• Keine Ergebnisse gefunden

Die Instrumentalisierung der Angst

Angst hatten in erster Linie die, auf die es in erster Linie nicht allzu sehr ankam, nämlich die Zivilisten. Doch wie stand es um die berufenen Experten für den Luftkrieg, die Planer und Analytiker der Royal Air Force. Die RAF verfügteüber ein durchaus zutreffendes, oft sogar erstaunlich präzises Bild9 vom aktuellen Stand der deutschen Rüstung.10Dennoch trat sie der verzerrten Wahrnehmung 6 King’s College, London, Liddell Hart Papers 292/56, Brief Foresters vom 26. September 1939.

7 Vgl. CAB 53/10, 265th Mtg. COS (Chiefs-of-Staff Sub-Committee), 21. Dezember 1938 (Newall: »was disinclined to accept the view that we were finished if Germany occupied the Channel ports«.)

8 Vgl. die präzisen Angaben bei Francis K. Mason, Battle over Britain. A History of the German Air Assaults on Great Britain, 1917–18 and July–December 1940, and of the Development of Britain’s Air Defence between the World Wars, London 1969.

9 Vgl. z.B. die Angaben in den Appreciations AIR 9/76 (Comparison of the Strength of Great Britain with that of certain other nations 1938), verglichen mit den Ziffern bei Karl-Heinz Völker, Die deutsche Luftwaffe 1933–39, Stuttgart 1967; Lothar Höbelt, Die britische Ap-peasementpolitik. Entspannung und Nachrüstung 1937–1939, Wien 1983, S. 131 f.

10 Entgegen dem negativen Urteil von Wesley K. Wark, Ultimate Enemy. British Intelligence and Nazi Germany 1933–1939, Oxford 1986, der bloßdie Prophezeiungen der Frühphase rügt (vgl. die Graphik auf S. 245), aber selbst an der fragwürdigen These vom Abschreckungswert der Luftwaffen der dreißiger Jahre festhält (S. 78); diverse irreführende Andeutungen finden sich auch bei Ian Kershaw, Making Friends with Hitler. Lord Londonderry and Britain’s Road to War, London 2004, S. 83, 106 f. Beide inkriminierten Aussagen Londonderrys – dass die Luftwaffe bis Ende 1937 keine ernsthafte Bedrohung darstellen würde und dass ein ver-mehrter Ankauf von Flugzeugen 1935 im entscheidenden Moment nur zu einer Masse von

der Öffentlichkeit (und der Politik) nicht entgegen. Hier kommen wir vom Sektor der »depressiven Erwartungseffekte« zur Weckung von »Aufmerksam-keitspotentialen«, nämlich dem Bereich des klugen Lobbying und der interes-sengeleiteten Aussagen.

Anders gefragt: Konnte es sich die RAF überhaupt leisten, die deutsche Luftwaffe nicht zuüberschätzen? Denn natürlich kam die zuweilen an Hysterie grenzende Stimmungüber die Gefährdung durch Bombenangriffe dem Anliegen der RAF nach höheren Zuwendungen entgegen. Wir stoßen hier auf ein be-kanntes Muster, den manipulativen Umgang mit der Angst (oder auch anderen Emotionen), wie es typisch für die PR-Abteilungen aller Managementhierar-chien ist, im konkreten Fall: Auswärtige Gefahren werdenüber Gebühr dra-matisiert, um eine Erhöhung des Wehrbudgets durchzusetzen. Dabei ging es freilich nicht bloß – wie bei vielen ähnlichen Manövern – um höhere Rü s-tungsausgaben im Allgemeinen, sondern um ein Ringen innerhalb der Streit-kräfte, im Sinne einer Umschichtung des Wehrbudgets von Heer und Marine zur RAF, wie sich das an Hand der Zahlen leicht ablesen lässt: Der Anteil der RAF an den britischen Rüstungsausgaben verdoppelte sich von 1934 bis 1937 von 16 auf 32 Prozent (und erreichte 1939 dann schon 44 Prozent).11 Das allein mochte Grund genug sein, warum sich die Experten diverseÜbertreibungen gern ge-fallen ließen. Schließlich waren es ja auch die militärisch ineffektiven deutschen Luftangriffe 1917/18 gewesen, die zur Gründung der RAF als einer selbständigen Waffengattung geführt hatten, als der weltweit ersten ihrer Art, gefolgt von einem »twenty year war of independence on the part of the Air Ministry«.12

