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Künstler und Individuum als Gegensatz zur Dorfgemeinschaft

Im Dokument ÜBER DIE PRODUKTION VON TÖNEN (Seite 107-113)

5. Musizieren als hohe Kunst

5.1 Künstler und Individuum als Gegensatz zur Dorfgemeinschaft

konstruiert werden. Wesentlich für diese Konstruktion waren die Betonung der eige-nen Individualität und der Nachweis der Anerkennung für das eigene Musizieren.

Im Gegensatz dazu standen Praktiken, die das eigene Musizieren als typisches, d. h.

als ein sich nicht maßgeblich von jenem der anderen Musizierenden unterschei-dendes, beschrieben. Infolge sollen diese Aspekte anhand der dafür maßgeblichen Modalitäten der ersten Dimension (siehe Abbildung 14) nachgezeichnet werden.

In den sich positiv auf Kunst beziehenden Erzählungen wurden auf mehr als 40 Seiten eigenes Musizieren beschrieben 31 und mehr als 20 verschiedene Auftritts-kontexte vor 193832 genannt. Im Gegensatz dazu wurden in jenen Erzählungen, die sich negativ auf Kunst beziehen, nur auf weniger als 10 Seiten eigenes Musizieren beschrieben und weniger als vier verschiedene Auftrittskontexte vor 1938 genannt.

Musizieren bestimmte das Leben der KünstlerInnen, während es anderswo eine wenig oder kurz beschriebene und daher untergeordnete Rolle zugewiesen bekam.

Das Praktizieren des eigenen Lebens als eines musikalischen war ein notwendiger Aspekt der Anerkennung als KünstlerIn, wenn es auch nicht dem/der KünstlerIn alleine vorbehalten war. Das Betreiben von Musik als Kunst verlangte nach dem Aufgehen in der Musik danach, Musik über die anderen Bereiche des Lebens zu

30 Die hier dargestellten Modalitäten bilden 82,5 Prozent der Gesamtvarianz der ersten Dimen-sion ab.

31 Hier reicht die Bandbreite von Erzählungen, auf denen nur in einzelnen Sätzen Musizieren erwähnt wurde, bis zu Erzählungen, in denen auf beinahe jeder Seite davon erzählt wurde.

So ist etwa in der Erzählung von Lotte Lehmann mit einem Umfang von 232 Seiten nach etwa 40 Seiten am Beginn praktisch nur mehr ihre Gesangskarriere Thema.

32 Nur in sieben lebensgeschichtlichen Erzählungen wurden mehr als 20 Auftrittskontexte vor 1938 genannt, hier meist zwischen 20 und 30. Die Erzählung von Lotte Lehmann erwähnt mit 42 Auftrittskontexten die meisten.

Künstler und Individuum als Gegensatz zur Dorf-gemeinschaft

stellen. Demgemäß wurde das eigene Leben auch nicht als Familien- oder Frei-zeitleben mit zeitweisen Erwähnungen musikalischer Auftritte erzählt, sondern als vor allem und beinahe ausschließlich musikalisches, wie es schon die musikalischen Titel der Erzählungen – „Ein Leben mit der Gitarre“, „Aus dir wird nie ein Pianist“

etc. – ankündigten. Zu einem musikalischen Leben gehörte nicht nur das aktive Musizieren, sondern auch der Besuch der Oper und der Besuch von Konzerten (weniger wichtig: der Besuch von Varietés). KünstlerInnen erzählten aber nicht nur viel, sondern auch ausführlich über Musik. Musizieren wurde nicht nur in wenigen Sätzen nebenbei erwähnt, sondern in Details und Anekdoten ausgebreitet. Nicht nur, dass musiziert wurde, sondern auch, wie dieses Musizieren organisiert und erlebt wurde, fand in die Erzählungen Eingang: Musizieren als Erlebnis, das verschiedene Emotionen – wie etwa Freude oder Mühsal – hervorrief. Vorausgesetzt wurde dabei,

dass der/die (zeitgenössische) LeserIn Interesse an einer derartigen Form der Erzäh-lung hatte, dass also das eigene musikalische Erleben von Interesse war. Es handelt sich um Memoiren, die publiziert wurden, um Erzählungen von großen Menschen und deren großen Taten, um das Tun erfolgreicher und bekannter Musizierender.33

