich die Realität des mittelalterlichen Krie-ges selten Raum für heroische Alleingänge ließ.10 Doch eben diese Stilisierung des adeligen Kreuzfahrers zum martius aggressus heros11 bediente auf literari-scher Ebene in geradezu idealer Weise die Sehnsüchte der adeligen Kriegerelite.

Am untersten Ende der von den Kreuzzugsnarrativen tradierten männlichen Geschlechterhierarchie steht, wenig überraschend, der Kampfverweigerer, der sich aus unterschiedlichsten Gründen dem Kampf zu entziehen sucht oder ihn total verweigert. In den Erzählungen übernimmt die Figur des Kampfverwei-gerers bedeutsame Funktionen und stellt ein wichtiges narratives Element im komplexen Beziehungsgeflecht der Männlichkeiten dar. Er bildet insbesondere

6 Gesta Francorum (wie Anm. 4), Buch 4, Kap. 11, S. 27; vgl. auch Robert von Reims (wie Anm. 5), hier Bd. 3, Paris 1866, Buch 3, Kap. 28, S. 770f.

7 Kristin Skottki: Christen, Muslime und der Erste Kreuzzug. Die Macht der Beschrei-bung in der mittelalterlichen und modernen Historiographie (Cultural Encounters and the Discourses of Scholarship 7), Münster 2015, S. 260.

8 Zur Definition der Begriffe Hegemonie, Unterordnung und Marginalisierung vgl. Con-nell: Der gemachte Mann (wie Anm. 2), S. 97–107.

9 Malte Prietzel: Kriegführung im Mittelalter. Handlungen, Erinnerungen, Bedeutungen (Krieg in der Geschichte 32), Paderborn 2006, S. 29f.

10 Hans-Henning Kortüm: Kriege und Krieger. 500 – 1500, Stuttgart 2010, S. 20f.

11 Die Bezeichnung aggressus martius heros, die auf die weltliche Komponente des Kreuz-zugshelden verweist, wurde einem Kreuzzugslied entlehnt, das vermutlich Marbod von Rennes um 1105 für Bohemund von Tarent verfasste, hg. von Jean-Paul Migne, in: Patrologia Latina 171, Paris 1893, Sp. 1672; eine Analyse liefert Goswin Spreckel-meyer: Das Kreuzzugslied des lateinischen Mittelalters, München 1974, S. 192–198.

den Gegenpol zum Idealtypus des Kreuzzugshelden, der Elemente der weltli-chen kriegerisweltli-chen Männlichkeit des aggressus martius heros und die geistliweltli-chen Ideale des athleta Christi, die jedoch nicht immer klar voneinander trennbar sind, in sich vereinigt. Er dient zu dessen Abgrenzung und fungiert in der direk-ten Bezugssetzung zum idealisierdirek-ten Helden als nicht nachahmenswertes Exem-plum. Durch die Verknüpfung des Helden mit dem Kampfverweigerer durch Interaktion auf narrativer Ebene gewinnen beide Figuren an Kontur und Schärfe.

Diese textuelle Interdependenz von Held und Kampfverweigerer veranschau-licht eine Passage aus den Gesta Francorum, einem Augenzeugenbericht aus der Feder eines normannischen Anonymus süditalienischer Provenienz, in deren Mittelpunkt die Heldentaten Bohemunds von Tarent stehen.12 Die Relationalität von Männlichkeit kommt besonders gut in Bohemunds Umgang mit Kampfver-weigerern zum Ausdruck, die der Männlichkeit des Helden antithetisch gegen-überstehen. Die Gesta Francorum berichten, dass es während der langwierigen und entbehrungsreichen Belagerung von Antiochia zu zahlreichen Desertionen gekommen sei. Auch der berühmte Kreuzzugsprediger Peter von Amiens13 und der französische Adelige Wilhelm von Melun hätten versucht, den unerträg-lichen Bedingungen im Feldlager zu entkommen.14 Die Darstellung dieser Begebenheit in den Gesta Francorum illustriert anschaulich, wie verschiedene Formen von Männlichkeit interagieren und dadurch voneinander abgegrenzt werden. Wilhelm wird nämlich aufgegriffen und zu Bohemund gebracht, wo sich der Deserteur einem demütigenden Unterwerfungsritual unterziehen muss, damit die hierarchische Ordnung, die mit der Desertion in Frage gestellt wurde, öffentlichkeitswirksam wiederhergestellt werden kann. Wilhelm verbringt die Nacht in Bohemunds Zelt, auf dem Boden liegend wie ein Stück Abfall – eine mala res. Am nächsten Tag bringt Bohemund seine Abscheu vor der ehrlosen Tat zum Ausdruck, indem er Wilhelm mit inszeniertem Affekt und stereotyper Zuweisung von Schande, die typisch für die Beschreibung von Deserteuren in den Kreuzzugsnarrativen ist, begegnet. Nach normannischer Tradition weist die affektive Ablehnung der bösen Tat Bohemund geradezu als gerechten Richter aus, dessen Strafgewalt je nach Situation von rächendem Zorn bis verzeihender