Umgekehrt trat angesichts der Konzentration auf die Bedrohung aus der Luft der Stellenwert anderer Wehrmachtsteile in den Hintergrund, so zum Beispiel wenn der Innenminister Sir Samuel Hoare Ende 1938 dem Heer als vorrangige Aufgabe zuwies: »ADGB [Air Defence of Great Britain] was the principal role of the army.«13Das Resultat beschrieb der stellvertretende Generalstabschef Pow-nall: »All sorts of fatuous schemes to have men permanently hanging around the gun positions. […] The Territorial Army will gladly come out if there is an emergency, but not merely because His Majesty’s Government cannot decide whether there is an emergency or not.«14War es bis 1938 das Heer, das zwischen

»obsolescent aircraft« geführt hätte – erwiesen sich als richtig. Vgl. Smith, Air Strategy, S. 253 ff.über die »stop-gap orders«.

11 Vgl. Höbelt, Appeasementpolitik, S. 196. Ein Armeevertreter kommentierte: »As if he /Newall/ hadn’t had the moon already – more than he can usefully spend, if one judges by the slowness with which the RAF programme has developed.« (Brian Bond (Hg.), The Diaries of Lt.-Gen. Sir Henry Pownall, Bd. 1, London 1972, 2. Januar 1939).

12 Smith, Air Strategy, S. 304.

13 CAB 2/7, 341stMtg. CID (Committee of Imperial Defence), 15. Dezember 1938.

14 Bond (Hg.), Pownall-Diaries, 27. März 1939. Allerdings war auch Pownall nicht ganz frei von

der von den Schranken der Flottenverträge befreiten Royal Navy und der RAF zerrieben zu werden drohte,15so geriet ab Februar 1939 im Zeichen eines er-neuten »Continental Commitment« und unmittelbarer Krisenszenarien die Marine mit ihren langfristigen Ausbauprogrammen in Argumentationsnot-stand. Das Resultat hat ein Kenner so zusammengefasst: »A defence policy designed almost solely to avoid an unrealistic military scenario made the risks even greater than they need otherwise have been.«16

Präziser noch: Es ging bei diesen Schreckensszenarien nicht allein um Lob-bying für die RAF, sondern um die Propagierung einer ganz bestimmten Ab-wehrstrategie – einer AbAb-wehrstrategie freilich, die eben gerade nicht als Vor-bereitung des Systems der ADGB gelten kann, die sich 1940 mit ihren Radar-stationen und Jägerhorsten so sehr bewährte, sondern einseitig auf Vergel-tungsangriffe ausgerichtet war. Auf die Gefahr hin, ein Klischee zu bemühen, lässt sich dieser Zusammenhang nicht besser illustrieren als durch die immer wieder zitierte Unterhausrede Stanley Baldwins vom 10. November 1932: »I think it well for the man in the street to realize that there is no power on earth that can protect him from being bombed. Whatever people may tell him […] the bomber will always get through.«17

Das war damals – zumindest aus der Perspektive Londons – richtig, denn sobald feindliche Flugzeuge an der Kanalküste gemeldet wurden, reichte die Zeit nicht mehr aus, eigene Abfangjäger aufsteigen zu lassen, bevor der Gegner die Stadt erreicht hatte. Baldwins Warnung zeichnete dennoch ein falsches Bild der Lage, denn keines der Flugzeuge des Jahres 1932 war zu solchen weit ausgrei-fenden Unternehmungen in der Lage. Als dann die Bomber jedochüber ent-sprechende Reichweite und Tragkraft verfügten, hatten sich inzwischen auch die Abwehrmöglichkeiten verbessert, wie nicht zuletzt die »Battle of Britain«

