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Josef Weimer

Im Dokument Wasser-Spiele ≈ Wasser-Farben (Seite 40-50)

Wege für Kinder

Naturerfahrung auf dem Schulgelände

Josef Weimer

Da in unserer Zeit viel über die Wahr-nehmungsschwächen der Kinder so-wie die verminderten Fähigkeiten und Möglichkeiten, Sinneseindrücke aufzunehmen, geklagt wird, bewegte mich als Gartenbaulehrer die Frage, wie wir dem schon durch die Anlage eines Schulgeländes und dessen geziel-te Nutzung begegnen können. Im Rah-men der Planungen für den Neubau der Rudolf-Steiner-Schule Dietzenbach bot sich die Gelegenheit, einige Grund-gedanken umzusetzen:

– Die üblichen erforderlichen Bereiche (Pausenhof, Eingangsbereich, Parkplatz, Garten usw.) sollen klar voneinander unterschieden sein.

– Auf dem Gelände sollen möglichst viele unterschiedliche Elemente von Natur-räumen repräsentiert sein: Wildnis, Wald, Wiese, Acker, Hecke, Garten, Was-– Ein »Rundgang« auf dem Gelände sollte die verschiedenen Aspekte erlebbar ser.

machen können.

Das neue Schulgelände war ein ehemaliger intensiv bewirtschafteter Maisacker mit leichtem Gefälle nach Süden; es wurde im Laufe der kommenden Jahre so durchgestaltet, dass viele kleingegliederte Räume entstanden, die viele Bewe-gungsmöglichkeiten für das pulsierende soziale Leben der Schule bieten. Im Kleinen sollen sie einerseits die Motive der weiten umgebenden Landschaft spie-geln, andererseits das ergänzen, was ihr fehlt.

Ein wesentliches Gliederungselement sind die Wege und Plätze in ihrer unter-schiedlichen Gestaltung: So besteht die Oberfläche des Schotterrasens aus tritt-festen Wiesengräsern, der Eingangsbereich aus »Römer«-Pflaster, eingegrenzt mit Sandsteinplatten. Die Hauptwege sind in wassergebundener Wegedecke an-gelegt. Es gibt Rindenmulch-, Sand- und Wiesenspielplätze, Pfade aus Rinden-Vor der Waldorfschule in Dietzenbach

mulch, festgetretene Wiesenpfade, ein Holzbrückchen über unseren Bachlauf.

Modellierte Erdwälle grenzen den Schulgarten vom Pausenhof, das Schulge-lände von der Umgebung in natürlicher Weise ab und machen Zäune überflüs-sig. Sie gliedern das Gelände so, dass sich Innenräume bilden, wie Pausenhof, Schulgarten, Obstwiese, Spielplätze für verschiedene Altersstufen, Nischen für Gespräche und zum Verweilen und so weiter.

Diese langgezogenen, unterschiedlich breit und hoch gestalteten Erdhügel sind mit einer Vielfalt von heimischen Bäumen und Sträuchern bepflanzt. Die noch jungen Bäume werden in einigen Jahren ihre verschiedenen charakteristischen Kronenformen in den Himmel strecken.

Die Sträucher sind nach Arten gruppenweise gepflanzt und zeigen ihren cha-rakteristischen Wuchshabitus. Die unterschiedlichen Knospen-, Blatt-, Blüten- und Fruchtentwicklungen begleiten uns meist unbewusst im Jahreslauf. Als Le-bensraum für Vögel und Insekten ist dieser Bereich längst angenommen und vor allem auch als Spielraum von den jüngeren Schülern entdeckt worden.

Das Dachwasser unseres Schulgebäudes und unserer befestigten Plätze fließt in einem, ein kurzes Stück offenen Bachlauf hin zu einem gestalteten Weiher am Ostrand des Schulgeländes. Dieser ist mit einem Überlauf versehen, der das überschüssige Wasser in einem Drainagegraben wegführt. So kommt das Ele-ment Wasser in die ruhigste und am tiefsten gelegene Ecke unseres etwa zwei Hektar großen Schulgeländes. Mit Ausnahme einer weißblühenden Seerose ha-ben wir hier nichts gepflanzt. Weiden, Binsen, Iris, Sumpfdotterblumen, großes und kleines Weidenröschen haben sich in der Sumpfzone des Weihers von selbst angesiedelt. Der Weiher bildet Lebensraum für Libellen, Kröten, Frösche, die im Sommer ihr Konzert geben. Sogar ein Entenpärchen mit Nachwuchs stellte sich ein. Die stille, Himmel und Wolken spiegelnde Wasseroberfläche trocknet im Sommer nie aus, bei Hochwasser kann der Wasserspiegel vier Mal so groß wer-den; der Weiher ist inzwischen zu einem richtigen Biotop geworden.