Hingegen schrieben die sich negativ auf Kunst beziehenden Erzählenden von ihnen so bezeichnete Lebensläufe – der Begriff verweist bereits auf die standar-disierte Erzählform und den ‚gewöhnlichen‘ Charakter der handelnden Person.34 Sie waren sich durchaus bewusst, dass ihr musikalisches Handeln nicht auf das große Interesse eines breiten Publikums stoßen würde und ihre Erzählungen nur von ihrem unmittelbaren Umfeld gelesen werden würden – oder von volkskund-lichen ForscherInnen, die bei vielen Texten auch an der Produktion beteiligt waren, deren Mitwirken aber gerade dadurch, dass ihre Forschung eben keine (im engeren Sinne) musikwissenschaftliche war, auf die mangelnde musikalische Anerkennung des Musizierens verwies. So schrieb z. B. Adolf Sohm in der Einleitung zu seiner mit „Mein Lebenslauf“ betitelten Erzählung: „Nicht ganz leichten Herzens komme ich Ihrem Wunsche nach. Ich zweifle, ob ich in die Vorarlberger Musikgeschichte hineingehöre.“ 35 Dementsprechend wurde diesen Erzählungen auch oftmals kein Titel vorangestellt. Diese Positionierung als unbekannter/unbekannte Musizieren-der/Musizierende ist jedoch nicht nur als Mangel zu verstehen: Das Musizieren- wie- jeder- andere konnte auch als Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft verstanden

33 Zum Vergleich zwischen Bekanntheit und Anerkennung beim breiten Publikum oder bei KollegInnen und anderen KunstexpertInnen siehe Bourdieu, Regeln, 345.

34 Vgl. zu Hinweisen auf Individualität in Autobiografien und Kontrastformen dazu Bergmann, Lebensgeschichte, 70 ff.

35 Vorarlberger Landesarchiv, Musiksammlung, Biographische Sammlung, Adolf Sohm, Mein Lebenslauf, 1.

werden, wie sie etwa für Land- und VolksmusikerInnen in verschiedenen zeitgenös-sischen Druckwerken beschworen wurde.36

Die ausführliche Erzählform musikalischen Handelns auf der Seite des positiven Kunstbezugs betonte aber auch die eigene Individualität, welche in engem Zusam-menhang mit Vorstellungen von der Künstlerpersönlichkeit stand (und steht).37 Wer ausführlich erzählte und etwa die eigene Musiziertechnik ausführlich beschrieb, hatte etwas zu erzählen, das ihn/sie von anderen unterschied. Wer hingegen einen Auftritt oder eine Ausbildung mit ein paar knappen Worten charakterisierte, zeigte damit, dass sein/ihr Musizieren nach bekannten Schemata verlief, dass es so war wie das vieler anderer – eine denkbar ungeeignete Erzählweise, um sich als KünstlerIn

36 Z. B.: „Die Volksmusik ist eine gegebene Tatsache, die sich nicht ändern wird, solange es heimatliebende Landbewohner gibt. […] Vielleicht habe ich nächstens Gelegenheit, dem Nichtkenner etwas ‚von uns‘ zu erzählen.“ (Alpenländische Musiker- Zeitung (1935), März, 1 ff., hier 5).

37 Vgl. Troge, Gesangverein, 289, 305; Ruppert, Künstler, 38; Zembylas, Kunst, 104 f.

Abbildung 14: Hilfsgrafik der Modalitäten der ersten Dimension. Die X-Achse weist die Koor-dinaten der Modalitäten auf, die Y-Achse deren Beitrag zur Varianz der Dimension (CTR).

Es werden nur Modalitäten mit überdurchschnittlichem CTR angezeigt, die für den Bereich

„Künstlerpersönlichkeit und Dorfgemeinschaft“ relevant sind

() = keine Erwähnung der Modalität “ “ = wörtliche Verwendung der Modalität

Abgrenzung Stil

-3,00 -2,50 -2,00 -1,50 -1,00 -0,50 0,00

zu positionieren. Die Künstlerpersönlichkeit konnte auch explizit als solche benannt werden: durch die Selbstkategorisierung als KünstlerIn (bzw. Kategorisierung des eigenen Musizierens als Kunst), eine Kategorisierung, die trotz der Vielfalt an Bedeu-tungen des Begriffs als Chiffre für eine bestimmte Art, Musik zu machen, zu funktio-nieren schien. Auch die Bezeichnung als Virtuose/Virtuosin oder Star findet sich in diesen Erzählungen. Die Erzählenden der dominierten Seite, d. h. jene Erzählenden, die sich negativ auf Kunst bezogen, waren hingegen MusikantInnen: Musizierende, deren Können nicht an das der (professionellen) MusikerInnen, geschweige denn an jenes der KünstlerInnen heranreichte 38 und die ‚minderwertiges‘ Programm spielten.