12 Zu Bohemund von Tarent vgl. Jean Flori: Bohémund d’Antioche. Chevalier d’Aventure, Paris 2007.

13 Zur Diskussion über die Zweifelhaftigkeit seiner Desertion vgl. Jean Flori: Pierre l’Er-mite et la première croisade, Paris 1999, S. 459–492.

14 Gesta Francorum (wie Anm. 4), Buch 6, Kap. 15, S. 33.

Milde reichen konnte.15 Als sich Wilhelm reumütig unterwirft und seine Kame-raden Fürsprache halten, gilt die Autorität des Anführers als wiederhergestellt und Bohemund muss mit Nachsicht und Vergebung reagieren.16 Damit hat der Kreuzzugsheld seine Führungsqualitäten für jedermann sichtbar unter Beweis gestellt und seinen dominanten Status erfolgreich von anderen Formen der Männlichkeit abgegrenzt.

Auch der Chronist Radulf von Caen konzentrierte sich in seiner Darstellung der Ereignisse auf die Interaktion zwischen Kreuzzugshelden und Kampfver-weigerern. In Radulfs Version sind es Wilhelm von Melun und Guido Troussel von Montlhéry, die sich aus dem Lager der Kreuzfahrer absentieren und dabei von Bohemund überrascht werden. Dieser hindert sie zwar nicht an ihrem Abzug, richtet aber eine fiktive Rede an die beiden Deserteure, in der er ihnen vorwirft, aus Eigensucht nichts zum gemeinsamen Werk beitragen zu wollen.

Schließlich befiehlt er ihnen, ihre Zelte zurückzulassen, die zu ihrer eigenen und zur Schande ihrer Familien fortan als öffentliche Latrinen dienen sollten.17 Deutlicher als die Gesta Francorum spricht Radulf die Gründe an, die aus seiner Sicht die Schande der beiden Deserteure ausmachen. Er beklagt, dass die beiden zwar Krieger seien, aber ansonsten nur danach trachteten, den Annehmlich-keiten des adeligen Lebens zu frönen, während sie labor verabscheuten.18 Ihre

15 Klaus van Eickels:  Hingerichtet, geblendet, entmannt:  die anglo-normannischen Könige und ihre Gegner, in: Manuel Braun, Cornelia Herberichs (Hg.): Gewalt im Mittelalter. Realitäten – Imaginationen, München 2005, S. 81–104, hier S. 85f.

16 Gesta Francorum (wie Anm. 4), Buch 6, Kap. 15, S. 33f.: Tota denique nocte Willelmus uti mala res in tentorio domini Boamundi iacuit. Crastina uero die summo diluculo, ueniens erubescendo ante Boamundi presentiam stetit. Quem alloquens Boamundus dixit: ‘O infelx et infamia totius Franciae, dedecus et scelus Galliarum, O nequissime omnium quos terra suffert, cur tam turpiter fugisti? Forsitan ob hoc quod uoluisti tradere hos milites et hostem Christi, sicut tradidisti alios in Hispania.’ Qui omnino tacuit, et nul-lus sermo ex eius ore processit. Adunauerunt sese omnes fere Francigenae, rogaueruntque humiliter ne deterius ei facere permitteret. Annuit ille sereno uulto, et ait: ‚Hoc pro uestri amore libenter consentiam, si mihi toto corde et mente iurauerit quod nunquam recedet ab Hierosolimitano itinere siue bono siue malo.‘