Eine unserer Gestaltung zu Grunde liegende Idee ist es, den Menschen zum Staunen anzuregen an der sich verwandelnden Umgebung durch die Wahrneh-mung der jährlich wiederkehrenden, blühenden Pflanzenmotive oder durch die Begegnung mit Tieren beziehungsweise deren (Sing-)Stimmen. Entsprechend wurden am Schuleingang und im Innenhof Staudenbeete angelegt, die den Jah-reslauf wie in einem sich immer wieder verwandelnden, farbigen Gemälde er-scheinen lassen. Zwischen Kletter- und Strauchrosen erer-scheinen im Jahreslauf die Staudenhöhepunkte, wie Irisarten, Pfingstrosen, Rittersporn in Sorten, Som-merlilien, Stockrosen, Staudensonnenblumen und Herbstastern. Diese werden begleitet und umrankt von den Zwiebelgewächsen (Winterlinge, Schneeglocke, Krokus, Narzissen, Hyazinthen und Tulpen), aber auch Wermut, Glockenblu-menarten und andere; das Kaukasus-Vergissmeinnicht und das Immergrün sind, große Flächen bedeckend, angepflanzt. Die Beete sind teilweise mit Halbsträu-chern (wie Ysop, Lavendel, Salbei, Rosmarin und Dost), die stark die Schmetter-linge anlocken und ihren Duft verbreiten, eingefasst.

Im Süden wird das Gelände durch den Schulgarten abgeschlossen: Hier wird für die Schüler der arbeitende Mensch sichtbar. Da kann auf den angelegten, besäten, bepflanzten und gepflegten Beeten täglich Verändertes wahrgenommen werden. Auf dem Grabeland können die ein- und zweijährigen Nahrungspflan-zen in ihrem Werden und Vergehen, beziehungsweise Reifen und Ernten erlebt werden. Der Hauptweg ist von dem Blau, Gelb und Rot der Staudenmutterbeete eingefasst. Dahinter gibt es eine kleine, gegen nagende Karnickel eingezäunte Obstbaumschule und einen Kräutergarten. Der Beerenobstgarten gliedert die Fläche und grenzt sie von Lagerplätzen für Kompost, Erde, Holz, Stein und Strauchschnitt ab. Neben dem Gemüsegarten liegt noch der rund tausend Qua-dratmeter große Getreideacker, der von der dritten Klasse bestellt wird.

Zwischen Teich und Grabeland (beziehungsweise Acker) fügt sich die Obstwie-se ein, auf der sich die bei uns verbreiteten Obstarten (wie Apfel, Birne, Zwetsch-ge, Mirabellen, Pfirsiche, Kirsche) in verschiedenen Sorten finden.

Jede erste Klasse pflanzt mit dem Gartenbaulehrer dort einen Obstbaum und

Auf dem Rundgang Im Pappelwäldchen

Getreidefeld im Juli, Obstwiese im Hintergrund Gartenhaus und Gemüseland

Der Schulgarten: Gemüsebeete, Baumschule, Getreideacker

besucht ihn auf ihrem Rundgang. Die Obstbäume, auf der stark wachsenden Sämlingsunterlage veredelt, sind natürlich noch jung, da wir erst vor sechs Jah-ren in unsere Schule eingezogen sind. Zwei alte Obstbaumveteranen repräsentie-ren vergangene Zeiten. Sie stehen am Rande der Obstwiese und sind Ausdruck des Alten, das sehr individuell geprägt ist. Sie tragen gerne und reichlich Frucht.

Auf dieser Wiese steht auch unser Bienenhaus. Zudem ist die Wiese zugleich Sammelplatz bei Feueralarm, wo jede Klasse vor ihrem Baum steht.

Unser Schulgarten grenzt im Süden an einen Entwässerungsgraben, der mit einer vergreisten Schlehenhecke und einem kleinen Pappelwäldchen bewachsen ist, durch das unser Wahrnehmungspfad läuft. Dahinter stehen Einzelsträucher – wie Wildrosen – oder Birken, in einer Gras- und Hochstaudenflora, die nie gemäht wird. In diesem »Niemandsland« zwischen Schulgelände und Stadt ent-wickelte sich eine Art Savanne, »wilde Natur«, sich selbst überlassen.

Wir haben sie kurzerhand in unseren Rundgang mit einbezogen. Damit haben wir um das Schulgebäude herum alle Elemente liegen, die eine Landschaft auf-weisen kann, so wie sie das Bild z. B. einer alten Dorfgemarkung bieten mag.