Eine andere Möglichkeit, sich positiv auf Kunst zu beziehen, war die Beschrei-bung von musikalischer Konkurrenz. Hier handelte es sich nicht um Konkurrenz hinsichtlich knapper Möglichkeiten, den Lebensunterhalt durch Musik zu bestreiten (wie sie etwa in den Zeitschriften der Musikergewerkschaften geschildert wurde),

38 Vgl. Hotz (Hg.), Brockhaus, 453 f. Abwertende Beschreibungen wie etwa „halb und ganz unfähige Musikantengeneration erbärmlichster Sorte“ (Oesterreichische Musiker- Zeitung (1918), Nr. 7, 1) waren im Untersuchungszeitraum weit verbreitet. Sicher gab es auch Versuche, den Begriff des Musikanten/der Musikantin als positive Selbstbeschreibung zu verwenden, vor allem von Musizierenden auf dem Lande. Doch selbst Akteure, die den Begriff in dieser Weise verwendeten, gaben zu, dass ihr musikalisches Können dem der BerufsmusikerInnen unterlegen war.

0,00 0,20 0,40 0,60 0,80 1,00 1,20 1,40

sondern um ästhetische Konkurrenz: Wer war besser geeignet für diese oder jene Opernrolle, wer konnte diesen oder jenen Komponisten am besten interpretieren? Die Beschreibung von Konkurrenz stellte – ebenso wie das Nennen von musikalischen Vorbildern und das Beschreiben persönlichen Kennenlernens von Berühmtheiten –

einen Bezug zu anderen anerkannten KünstlerInnen wie auch zu als künstlerisch wahrgenommenen Rollen und KomponistInnen her und verstärkte den Anspruch, im selben Kontext wie diese wahrgenommen zu werden. Gleichzeitig wurde damit ein Milieu konstruiert, in dem musikalisches Können und individuelle Weiterent-wicklung wichtig waren:

Wenige Zeit später bekam ich die erste wirklich hübsche Partie: die Anna in den ‚Lustigen Weibern‘. […] Ich lernte mit Feuereifer, war mir doch versprochen worden, daß ich am Sonntag nachmittag singen dürfe. […] Mein Rollenhunger war geweckt, seit mich zum erstenmal freundlich gemeinter Applaus belohnt hatte.39

Ebenso wurden musikalische Fähigkeiten und deren Fehlen angesprochen: Die Erwähnung eigener Fähigkeiten, der Vergleich mit anderen MusikerInnen und die Beurteilung anderer MusikerInnen. Die Bandbreite der Urteile konnte von der schlichten Aussage „ein guter/schlechter Musiker“ bis hin zu einer elaborier-ten Huldigung der Musiziertechnik und Herangehensweise ans Musizieren, die eine Person kennzeichneten, reichen. Wichtig war das Vorhandensein einer Hier-archie von Leistungen und Personen, in die man sich selbst und andere einordnen konnte. Dieser Bezug fehlte bei sich negativ auf Kunst beziehenden Erzählungen weitgehend. Hier wurden weder die eigenen Fähigkeiten thematisiert noch andere MusikerInnen beurteilt. Mit dem fehlenden Bezug auf den Aspekt des Könnens positionierten sich diese Musizierenden als solche, für die die Qualität von Musik keine Bedeutung hatte. Der Mangel an Hierarchisierung verwies letztlich auf die nur untergeordnete Bedeutung von Musik im Leben dieser ErzählerInnen, – denn Hierarchisierung, Kategorisierung und Beurteilung sind Prozesse, die die Relevanz des Beurteilten kennzeichnen. Dieser Mangel wird aber auch klarer, wenn man die Bedingungen des Musizierens in vielen dieser Erzählungen betrachtet: Es ging viel-fach nicht darum, wie, sondern dass überhaupt musiziert wurde. Im Gegensatz zu den Künstlererzählungen konnte für die nicht- künstlerisch Musizierenden bereits das Nichtvorhandensein von Auftrittsgelegenheiten, Mitmusizierenden oder Instru-menten zum Hindernis werden.