17 Radulf von Caen: Gesta Tancredi in expeditione Hierosolymitana, in: Recueil des historiens des croisades. Historiens occidentaux, 5 Bde., Paris 1844–1895, hier Bd. 3, Paris 1866, Buch 60, S. 650: ‘Et quam, inquit, vobis requiem quaeritis, nihil de communi laborare solliciti? nobilis estis, patet via: ast hic tentoria manebunt, ad aeternam nominis, immo generis vestri, publicae reservanda cloacae.’

18 Radulf von Caen: Gesta Tancredi (wie Anm. 17), hier Bd. 3, Paris 1866, Buch 60, S. 651: Unius generationis, unius moris viri unanimiter laborem oderant, otium secta-bantur; pugnaces tamen, sed inter bella deliciis assueti.

Diskreditierung resultiert also vornehmlich aus ihrer Weigerung, die Anstren-gungen und Entbehrungen des Kreuzzuges in der Nachfolge Christi auf sich zu nehmen. Die Ablehnung dieses Ideals konstituiert aus Sicht des geistlichen Ver-fassers das entscheidende Abgrenzungsmerkmal zum Heldentum.

Deserteure

Der Kampfverweigerer ist mehr als bloßer literarischer Topos. Nicht zuletzt eig-net sich die Figur auch dazu, das Spannungsfeld zwischen imaginierter idea-ler Männlichkeit, wie sie von den kidea-lerikalen Autoren der Kreuzzugschroniken beschrieben wird, und den Realitäten des adeligen Lebens sichtbar zu machen.

Die hohen Anforderungen der Kirche an die Männlichkeit des Kreuzfahrers kollidierten zwangsläufig mit der Ratio adeliger Kriegsführung. Im Zuge dieses Konflikts wurden bestimmte Verhaltensmuster neu bewertet und in den Nar-rativen als deviant qualifiziert. Davon waren vor allem jene adeligen Männer betroffen, die versuchten, sich dem Kampf zu entziehen. Ihr Verhalten wird in der Kreuzzugschronistik so ausführlich diskutiert, dass sich grob vier verschie-dene Gruppen von Kampfverweigerern identifizieren lassen. Das sind zunächst die tatsächlichen Deserteure, die sich zwar einem Kreuzzug anschlossen, jedoch umkehrten, bevor sie Jerusalem erreichten und somit ihr Kreuzzugsgelübde nicht erfüllten. Daneben erscheinen diejenigen, die sich etwa im Zuge einer Pre-digt zu einem Kreuzzugsgelübde hinreißen ließen, doch nie aufbrachen. Eine weitere Gruppe bilden die Männer, von denen erwartet wurde, dass sie an einem Kreuzzug teilnahmen, sich aber nicht einmal ein Gelübde abringen ließen. Diese Gruppe ist naturgemäß in den Quellen schwer fassbar. Dasselbe trifft auf Über-läufer und Apostaten zu, die selten namentlich genannt werden. Eine zu häufige Erwähnung hätte möglicherweise beim Publikum den Eindruck erweckt, ein Wechsel der Seiten könnte in manchen Fällen durchaus legitim sein.19 Die im frühen 13. Jahrhundert verfasste Chronik zum Kreuzzug Friedrich Barbarossas, die einem Kleriker namens Ansbert und einem weiteren anonymen Kreuzzugs-teilnehmer zugeschrieben wird20, bildet hier eine seltene Ausnahme. Das Werk überliefert ein Schreiben an den Großmeister der Johanniter in Italien, in dem die Ereignisse der desaströsen Niederlage des christlichen Heeres am 4. Juli 1187 bei den Hörnern von Hattin geschildert werden. Demzufolge seien Balduin von Fotina, Bachaberbocus von Tiberias und ein gewisser Leisius mit drei weiteren

19 Skottki: Muslime und der Erste Kreuzzug (wie Anm. 7), S. 449.

20 Arnold Bühler (Hg): Der Kreuzzug Friedrich Barbarossas. 1187 – 1190. Bericht eines Augenzeugen, Stuttgart 2002, S. 48.

