• Keine Ergebnisse gefunden

Die Dimension der „Personwerdung“ ist schwer zu greifen. Es gibt zahlrei-che Forschungsergebnisse aus der fäzahlrei-cherübergreifenden Kindheitsforschung, die Hinweise darauf geben, was einem Kind dienlich sein kann, seine Indivi-dualität zu entfalten (vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Hrsg., 1998 a). Doch eben dieser Umstand, dass sich hier etwas entfalten soll, das einzigartig ist, macht die Identifikation und Verallgemei-nerung von Bedürfniskriterien und auch deren Operationalisierung schwie-rig.

„Ich will lehren, das wunderbare, von Leben und faszinierenden Überra-schungen erfüllte schöpferische „Ich-weiß-nicht“ der modernen Wissen-schaft vom Verhältnis zum Kinde zu verstehen und zu lieben.“ (Korczak, 1987, S. 1)

Ich halte es für sinnvoll, im Folgenden den pädagogischen Ansatz von Köh-ler (1997, 2000) zu skizzieren, um der Individual-Dimension im Kontext von Kindsein und Kindheit Raum zu geben, der m. E. nötig ist, um der Komple-xität der Frage „Was braucht ein Kind?“ gerecht zu werden.

Köhler ist Heilpädagoge und reflektiert und analysiert Fragen des Kindseins.

Er geht in seinen Büchern und Vorträgen vorwiegend der Frage nach, was sinnhaftes Dasein ist und was pädagogisch notwendig ist, um Kindern eine Umgebung zu schaffen, in der sie so aufwachsen können, dass sie ihr Leben

als sinnhaft erfahren können. Im Zentrum seiner Betrachtung steht das Kind.12

Sein pädagogischer Ansatz bezieht sich in wesentlichen Grundsätzen auf das Werk von Korczak (vgl. Korczak, 1987, Dauzenroth, 1996). Dieser entwi-ckelte in seinem Lebenswerk, das er bis zu seinem Tod den Kindern gewid-met hatte, drei handlungsleitende Grundsätze:

Der erste ist sein individualistischer Ansatz:

„DieKinder in einer so allgemeinen Form gibt es eigentlich gar nicht! Es gibt eine Kindheit, und für jedes einzelne Menschenkind ist das etwas ganz anderes, etwas ganz Besonderes, etwas ganz Eigenartiges und Un-verwechselbares. Und wir verstehen niemals „die Kinder“, sondern im-mer nur das jeweilige Kind das uns anvertraut ist, in dem Augenblick, wo wir es anschauen“ (Korczak in Köhler, 2000, S. 15).

Diesen individualistischen Ansatz, den Köhler sich zu eigen gemacht hat, verbindet Korczak mit dem Gleichberechtigungspostulat: Ein Kind ist ein vollwertiger Mensch von Beginn an.

Der zweite Grundsatz ist das Motiv des Respekts vor dem Schicksal. Korc-zak sagt dazu:

“Das Neugeborene ist wie ein Blatt, das mit tausend kleinen Hierogly-phen beschriftet ist, von denen wir viele nicht entziffern können.“ (Korc-zak in ebd., S. 16 f)

Er geht sogar soweit, zu sagen, dass jedes Kind das Recht auf den eigenen Tod hat. Dies betont den großen Respekt vor dem jeweiligen Schicksal und

12Köhlers Ansatz ist anschlussfähig an Frankls Konzept eines „Willens zum Sinn“ (vgl.

begrenzt die Möglichkeiten des Erziehers, auf das Leben des Kindes einzu-wirken.

Der dritte Grundsatz Korczaks ist die Dankbarkeitsforderung. Korczak hat die Blickrichtung umgekehrt: Nicht das Kind schuldet dem Erwachsenen Dankbarkeit.

„Vielmehr haben wir ihnen dankbar dafür zu sein, daß sie sich uns anver-trauen und unser Leben mit Licht erfüllen.“ (Korczak in ebd. S. 19. Vgl.

auch Dauzenroth, 1996).

Wird der individualistische Ansatz als Grundlage genommen und damit vor-ausgesetzt, dass das Kind mit einem eigenen, unverwechselbaren Wesen zur Welt kommt, so relativiert sich laut Köhler der Gedanke von genetischer Programmierung und Umweltprägung. Das materialistische Menschenbild wandelt sich dann in ein spirituelles.

Er fordert, das Individuum, das Ureigene des einzelnen Menschen, zum For-schungsthema zu machen. Köhler greift Montessoris Konzept auf. Sie geht soweit, darüber nachzudenken, dass das Kind schon vor der Geburt ein See-lenleben besitzt. Durch Montessori kommt der Begriff „Inkarnation“ in den erziehungswissenschaftlichen Diskurs. Wer diesen Begriff akzeptiert, muss davon ausgehen, dass

„die geistig-seelische Individualität, die sich im Empfängnis- und Ge-burtsgeschehen „verkörpert“, vor diesem Verkörperungsvorgang in ei-nem präkonzeptionellen Seinszustand als Individualität schon anwesend war... Das würde also heißen, dass ein Kind nicht erst entsteht, wenn es geboren ist, sondern dass es die Seins-Ebene wechselt“. (Köhler, 2000, S.