Seit einigen Jahren gelingt es uns, diese vielfältigen Angebote unseres Schul-geländes zur Wahrnehmung der Natur auch bewusst zu nutzen: Alle Schüler durchwandern einmal in der Woche im Jahreslauf auf ihrem »Morgengang« die-sen Weg. Was nehmen sie dabei an Umgebungsqualitäten wahr? Was erfahren sie von sich selbst, wenn sie auf ihrem Rundgang durch das Schulgebäude ver-schiedene Landschaftselemente durchwandern?

Die Klassen eins bis acht gehen an ihrem festgelegten Wochentag im rhythmi-schen Anfangsteil des Hauptunterrichts für etwa zehn bis dreißig Minuten den Weg, bei jedem Wetter, auch bei Regen und Hagel. Als tiefe Gewohnheit hat sich der Gang in den älteren Klassen schon eingeprägt. Die Kinder freuen sich auf den Morgengang, sie vergessen den Tag nie, fragen oft schon rechtzeitig, wann sie gehen werden. Für manche Schüler ist es der schönste Tag – besonders für Kinder, die in der Klasse schwer zu führen sind. Viele klagen den Morgenweg ein und sind enttäuscht, wenn sie ihn einmal nicht gehen. Die Kinder der zweiten Klasse denken daran, dass heute »Gartentag« ist, und kommen schon mit Gum-mistiefeln zur Schule.

Es gibt Klassen, die geordnet in Zweierreihen laufen, manche Schüler haken sich beim Lehrer ein und nutzen die Gelegenheit, ihn einmal für sich zu haben.

Andere suchen beim Gang ihre Gespräche mit Freund oder Freundin. Die Chole-riker laufen manchmal davon, manche gehen gerne einzeln, weil man die Vögel besser hören kann. Der Weg bietet eine Möglichkeit zur Selbstbegegnung. Die Stimmung ist manchmal ruhig, manchmal aufgeregt. Es gibt Schüler, die wollen arbeiten, zum Beispiel den Rohrkolben aus dem Teich ziehen, andere wollen den entdeckten Froschlaich ins Klassenzimmer bringen.

Die Kinder lieben es, sich in der Hecke oder im hohen Gras zu verstecken oder sich in die Wiese zu legen – Körperkontakt mit Boden, Pflanze, Luft, Frost oder Sonnenwärme zu haben. Die Fünftklässler blicken gerne auf den Boden und

ver-gleichen zum Beispiel die Matschigkeit der letzten Woche mit der von heute. Im Schulgarten zeigen sich die Kinder eher verspielt. Die Sechst- und Siebtkläss-ler laufen gerne zu »ihren« Beeten, um nachzusehen, und auf dem Getreideacker wird an der Körperlänge abgemessen, wie hoch der Roggen in dieser Woche gewachsen ist.

Der Weiher ist ein Lieblingsplatz der Kinder. Dort beobachten sie gerne die Frösche und die Entwicklung des Laiches im Frühjahr, die über dem Wasser tan-zenden, glitzernden Libellen im Sommer. Im Winter holen sie gerne die Eisstücke aus dem gefrorenen Wasser und bestaunen die Glasplatten oder werfen sie auf den gefrorenen See, um dem klirrenden Zerspringen zu lauschen.

Die Eindrücke des Ganges sind sehr unterschiedlich. Der Lehrer belehrt und doziert nicht, allenfalls weist er auf etwas hin, besser noch: Er betrachtet still und wirkt dadurch vorbildhaft.

Spontan wird wahrgenommen: der Rauhreif, der entlang filigran verzweigter Pflanzen gefriert, die Tautropfen, die sich in Blättern sammeln, die Farben des Sonnenaufgangs, die beißende Kälte des Winterwindes, der Nebel in den Grä-sern, die Feuchtigkeit des Bodens, der Matsch auf dem Ackerboden im Vergleich zu den festeren Grasflächen, das zwitschernde Wintergoldhähnchen. Auch sieht man in diesem Gebiet immer wieder weghüpfende Karnickel, aufsurrende Rebhühner oder auch mal ein flüchtendes Reh, abgesehen von all den kleinen Würmchen und Käfern.

Manche Lehrer machen vor dem Gang zum Beispiel auf Licht, bestimmte Pflan-zen oder Farbqualitäten aufmerksam. Andere Kollegen fragen im Nachhinein:

»Was habt ihr gesehen?«

Gravierende Veränderungen bemerken die Schüler sofort: Das Wiesenschaum-kraut auf der Obstwiese war letzte Woche noch nicht da, die Pilze im Wäldchen sind neu, oder die Raupen des Tagpfauenauges haben die Brennesseln kahlge-fressen.

Je nach Klasse werden auch Ritter- und Indianerspiele mit wilden Jagden durch das Heckengestrüpp gespielt – so entsteht die Verbindung von körperlicher Be-wegung und Ausleben der Phantasie.