Gefährten zum gegnerischen Heer übergelaufen und hätten Saladin sogar die Aufmarschpläne des Königs von Jerusalem preisgegeben.21

Obwohl die mittelalterlichen lateinischen Quellen keine einheitliche Bezeich-nung für den Deserteur kennen, wird dieser Begriff hier und auch in der wis-senschaftlichen Literatur zu diesem Thema synonym für Kampfverweigerer und Umkehrer verwendet.22 Da der Tatbestand der Desertion üblicherweise mit den stehenden Heeren der Moderne verbunden ist, stellt sich die Frage nach der Berechtigung dieser Bezeichnung. Im deutschsprachigen Raum beginnt die juristische Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Desertion in der Mitte des 17. Jahrhunderts. Rechtsgelehrte versuchten, klare Kriterien zu definieren, um entsprechendes Verhalten unter einem konkreten Tatbestand subsumieren und in Folge auch sanktionieren zu können. Erst dadurch fand der Begriff der Desertion Eingang in den allgemeinen Sprachgebrauch und verdrängte ältere Bezeichnungen, die aufgrund ihrer Uneindeutigkeit nicht dazu geeignet waren, Straftatbestände zu konstituieren.23

Kampfverweigerung im Rahmen organisierter, militärischer Aktionen ist jedoch keine Erscheinung der Moderne. Auch in den früh- und hochmittelalter-lichen Heeresaufgeboten, die sich freilich in ihren Strukturen von den neuzeitli-chen erheblich unterschieden, waren unterschiedliche Formen des Protests und der Verweigerung nicht unbekannt. Bei der Analyse dieses Phänomens ist zu beachten, dass Kampfverweigerung und Desertion keine objektiven Tatbestände sind, sondern erst durch die Wahrnehmung und Qualifizierung der Zeitgenos-sen zu solchen konstruiert werden.24

Diese besondere Qualifizierung lässt sich in den Kreuzzugsnarrativen klar belegen. Die vornehmlich klerikalen Autoren der Kreuzzugsberichte des

21 Ansbert:  Historia de expeditione Friderici imperatoris, hg. von Anton Chroust, in: MGH SS rer. Germ. N.S. 5, Berlin 1928, S. 3: Exin Baldoinus de Farmor et Bacha-berbocus de Tabaria et Leisius cum aliis tribus sociis separaverunt se ab exercitu et iverunt ad Saladinum et, quod dictu miserabile est, renegaverunt fidem et dediderunt se dixeruntque illi conventum exercituum regis Iherusalem et angustias eorum.

22 Zuletzt Philipp A. Sutner: Mutlose Feiglinge und schwache Herzen. Umkehrer auf dem Ersten Keuzzug, in: Ders., Stephan Köhler, Andreas Obenaus (Hg.): Gott will es. Der Erste Kreuzzug – Akteure und Aspekte, Wien 2016, S. 114–132.

23 Vgl. Peter Burschel: Die Erfindung der Desertion. Strukturprobleme in deutschen Söld-nerheeren des 17. Jahrhunderts, in: Ulrich Bröckling, Michael Sikora (Hg.): Armeen und ihre Deserteure. Vernachlässigte Kapitel einer Militärgeschichte der Neuzeit, Göt-tingen 1998, S. 72–85, hier S. 72.

24 Vgl. Ulrich Bröckling, Michael Sikora (Hg): Armeen und ihre Deserteure. Vernach-lässigte Kapitel einer Militärgeschichte der Neuzeit, Göttingen 1998, S. 10.

12. Jahrhunderts weisen einzelnen Formen der Kampfverweigerung eine nega-tive Bewertung zu, die über das in der Historiographie zuvor übliche Maß weit hinausgeht. In ihrer Wahrnehmung konstituierten sie einen Tatbestand, der als besonders schändlich galt. Im Mittelpunkt des Diskurses steht dabei das abge-legte Kreuzzugsgelübde, dessen Nichterfüllung ein wesentliches Tatbestands-merkmal bildet. Dieses Gelübde setzte sich einerseits aus kirchenrechtlichen, andererseits aus übergeordneten ideellen Komponenten zusammen.