27, vgl. Montessori, 1952 und 1973)

Köhler verweist in diesem Kontext auch auf Hillmann, der einen

Paradig-menwechsel feststellt. Die Menschen sind nach Hillmann nicht mehr zufrie-den damit, ihre persönliche Geschichte als eine Geschichte von Kausalitäten zu betrachten. Diese Betrachtungsweise trägt nicht dazu bei, Sinnfragen nä-her zu kommen. Die nä-herrschende Psychologie ist eine Psychologie der Ab-leitungen. Menschen sind demnach nichts anderes als ein Resultat. Er ist der Überzeugung, dass dieses Denkmodell sich auflöst und dass der universale, in den meisten Weltkulturen anzutreffende Mythos von Bedeutung ist, der besagt, dass ein Kind die Welt mit einer Berufung, mit einem individuellen Schicksal, betritt (vgl. Hillmann, 1998).

Die pädagogische Konsequenz daraus ist, dass der Erzieher eine Schicksals-führung zu akzeptieren hat. Es gibt nach Köhler etwas, das dem Menschen zugewiesen ist als sein ureigenster Wille, den er mit auf die Welt bringt.

Dieser wird in geistiger Weise geleitet und gehütet. Daraus ergibt sich eine andere Sichtweise auf die „Eigenarten“ des Kindes. Es sind dann keine Stö-rungen, sondern Besonderheiten, die eng verbunden sind mit dem Weg des Kindes und den dazu erforderlichen Fähigkeiten. Auch Montessori spricht immer wieder von dem Geheimnis, vor dem die Erzieher den nötigen Re-spekt aufbringen müssen (vgl. Montessori, 1967).

Das Kind hat nach Köhler das Recht auf seinen Weg. Erwachsene können hier „hilfreiche Begleiter“ bei Aufgabe des Kindes sein,

„sein ganz und gar Eigeneszu enthüllen und in die Welt hineinzutragen“

(Köhler, 2000, S. 66).

Im Rahmen der Überlegungen für ein erweitertes Entwicklungsmodell, das spirituelle Aspekte integriert, wird es hilfreich sein, Köhlers Ansatz mit ein-zubeziehen (vgl. Kap. 4.1.3).

3.2 Kindheit

Ein historischer Abriss ist sinnvoll, um sich dem Thema annähern zu kön-nen. Kindheit und „Muttersein“ lassen sich nicht wirklich voneinander tren-nen. Da die Geschichte vom „Kindsein“ in Kapitel 6.3 “„Mutter-Sein“ im Wandel der Zeit“ mit dargestellt wird, verzichte ich an dieser Stelle weitgehend darauf, das Thema „Kindheit im Wandel der Zeit“ näher auszuführen.

Kindheit ist keineswegs ein selbstverständliches Element des gesellschaftli-chen Lebens, über das eine einheitlich anerkannte Vorstellung existiert. In den letzen 200 Jahren ist in Deutschland Kindheit als Lebensphase zuneh-mend institutionalisiert worden. Sie ist zwar eingebunden in den privaten Rahmen der familialen Lebenswelt. Zentraler Ort, in dem Kindheit stattfin-det, ist nach wie vor die Familie. Im Zuge der Institutionalisierung haben sich jedoch charakteristische Räume und Institutionen für Kinder herausge-bildet. Das Erziehungs- und Bildungswesen wurde seither zunehmend auch zur öffentlichen Angelegenheit. Folge davon war die Entstehung und der Bedeutungszuwachs wissenschaftlicher Teilgebiete, die sich darauf speziali-sierten, wie Erziehungswissenschaft, Entwicklungspsychologie, Kinderpsy-chiatrie oder Kinderheilkunde. So ist eine Vergesellschaftung und Verwis-senschaftlichung der Kindheit zu beobachten.

Die Forschung und ihre jeweiligen Theorien über Kindheit präferieren je nach ihrer paradigmatischen Ausrichtung zwei verschiedene Hauptansätze:

Eine Richtung der Kinderforschung betont die aktive Aneignung der Um-welt durch die Kinder, während eine andere den Einfluss der gesellschaftli-chen Lebensbedingungen auf kindliche Verhaltensmuster herausarbeitet.

Während auf der einen Seite Kinder als Subjekte und Akteure ihrer Lebens-welt in einer vielleicht auch widrigen UmLebens-welt gesehen werden, wird auf der

anderen Seite Kindheit als Produkt gesellschaftlicher Definitionsprozesse gesehen. Manche sprechen vom Verschwinden der Kindheit oder davon, dass Kinder in Randzonen gesellschaftlichen Leben vertrieben werden (vgl.

Postman, 1999). Es ist anzunehmen, dass wir insgesamt noch wenig von Kindern und ihrer Lebenswelt verstehen.

Kindheit kann unter zweierlei Blickwinkeln als biografische Phase des Auf-wachsens bezeichnet werden: Ein Kind bildet einerseits seine Persönlichkeit aus und wächst andererseits in die Gemeinschaft hinein. Es hat Bedürfnisse, die ganz individuell seiner persönlichen Reifung dienen und braucht neben der förderlichen Fürsorge für seine physische Entwicklung auch Unterstüt-zung für diese Entwicklungsaufgabe. Dies ist die intrapersonale Dimension.

Für das Hineinwachsen in die Gemeinschaft und das „Sozialwerden“ benö-tigt es andererseits ebenfalls die notwendige Unterstützung zur Erfüllung seiner Bedürfnisse als soziales Wesen, womit die interpersonale Dimension angesprochen ist.