deutlich machen sollte. Diese Dynamik verhalf der RAF 1940 zu ihrem vielleicht berühmtesten Erfolg, stellte aber zugleich die Fundamente ihrer Strategie in Frage: Wenn strategischer Bombenkrieg selbst unter Einsatz von Begleitjägern nicht zum Erfolg führte, mussten seine Chancen bei Langstreckeneinsätzenüber dem deutschen Hinterland noch weit geringer ausfallen. Hier half dann wie-derum nur der Verweis auf den noch schwereren, noch besser bewaffneten

den Befürchtungenüber einen »k.o. blow«: »A year or 18 months hence we shall be rea-sonably secure from defeat in a short war.« (26. Dezember 1938).

15 Vgl. Generalstabschef Gorts immer noch vorsichtig formulierte Beschwerde: »It might al-most seem that the importance of the air defence of Great Britain had been overstressed in relation to our vital commitments elsewhere.« (CAB 53/8, 227thMtg. COS, 19. Januar 1938).

Sein Nachfolger Ironside zeigte sich von der Bomberdrohung hingegenüber die Maßen beeindruckt (vgl. Bond, Military Policy, S. 278).

16 Smith, Air Strategy, S. 320.

17 Zitiert nach Keith Middlemas/John Barnes, Baldwin. A Biography, London 1969, S. 735.

Bomber der Zukunft, den »Idealbomber«, ein »Luftraumschiff« mit 3 000 Ki-lometern Reichweite, 4 bis 6 Tonnen Bomben an Bord und mehreren elektrisch betriebenen Kanonentürmen.18

Denn die deprimierende Vision, die mit der Erkenntnis einherging, dass England bis zu einem gewissen Grad aufgehört hatte, eine Insel zu sein, war von Baldwin 1932 sehr wohl mit dem Verweis auf Handlungspotentiale gepaart worden: »The only defence is offence, which means that you will have to kill women and children more quickly than the enemy, if you want to save your-selves.«19 Diese bewusst provokante Formulierung sollte durch ihre Schock-wirkung eine pazifistisch angehauchteÖffentlichkeit aus ihrer Lethargie reißen.

Dabei enthielt auch diese Vergeltungstheorie, die oberflächlich betrachtet be-reits auf das Flächenbombardement des Zweiten Weltkrieges verwies, ein ge-höriges Element der Desinformation: Denn die bevorzugten Ziele der RAF vor 1939, ja vor 1942, waren ganz andere als die apostrophierten »women and children«. Luftfahrtminister Swinton schränkte intern schon aus anderen Gründen ein: »The object was not indiscriminate counter-attack – for there was no London in Germany.«20

Wiederum muss differenziert und zugespitzt werden. Bei der einseitig auf eine Vergeltungsstrategie fixierten Schlussfolgerung handelte es sich um kein publizistisches Manöver der »Militärs« schlechthin, auch nicht der RAF, sondern der dominanten Strömung innerhalb der RAF, die als einzige konsequent einen strategischen Luftkrieg anpeilte. Diese Strategie erschien zwar mit ihrem in Kauf genommenen »collateral damage« ziviler Verluste auf den ersten Blick inhuman, versprach aber auch wiederum Menschenleben zu schonen, wie ihre Propo-nenten nicht müde wurden zu betonen: Denn sie sollte durch gezielten Einsatz gegen die Schwachstellen der gegnerischen Kriegswirtschaft – als komplemen-täre Strategie zur Blockade – die blutigen Kämpfe zu Lande, wie sie durch Namen wie Somme oder Passchendaele symbolisiert wurden, tatsächlichüberflüssig machen.21 »Air war would be unprecedentedly savage, but it would also be unprecedentedly short.«22Tatsächlich stößt man hier bereits in den dreißiger Jahren auf eine Symbolfigur des Bombenkrieges, auf Arthur »Bomber«-Harris, 18 Vgl. Sir John Slessor, The Central Blue, London 1956, S.174 ff.