Welche Art von Musik gespielt wurde, spielte ebenfalls eine Rolle bei der Kon-struktion von Kunst. Dass die dazugehörigen Modalitäten im Vergleich zu anderen

39 Lehmann, Anfang, 100, 102.

eine nicht ganz so wichtige Rolle einnahmen,40 mag auf den ersten Blick verwun-dern – scheint es doch klar zu sein, dass Kunst in der Musik zu einem guten Teil darin besteht, künstlerisch Wertvolles aufzuführen. Es ist jedoch zu beachten, dass die Bindung des Musikprogramms, das als dem Kunstkanon zugehörig angesehen wurde, an ‚künstlerische‘ Orte und Akteure im untersuchten Zeitraum nicht durch-gängig eine große Rolle spielte.41 Während die Unterscheidung von Kunstmusik und Unterhaltungsmusik spätestens seit dem Ende des 19. Jahrhunderts große Bedeutung erhielt, waren Musizierende oftmals nicht eindeutig nur aufgrund der von ihnen gespielten Musik den Bereichen der Kunst oder der Unterhaltung zuzuordnen. Der breiten Öffentlichkeit bekannte Teile des Kunstkanons wurden auch in vielen anderen Kontexten aufgeführt, ebenso wie Musizierende, die sich vornehmlich mit anderem Musikprogramm beschäftigten, fallweise an Aufführungen in künstlerischen Kon-texten mitwirkten.42 So spielte etwa Sepp Schwindhackl, einer der Musizierenden aus dem strukturalen Sample, neben Tanzmusik und der Mitwirkung im örtlichen Kirchenchor auch Kammermusik.43

Dennoch zeigt der Aufbau der ersten Dimension, dass Unterschiede im Musik-programm für die Konstruktion von Kunst relevant waren: KünstlerInnen sangen Opernrollen und/oder spielten Kunstmusik, entsprachen in ihrem Programm also dem, was gemeinhin als künstlerische Musik angesehen wurde, während die anderen Tanzmusik spielten. Vor allem kategorisierten KünstlerInnen das von ihnen gespielte Programm als bestimmten musikalischen Stil, den sie von anderen Stilen abgrenzten:

„Ich habe nie sogenannte ‚Unterhaltungs‘-Musik studiert oder zu analysieren versucht.

Sie fällt nicht in mein Ressort.“ 44 Oder: „At various times the claim has been made that I have been a ‚comic opera singer‘ […] It is an assertion of which I might as well dispose […] I have sung only in grand opera.“ 45 Es war maßgeblich, sich von anderen Musizierenden abzuheben und nicht verdächtigt zu werden, andere Programme als künstlerische zu spielen. Wurde die Entwicklung vom/von der NichtkünstlerIn zum/

zur KünstlerIn dargestellt, so musste der Gegensatz zwischen diesen Phasen bezüglich Programm und Stil hervorgehoben werden. In den sich negativ auf Kunst beziehenden

40 Die Varianz der Modalität stilistische Abgrenzung beträgt nur 50 Prozent der wichtigsten Modalität der Dimension.

41 Zur historischen Erzeugung von Unterschieden zwischen ernster und Unterhaltungsmusik sowie zur Wiederverwendung von musikalischen Kompositionen in anderen Kontexten siehe Linke, Materialien.

42 Vgl. Wulz, Handwerker, 201 – 222; Schröder, Tanz- und Unterhaltungsmusik, 29 ff.

43 Vorarlberger Landesarchiv, Musiksammlung, Biographische Sammlung, Sepp Schwindhackl, Lebenslauf, 3.

44 Schnabel, Pianist, 191.

45 Jeritza, Sunlight, 67, Hervorhebung im Original.

Erzählungen hingegen wurde nicht immer darauf bestanden, einen bestimmten Stil und ein bestimmtes Programm zu spielen: Ein/e Amateur- oder VolksmusikerIn konnte auch an der Aufführung von Kammermusik oder Symphonien teilnehmen, ohne dadurch die eigene Position infrage zu stellen. Die oben beschriebene Bindung des musikalischen Programms an eine bestimmte Position war also nur teilweise auf-gehoben, der Rechtfertigungsdruck in dieser Frage lag auf der Seite der KünstlerInnen.

5.2 Sich schöpferisch entwickeln oder handwerkliche Fertigkeiten lernen

Im Dokument ÜBER DIE PRODUKTION VON TÖNEN (Seite 107-113)