Mit der Leistung des Kreuzzugsgelübdes übernahm der Kreuzfahrer die Pflichten der bewaffneten Pilgerschaft und trat aus rechtlicher Sicht in ein kirch-liches Sündentilgungsverfahren ein. Daneben kam er auch in den Genuss weltli-cher Privilegien, die bis zum Vierten Laterankonzil im Jahre 1215 stetig erweitert und präzisiert wurden.25 Somit genossen Kreuzfahrer als militarisierte Jerusa-lempilger einen kirchenrechtlichen Sonderstatus. Mit der Leistung des Gelüb-des gingen sie eine Verpflichtung gegenüber der Kirche ein, die sich ihrerseits zur Gewährung umfangreicher weltlicher Schutzrechte, die auch Ehefrauen und Kinder umfassten, verpflichtete.26

Trotz des anfänglichen Fehlens eines feierlichen Formalaktes wurde dem Kreuzzugsgelübde von Beginn an ein hoher verpflichtender Charakter zuge-sprochen, der jedoch weniger auf seiner rechtlichen, sondern vielmehr auf seiner ideellen Komponente fußte.27 Das Kreuzzugsgelübde bewirkte, dass auch nicht vasallitisch gebundene Kämpfer, deren Teilnahme an den Orientkreuzzügen des ausgehenden 11. und 12. Jahrhunderts in hoher Zahl nachweisbar ist, zur Ver-folgung eines übergeordneten höheren Ziels verpflichtet werden konnten. Der Aspekt der Bußpilgerfahrt verlor dabei nie seinen bestimmenden Charakter.

Daher war das zentrale Element für die Erfüllung des Kreuzzugsgelübdes nicht notwendigerweise nur der Kampf, sondern die grundsätzliche Bereitschaft, alle Anstrengungen auf sich zu nehmen und alle erforderlichen Opfer zu erbringen, um Jerusalem und die heiligen Stätten zu erreichen. Damit wird die Opferbereit-schaft zu jener Qualität, die den Kreuzzugshelden vom Kampfverweigerer am

25 Zu den weltlichen Privilegien vgl. James A. Brundage: Crusaders and Jurists: The Legal Consequences of Crusader Status, in: Le concile de Clèrmont de 1095 et l’appel à la croisade. Actes du Colloque Universitaire International de Clermont-Ferrand (23 – 25 Juin 1995), Rome 1997, S. 142–154; zu den geistlichen Privilegien vgl. Hans Eberhard Meyer: Geschichte der Kreuzzüge, Stuttgart 92000, S. 28–40.

26 Brundage: Crusader Status (wie Anm. 25), S. 144–146.

27 Vgl. James A. Brundage: CRUCE SIGNARI: The Rite for Taking the Cross in England, in: Traditio 22 (1966), S. 289–294.

deutlichsten abgrenzt. Ein Mangel derselben bildet die Grundlage für das Tat-bestandsmerkmal der Desertion.

Opferbereitschaft ist als ein ganzes Bündel von moralischen Qualitäten und vor allem als eine dynamische Größe zu verstehen, die sich im Laufe des 12. Jahrhunderts veränderte. Auf die Spitze getrieben wurden die kirchlichen Anforderungen von Bernhard von Clairvaux. In seiner Lobrede an die Temp-ler betonte er die heilbringende Wirkung von Gewalt und Kampf im Namen Christi28 und formulierte eine Ideologie des Sterbens, der zufolge der ideale miles Christi nicht mehr nur bereit sein müsse, für Christus zu sterben, sondern sich geradezu nach diesem Tod sehnen solle, um sich endlich mit Gott vereinigen zu können. Daher müsse er den Tod ohne Furcht erwarten und schließlich mit Wonne empfangen.29 Die Kreuzzugschronistik des frühen 13. Jahrhunderts lie-ferte eine Reihe von Beispielen für die narrative Umsetzung dieser Ideologie. So wird etwa im Itinerarium peregrinorum das heroische Sterben des Tempelritters Jakelin de Mailly bei Cresson am 1. Mai 1187 exakt entlang der von Bernhard vorgegebenen Linien konstruiert.30

