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2 STAND DER FORSCHUNG

2.9 Selbststerilität

2.9.2 Inzuchtdepression

Wenn Inkompatibilitätsmechanismen Selbstbefruchtung nicht verhindern konnten, können Mechanismen der Inzuchtdepression greifen und eine Entwicklung aus Selbstbefruchtung hervorgegangener Nachkommen erschweren. Letale oder subletale rezessive Allele, meist an mehreren Fitness-Genorten, reduzieren die Viabilität der Nachkommen, wenn sie in homozy-goter Form auftreten (CHARLESWORTH und CHARLESWORTH 1987, WRIGHT 1977). Ist eine Homozygotie dieser Allele über mehrere solcher Fitness-Genorte gegeben, ist der Rückgang der Viabilität nicht nur die Summe der subletalen Wirkung der einzelnen Fitness-Genorte, sondern sie wirken synergetisch (CHARLESWORTH et al. 1991). Eine Homozygotie dieser Fit-ness-Allele ist nicht nur bei den aus Selbstbefruchtung entstandenen Nachkommen möglich, sonder auch fremdbefruchtete Individuen können gleichermaßen unter Inzuchtdepression lei-den. Die Wahrscheinlichkeit für Homozygotie an vielen Genorten steigt mit zunehmenden Inzuchtkoeffizienten. Dieser ist nach Selbstbefruchtung am höchsten, nach Paarung unter nicht verwandten Individuen am geringsten.

Viele Arbeiten befassen sich nur mit Inzuchtdepression in den ersten ontogenetischen Phasen nach Selbstbefruchtung. Bei vielen Pflanzen kommt es durch inzuchtdepressive Mechanismen im Stadium der Embryonalentwicklung zu verringertem Fruchtansatz (z. B. G 1993,

MORSE 1994, RATHKE und REAL 1993, ROBERTSON und MCNAIR 1994, STACY et al. 1996, STEPHENSON und WINSOR 1986, TYBIRK 1993). ECKERT und BARRETT (1994) sowie SURLES

et al. (1989) haben Inzuchtdepression in Form geringerer Keimprozente selbstbefruchteter Samen festgestellt.

Mehrere (in ihrer Blühbiologie der Linde sehr ähnliche) Eukalyptusarten zeigen Inzuchtde-pression über einen langen Lebensabschnitt. In der Phase vom Fruchtansatz bis hin zum mehrjährigen Baum liegt die Viabilität selbstbefruchteter Nachkommen unter denen fremdbe-fruchteter (ELDRIDGE und GRIFFIN 1983, GRIFFIN und COTTERILL 1988, HARDNER und POTTS

1995, KENNINGTON und JAMES 1997). Inzuchtdepression kann auch noch während der Repro-duktionphase von bis dahin nicht selektierten Nachkommen auftreten. Inzuchtdepressive Pflanzen produzieren weniger Blüten und bilden weniger und kleinere Früchte aus (CARR und DUDASH 1995, HAUSER und LOESCHKE 1995, VAN TEUREN et al. 1993). Der Grad der In-zuchtdepressivität von Nachkommenschaften ist auch davon abhängig, ob die Eltern ihrerseits schon aus Verwandtschaftspaarung oder Selbstbefruchtung hervorgegangen sind. Je größer der Inzuchtkoeffizient der Eltern, umso größer auch der Grad der Homozygotie und infolge-dessen die Inzuchtdepression ihrer Nachkommen. Dieser Effekt ist besonders ausgeprägt, wenn diese Nachkommen wiederum aus Selbstbefruchtung (fortgesetzte Selbstbefruchtung) entstanden sind (HAUSER und LOESCHKE 1995, KREBS und HANCOCK 1990, WOLFE 1993,

VAN TEUREN et al. 1993).

Inzuchtdepression kann in den verschiedensten ontogenetischen Stadien und in unterschiedli-chen Ausmaßen wirksam werden. Bei HOLSINGER und THOMSON (1994) ist Inzuchtdepression in Stadien der Embryonalentwicklung und der Keimung der Samen wirksam. In nachfolgen-den Stadien weisen ingezüchtete Individuen keine verminderte Viabilität gegenüber fremdbe-fruchteten Individuen auf. Bei HAUSER und LOESCHKE (1995) war der Fruchtansatz selbstbe-fruchteter Blüten und das Gewicht der Samen mit denen fremdbeselbstbe-fruchteter vergleichbar und Inzuchtdepression setzte erst später ein. Ebenfalls wird von Inzuchtdepressionen unterschied-licher ontogenetischer Stadien berichtet, die in zeitunterschied-licher Abfolge voneinander getrennt sind (SCHEMSKE 1983, VAN TEUREN et al. 1993).

Die Stärke der Inzuchtdepression kann auch indirekt von der Dichte der Population beeinflußt werden. Nach STANTON et al. (1991) und KENNINGTON und JAMES (1997) ist die Selektion in dichten Populationen ausgeprägter, da hier ein größeres Artenspektrum an Insekten in höherer Abundanz angelockt wird, die zu einer erhöhten Fremdbefruchtungsrate der Blüten beitragen.

