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Der Gegensatz von Mobilität und örtlichem Verharren

Im Dokument ÜBER DIE PRODUKTION VON TÖNEN (Seite 127-130)

5. Musizieren als hohe Kunst

5.4 Der Gegensatz von Mobilität und örtlichem Verharren

Ein wesentliches Kontrastmerkmal zwischen KünstlerInnen und Erzählenden mit negativer Bezugnahme auf Kunst stellte das Ausmaß an Mobilität der Musizie-renden dar. KünstlerIn zu sein, hieß Bewegung, während andere Musizierende an einem Platz blieben. Im Folgenden wird dieser Kontrast anhand der dazugehörigen Modalitäten der ersten Dimension (siehe Abbildung 17) beschrieben.

Dazu gehörten zum einen auf der Seite der KünstlerInnen Auftritte in unterschied-lichen Regionen und Ländern. Der/die KünstlerIn trat im Ausland bzw. im Gebiet des alten Österreich auf und kam oft selbst aus dem Ausland bzw. dem Gebiet des alten Österreich. Der Kunstbetrieb war international – wer zu den Großen gehö-ren wollte, musste nicht nur in Wien musiziegehö-ren, sondern auch in Paris, London und vielleicht gar in New York oder Chicago. Umgekehrt war Österreich, vor allem Wien, Ziel vieler Musizierender aus dem Ausland. Diese internationale Ausrichtung dürfte bereits seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einer Künstlerkarriere dazugehört haben.89 Die musikalische Migration zeigte nicht nur die Zugehörig-keit des/der Musizierenden zur Gruppe der KünstlerInnen, sondern war auch ein

89 Gruber, Nachmärz, 53.

Der Gegensatz von Mobilität und örtlichem Ver-harren

Beleg dafür, dass man das Musizieren wichtig nahm. Wo ganz Europa bzw. selbst Nord- und Südamerika als potenzielle Musizierorte in Erwägung gezogen wurden, mussten andere Bedürfnisse (etwa nach Heimat oder Ruhe) hintangestellt werden.

Auftritte im Ausland fanden nicht nur über langfristige Anstellungen statt, son-dern auch im Rahmen von Tourneen und Gastspielen. Diese Bezeichnungen cha-rakterisierten spezifisch künstlerische Weisen der Bewegung zwischen Orten: nicht bloßes Umherziehen oder -wandern mit spontanen Auftritten an verschiedenen Orten, sondern das Musizieren im Rahmen eines zuvor festgelegten Tourneeplans, in zuvor organisierten Einrichtungen, abgesichert durch Verträge und vereinbart von AgentInnen. Dazu kamen Musikfeste, die durch die Nennung von mehr als drei einmaligen Auftrittten charakterisiert wurden. Dieses im Kunstbetrieb norma-lisierte Herumziehen wurde in den Lebensgeschichten als Ausdruck künstlerischer Anerkennung beschrieben:

Mein erster Aufenthalt in Berlin […] gab auch meiner künstlerischen Laufbahn einen verheißungsvollen Auftrieb. […] Nach Wien zurückgekehrt, wurde ich behandelt, als hätte ich die Welt umsegelt. Ich suchte Leschetizky auf, und auch er behandelte mich nun wie jemanden, der endgültig flügge geworden war. Ich war nicht mehr der Schüler, sondern ein Gast und Freund.90

Ebenso beschrieb Lotte Lehmann ihren „Aufstieg“ über ihre zunehmende geo-grafische Mobilität: von der ersten Stelle an einem Theater in einer anderen Stadt zur ersten Stelle an einer renommierten Oper im Ausland bis hin zu einer schnell wechselnden Abfolge von Gastspielen und Tourneen, als sie sich „an keine Oper mehr dauernd binden“ 91 wollte.