Diesen überwiegend klerikalen Idealen konnten und wollten viele Kreuz-zugsteilnehmer nicht entsprechen. Manche hatten sich schlicht die Gefahren eines derartigen Unternehmens nicht bewusst gemacht und kehrten um, wenn ihnen die Lage lebensbedrohlich erschien. Fulcher von Chartres, Augenzeuge des Ersten Kreuzzuges, schilderte ein Schiffsunglück vor Brindisi im Jahre 1097, bei dem 400 Menschen ums Leben gekommen sein sollen. Die Katastrophe hatte eine so abschreckende Wirkung, dass sich viele Kreuzfahrer weigerten, die Schiffe zu besteigen und stattdessen wieder heimwärts zogen.31 Fulcher stellte die Deserteure den Opfern des Schiffsunglücks unmittelbar gegenüber. Als ein für jedermann sichtbares Zeichen, dass Gott sein Heilsversprechen gegenüber

28 Christoph Auffarth: Heilsame Gewalt? Darstellung, Begründung und Kritik der Gewalt in den Kreuzzügen, in: Manuel Braun, Cornelia Herberichs (Hg): Gewalt im Mittelalter.

Realitäten – Imaginationen, München 2005, S. 251–272, hier S. 257f.

29 Bernhard von Clairvaux: De laude novae militiae, hg. von Gerhard B. Winkler, in: Sämt-liche Werke, 10 Bde., Innsbruck 1990–1999, hier Bd. 1, Innsbruck 1990, S. 270–272.

30 Itinerarium peregrinorum. Eine zeitgenössische englische Chronik zum dritten Kreuz-zug in ursprünglicher Gestalt, hg. von Hans Eberhard Mayer (Schriften der MGH 18), Stuttgart 1962, S. 248f.

31 Fulcher von Chartres: Historia Hierosolymitana, hg. von Heinrich Hagenmeyer, Hei-delberg 1913, Buch 1, Kap. 8, S. 170f.: […] quod infortunium cum videremus, pavore grandi confusi sumus, in tantum ut plerique corde debiles nondum naves ingressi, ad domos suas repedarent, peregrinatione dimissa, dicentes nunquam amplius in aquam sic deceptricem se infigere.

denjenigen einlöst, die sich für ihn opfern, werden die Umgekommenen mit einem Wunder und dem ewigen Leben belohnt.32 Die Schwachherzigen hin-gegen, die sich durch äußere Umstände von der Vollbringung ihres ‚heiligen Werkes‘ abbringen lassen, sind von diesem Heilsversprechen ausgeschlossen.

Darüber hinaus war ein Kreuzzugsunternehmen kostspielig und viele Teil-nehmer verfügten nicht über ausreichende Mittel, um die lange Reise finanzieren zu können.33 Wieder kann Fulcher von Chartres als Beleg herangezogen werden.

Er berichtet von bewaffneten Pilgern aus den niederen Ständen, die bereits in Bari ihre Waffen verkauften und nach Hause zurückkehrten.34 Der Chronist spart hier nicht mit negativen Bewertungen und weist auf die gesellschaftliche Schande hin, die ein derartiges Verhalten nach sich ziehe.

Männer, die den Kreuzzug abbrachen, waren mit sozialer Ächtung und Mar-ginalisierung innerhalb der adeligen Kriegerelite konfrontiert.35 Der Chronist Raimund d’Aguilers fordert ausdrücklich dazu auf, die Gesellschaft von Deser-teuren zu meiden. In der Praefatio seiner Chronik zum Ersten Kreuzzug, an dem er als Kaplan des Grafen von Toulouse selbst teilgenommen hatte, warnte

Männer, die den Kreuzzug abbrachen, waren mit sozialer Ächtung und Mar-ginalisierung innerhalb der adeligen Kriegerelite konfrontiert.35 Der Chronist Raimund d’Aguilers fordert ausdrücklich dazu auf, die Gesellschaft von Deser-teuren zu meiden. In der Praefatio seiner Chronik zum Ersten Kreuzzug, an dem er als Kaplan des Grafen von Toulouse selbst teilgenommen hatte, warnte