Wenn die Schüler im Spätsommer auf dem schmalen Pfad durch das »Nie-mandsland« gehen, sieht man nur noch die Köpfe aus dem hohen Gras schauen;

sie fühlen sich wie bedeckt und können dann auch als Gruppe ganz still wer-den.Im Wäldchen sind die Schüler wie in einer Säulenhalle; eingetaucht in »Grün«, lauschen sie dem Zittern der Pappelblätter, die das Sonnenlicht auf ihren spie-gelnden Blattoberflächen zum Vibrieren bringen. Aus diesem Innenraum können sie wie aus Fenstern hinausblicken auf die Obstwiese oder das Getreidefeld.

Heraustretend aus dem Wald, stehen sie am Teich. Nun öffnet sich ein weiter Blick nach Norden: Dort kann man häufig Bussarde über dem weiten Himmel kreisen sehen oder in der Nähe den Falken, etwa zwanzig Meter über dem

nächs-Der Weiher im Frühsommer

Der Weiher im Herbstnebel bei Sonnenaufgang

Die Obstwiese und Heckensträucher im Sommer Die Obstwiese im Winter

ten Acker nach unten blickend; mit seinen Schwingen rüttelnd, scheint er in der Luft zu stehen.

Nach dem Morgengang sind die meisten Kinder ausgeglichen und können dem Unterricht gut folgen. Häufig schließt sich am selben oder nächsten Tag noch ein Rückblick an. Manchmal gibt es auch Klagen über nasse Strümpfe oder kalte Füße, Naturerfahrungen, auf die unsere Stadtkinder trotz »bester« Klei-dung heute nicht mehr vorbereitet sind.

Dass ein solcher Morgengang nicht nur mit den noch relativ leicht für Tier und Pflanze zu begeisternden »Kleinen« Früchte tragen kann, zeigen unsere Er-fahrungen mit Oberstufenschülern: Beim Morgenspaziergang als »rhythmische Übung« können die Augen der jungen Erwachsenen nun anders auf die Phäno-mene der Natur blicken.

Im tristen Novemberregen bricht sich das Licht in den Regentropfen am kahlen Geäst; die Blätter sind kaum abgefallen, da werden die neuen Knospen schon sichtbar. In der gelegentlich im Klassenraum sich anschließenden Reflexion wur-de nicht nur die belebenwur-de Wirkung wur-der Frischluftzufuhr bemerkbar – die aktuel-le Begegnung der eigenen Persönlichkeit mit der Natur ermöglichte häufig auch phänomenologische Betrachtungen, zum Beispiel der veränderten Wirkung von Distanzen bei Nebel oder auch ein vertieftes Nachdenken über das sichtbare

»Stirb und Werde«, über Kreisläufe und Entwicklung, über das Verhältnis des Einzelnen zur Natur und zum Kosmos.

Solche Erfahrungen zeigen, dass auf diesem Gang etwas veranlagt werden kann, was wohl erst voll zum Ausdruck kommen wird, wenn unsere Schüler als Erwachsene im Leben stehen.

So verbinde ich mit diesem Rundgang die Hoffnung, dass

– in diesem wiederholenden Erleben der sich im Jahreslauf verändernden Land-schaft die Kinder »Urbilder« aufnehmen;

– an diesen Erlebnissen für unsere Stadtkinder eine »Heimatqualität« entsteht, die der Naturentwurzelung in unserer Zeit entgegenwirkt;

– sie an dem Wahrgenommenen zum Staunen kommen können: Denn das Stau-nen ist die Vorstufe von Interesse, und entwickeltes Interesse ist die Vorausset-zung, um seine Umgebung ins Herz schließen zu können.

Zum Autor: Josef Weimer, Jahrgang 1954, nach der Fachhochschulreife Ausbildung zum Gärtnermeister, danach Ausbildung am Institut für Waldorfpädagogik in Witten-Annen zum Klassen- und Gartenbaulehrer. Teilnahme an den Hochschulwochen bei Jochen Bok-kemühl in Dornach, an Landschaftsexkursionen mit Andreas Suchantke, am Garten- und Landschaftsgestaltungsseminar mit Arne Klingborg in Järna. 1981-1987 Aufbau einer Gärt-nerei mit arbeitstherapeutischem Aufgabenbereich in einer Klinik für Drogenabhängige.

Seit 1990 Gartenbaulehrer an der Rudolf Steiner Schule in Dietzenbach; verantwortlich für die Gestaltung des Schulgeländes; daneben Gartengestaltung und Obstbauseminare.

Literatur:

Andreas Suchantke: Partnerschaft mit der Natur, Stuttgart 1993

Mareike Schmitz: Die Naturferne der Stadtkinder, »Erziehungskunst«, Febr. 1989

Südamerika – Perspektiven aus

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