Demgegenüber blieben die Erzählenden der dominierten Seite an einem Ort. Sie hatten nicht nur keine Auftritte im Ausland, sondern auch keine Auftritte außer-halb ihres Geburtsbundeslandes. Dementsprechend anders war auch der Bezugsrah-men, in dem Anerkennung gesucht wurde. So konstatierte Konrad Bergmann: „Der Durchbruch war gelungen! Wir wußten, daß wir im Bezirk Voitsberg als durchaus ernstzunehmende Musikkapelle registriert waren!“ 92 Diese eingeschränkte Mobilität wurde aber nicht nur als Mangel verstanden, sondern konnte auch positiv die Ver-wurzelung in einer lokalen Gemeinschaft begründen: Im und für das eigene Dorf Musik zu machen, anstatt in fremden Städten vor fremdem Publikum zu musizieren,

90 Schnabel, Pianist, 52.

91 Lehmann, Anfang, 235.

92 Bergmann, Leben, 57.

galt hier als erstrebenswert.93 Die Nichterwähnung musikalischer Migration ver-wies demnach nicht auf mangelnde Nachfrage oder einen eingeengten Horizont, sondern auf Heimatbewusstsein.

Die geografische (Im-)Mobilität korrespondierte mit dem Kontrast von Aufstieg und Entwicklung auf der einen und dem Verharren in den sozialen Gegebenheiten auf der anderen Seite. KünstlerInnen musizierten im Rahmen einer Karriere oder Laufbahn. Sie erzählten ihre Tätigkeit als kontinuierlichen Aufstieg, wobei eine chro-nologische Abfolge von ersten fallweisen Engagements bei Privatveranstaltungen über eine Anstellung im Ensemble einer kleineren Einrichtung in der Provinz bis hin zu Solistenrollen in renommierten Opern oder Konzertsälen eingehalten wurde.

Nicht zufällig trug die in dieser Dimension wichtigste Erzählung, die Autobiografie Lotte Lehmanns, den Aufstieg auch im Titel. Damit einher ging die Betonung der

93 „‚Wenn am Sonntag die Dorfmusik spielt‘, ist das […] das Dorf selbst, das sich die Musik macht. Der Lehrer und der Bauersmann, Gevatter Schneider und Hufschmied, Fabriksar-beiter und Gemeindebeamter.“ (Alpenländische Musiker- Zeitung (1932), Nr. 1, 11).

Abbildung 17: Hilfsgrafik der Modalitäten der ersten Dimension. Die X-Achse weist die Koor-dinaten der Modalitäten auf, die Y-Achse deren Beitrag zur Varianz der Dimension (CTR).

Es werden nur Modalitäten mit überdurchschnittlichem CTR angezeigt, die für den Bereich

„Mobilität und Verharren“ relevant sind

() = keine Erwähnung der Modalität “ “ = wörtliche Verwendung der Modalität

Aufstieg

Auftritt_Ausland

Auftritt ÖstAlt Auftritt außer Bundesld

Bewegung einmal >3

Entwicklung Herkunft Ausland

(Herkunft Österreich) Herkunft ÖstAlt

"Karriere"

Lernerfahrung Migration Musik

"Tournée"

Wandern weiter kommen

werden wollen

0,00 0,20 0,40 0,60 0,80 1,00 1,20 1,40

-3,00 -2,50 -2,00 -1,50 -1,00 -0,50 0,00

künstlerischen Entwicklung und des Musizierens als Lernerfahrung. Wie schon für den Bereich der Ausbildung beschrieben, stellte die kontinuierliche Arbeit an sich selbst ein Grundthema künstlerischen Musizierens dar: „Immer und immer wieder mußte ich erfahren, wie wenig ich noch war, wieviel ich noch zu lernen hatte, und daß man in unserem Berufe überhaupt nicht auslerne.“ 94 Die Kombination aus künstlerischer Entwicklung, sozialem Aufstieg und geografischer Mobilität charak-terisierte künstlerische Erzählungen durch Aktivität und Bewegung. Im Kontrast dazu standen die Erzählungen der dominierten Seite, deren Musizierende nicht nur an einem Ort blieben, sondern auch keine Karriere machten und ihre Ausbildung mit dem Erlernen der notwendigsten Fertigkeiten abschlossen. Sie blieben auch im übertragenen Sinn auf ihrem Platz.

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