19 Middlemas/Barnes, Baldwin, S. 735. Vgl. eine späte Paraphrase dieses Diktums in einem neueren Werk mit apologetischer Tendenz: Robin Neillands, The Bomber War, London 2001, S. 30: »The bomber when deployed strategically is fundamentally a terror weapon, and that fact has to be faced and not fudged.«

20 CAB 53/90 A, 49thMtg. Cab. (Cabinet), 22. Dezember 1937.

21 Auch der oft zitierte italienische Theoretiker des Luftkriegs, Giulio Douhet, war ein enga-gierter Kritiker der Praktiker des Stellungskrieges (und ist deshalb 1916 sogar im Arrest gelandet). Vgl. Gianni Rocca, Cadorna. Il Generalissimo di Caporetto, Mailand 1985, S. 149, 22 Smith, Air Strategy, S. 310.178.

damals (Deputy) Director of Plans, der im Herbst 1936 die alarmistische Vor-aussage von sich gab, bei einem 1939 ausbrechenden Krieg müsse man mit 150 000 Bombentoten bereits in der ersten Woche rechnen.23

Konsequent weitergedacht hießdas, Luftflotten könnten Kriege in nicht allzu ferner Zukunft im Alleingang entscheiden – eine Prophezeiung, die sich im nuklearen Zeitalter (wenn auch glücklicherweise nur in der Theorie) bewahr-heiten sollte; ähnliche Behauptungen wurden von Harris 1942 aufgestellt, blitzten aber auch vorher schon auf. Als Sir Cyril Newall, der neue Chief of the Air Staff, 1937 sein Amt antrat, musste er sich bereits gegen den Vorwurf einer solchen – im doppelten Sinne – »isolationistischen« Strategie der RAF vertei-digen. »The idea had got about that the RAF would run a private war of their own.«24Sein neuer Director of Plans, John Slessor, hatte schon im Vorjahr, in seinem BuchAir Power and Armiesdiesem Vorwurf die Zähne zu ziehen ver-sucht, wenn er zugab: »No attitude can be more vain or more irritating in its effects than to claim that the next Grand War will be decided in the air, and in the air alone.«25

Sobald Bomberflotten als die entscheidende Waffe jedes zukünftigen Krieges galten, kam ihnen naturgemäßauch die Rolle als primäre Abschreckungswaffe zu, als »deterrent«, wie es der Zivilist Kingsley Wood, der Chef der Londoner Konservativen, der im Mai 1938 als Nachfolger Swintons das Air Ministry übernahm, gehorsam nachbetete: »The bomber force was the best deterrent to avoid war.«26Diese Abschreckungsfunktion wurde im politischen Diskurs auf

»parity« reduziert, auf einen numerischen Gleichstand mit der deutschen Luftwaffe als Mindesterfordernis, das einem gewissen Prestigedenken verhaftet war, aber auch als Unterpfand für Abrüstungsverhandlungen dienen sollte, dabei aber militärisch schwerlich sinnvoll zu definieren war.27

23 Vgl. die imÜbrigen durchaus wohlwollende Biographie von Henry Probert, Bomber Harris, London 2003, S. 76. Möglicherweise lag dieser »Schätzung« ein Schlüssel von 50 Toten pro Tonne Bomben zugrunde (vgl. Wark, Ultimate Enemy, S. 67, 256). Im Zweiten Weltkrieg lag das Verhältnis in Großbritannien dann bei knapp unter einem Toten auf eine Tonne Bomben, in Deutschland war die Rate noch etwa um die Hälfte niedriger.

24 CAB 53/11, 290thMtg. COS, 25. April 1939.

25 King’s College, London, Liddell Hart Papers 10/36, 12. September 1936; vgl. auch Smith, Air Strategy, S. 60.

26 CAB 23/95, 53rdMtg. Cab., 7. November 1938.

27 Das Konzept der »parity« mit Deutschland »relied on very complicated arithmetic«; allein schon die Definition von »first line air figures« habe sich als Minenfeld erwiesen. 1938/39 stand dahinter nicht zuletzt das Kalkül, durch die Einführung von schweren viermotorigen Bombern hinter der Fassade von »parity« eineüberlegene »striking force« zu bilden (Smith, Air Strategy, S. 143, 146, 170, 217).