Eine erhöhte mittlere Fremdbefruchtungsrate führt zu einem verstärkten Konkurrenzdruck gegen den geringen Anteil selbstbefruchteter Nachkommen. Ebenfalls steigern inter- und

intraspezifische Konkurrenz sowie physiologische Streßfaktoren die Wirkung von Inzuchtde-pression (CARR und DUDASH 1995, DUDASH 1990, MARSHALL und ELLSTRAND 1988, SCHEMSKE 1983, VAN TEUREN et al. 1993).

Das Ausmaß von Inzuchtdepression ist des weiteren abhängig vom vorherrschenden Paa-rungssystem der Pflanzenart. Obligatorisch fremdbefruchtete Arten weisen stärkere Inzucht-depressionsmechanismen auf als obligatorisch selbstbefruchtete Arten. Als grober Richtwert wird bei obligatorisch fremdbefruchteten Arten ein 50 %iger Viabilitätsnachteil selbstbefruch-teter Nachkommen angegeben. Bei obligatorisch selbstbefruchteten Arten liegt der Viabili-tätsnachteil dieser Nachkommen bei 25 % im Vergleich mit den aus Fremdbefruchtung ent-standenen (CHARLESWORTH und CHARLESWORTH 1987, LANDE und SCHEMSKE 1985).

Hohlkörner können durch ausbleibende Befruchtung der Eizellen (Pollenlimitation, Inkompa-tibilitäten) oder durch gehemmte Entwicklung der Embryonen (z. B. durch Inzuchtdepression) gebildet werden. Häufig ist eine genaue Unterscheidung, auf welche der Ursachen die Bil-dung von Hohlkörnern genau zurückzuführen ist, schwierig (HATTEMER et al. 1993).

Mit Hilfe lichtmikroskopischer Untersuchungen haben PIGOTT und HUNTLEY (1981) den Fruchtansatz einer Winterlinde detailliert untersucht. In dem für England außergewöhnlich warmen Sommer 1976 produzierte diese Winterlinde 16 % fertile Früchte und in weiteren 20 % waren die Embryonen waren unvollständig entwickelt. Die restlichen 64 % wiesen ver-schrumpelte Eizellen auf, die auf eine nicht erfolgte Befruchtung hinweisen. Auf die Mög-lichkeit, daß diese 20 % unterentwickelten Samen auf die Existenz inzuchtdepressiver Me-chanismen zurückzuführen sind, wird in der Arbeit von PIGOTT und HUNTLEY (1981) nicht explizit eingegangen, ihre Beobachtungen machen diese aber sehr wahrscheinlich.

Nach ROHMEDER (1972) sind im Durchschnitt langjähriger Samenprüfungen nur knapp 48 % der Samen der Winterlinde keimfähig. Als Normwert für Handelssaatgut wird für die Winter-linde jedoch 80 % Keimfähigkeit der Samen vorausgesetzt (ROHMEDER 1972). In einer jünge-ren Arbeit von KLEIN (1992) wird von weitaus geringeren Anteilen keimfähiger Samen be-richtet. Nach Angaben der hessischen Samendarre Wolfgang erwiesen sich im langjährigen Mittel nur 9 % bzw. 22 % der geernteten Samen zweier Winterlindenbestände als keimfähig.

Bei eigenen Untersuchungen beerntete KLEIN (1992) 18 Winterlinden und überprüfte die Le-bensfähigkeit optisch vital erscheinender Samen mittels des Tetrazoliumtests. Dabei zeigte sich, daß von diesen optisch vitalen Samen laut Tetrazoliumtest 15-89 %, im Mittel 56 %, nicht lebensfähig waren.

KLEIN (1992) erwägt die Möglichkeit, daß inzuchtdepressive Mechanismen bei der Winter-linde die Ursache für den von ihm beobachteten vorzeitigen Fruchtabort und den hohen Anteil nicht lebensfähiger Samen sein könnten. Über vorzeitige Fruchtabortion im großen Umfang wird ebenfalls von anderen Autoren berichtet (siehe dazu folgendes Kap. 2.10). Über 90 % der Früchte der Winterlinde enthalten einen, weniger als 10 % zwei Samen und nur vereinzelt werden drei Samen pro Frucht gebildet (EISENHUT 1957, PIGOTT und HUNTLEY 1981). Vielen fertilen Eizellen bleibt demnach eine Entwicklung zum Samen vorenthalten. Nach EISENHUT

(1957) tritt nach der Befruchtung mehrerer Eizellen eines Ovariums ein starker Konkurrenz-kampf um Platz und Nährstoffe ein, durch die eine Auslese eingeleitet wird. EISENHUT (1957) zieht nicht direkt eine Selektion durch Inzuchtdepression in Erwägung; da er aber die Linde als selbstfertil bezeichnet und Geitonogamie als die vorherrschende Bestäubungsart bei der Linde erachtet, ist die Existenz inzuchtdepressiver Mechanismen bei der Linde eine sehr plau-sible Schlußfolgerung aus seinen Beobachtungen.

Fazit

Mechanismen der Inzuchtdepression sind von sehr vielen Blütenpflanzen bekannt. Ein Inzuchtdepression kann verstärkte Selektion gegen aus Selbstbefruchtung entstandene Nachkommen in allen ontogenetischen Stadien von der Embryonalentwicklung bis hin zur erneuten Reproduktionsphase und in unterschiedlichster Intensität bewirken. Bei der Winterlinde kann aufgrund bisheriger Untersuchungen die Existenz von Inzuchtde-pression zumindest für die Phasen der Embryonalentwicklung und der Keimung der Samen angenommen werden.