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Furcht und fachliche Autosuggestion

Anspannung all ihrer Kräfte in den ersten Kriegstagenüber London abwerfen könnte, nämlich maximal – infolge der bekannten »German love of the Kolossal«

– 2 000 bis 3 500 Tonnen.50Eine spätere Kalkulation (»on a mathematical cal-culation of the possibility of the worst case, in conditions most favorable to the enemy, based on a rate of intensity which may well be too high«) schraubte diese Zahl sogar noch zurück auf 900 Tonnen.51

Dochüber die Wirkung dieses Bombardements auf die Infrastruktur (oder auch die Moral der Bevölkerung) fehlten schlicht die Erfahrungswerte. »The outcome of unrestricted air attack on this country by Germany is impossible to forecast with any accuracy.«52Newall gab das Ausmaßdieser Unsicherheit offen zu: Auch eine eingehendere Studie könne zu keinen verlässlichen Resultaten führen.53Der RAF-Chef schloss daher vorsichtig, aber bestimmt: »[…] in an issue of this gravity we cannot afford to base our preparations on any as-sumption but that the attempt may be made.« Auch Liddell Hart, bekannt durch seine Kontroversen mit der orthodoxen Heeresleitung,54riet befreundeten Po-litikern: »I should cautiously avoid ruling out the possibility of decision by bombardment alone« (und setzte hinzu: »We will get there in time.«)55Über die Haltung der Zivilbevölkerung hießes in einem Rundblick der Stabschefs Anfang 1939 dann mit patriotischer Inkonsequenz: »We do not doubt the morale of our people, whereas we should hope that well-organized propaganda might do much to undermine the confidence of our enemies.«56

Der Verdacht, dass Deutschland – allen Vorbehalten zum Trotz – doch auf einen »knock-out blow« setzte, wurde durch einen fachlichen Zirkelschluss untermauert, der eigene Annahmen auf den Gegner projizierte: »No one can say with absolute certainty that a nation can be knocked out from the air, because no one has yet attempted it. There can be no doubt, however, that Germany and Italy

50 Vgl. CAB 53/32, COS-Paper 603, 20. Juli 1937 (»Estimated Scale of Air Attacks on England in the Event of War with Germany«); COS-Paper 616, 17. September 1937 mit der erläuternden Bemerkung des Air Staff: »We ourselves hope to operate at maximum intensity during the first week.«

51 AIR 9/90 (»German Emergency 1938«). Wenn dabei immer noch die Kapazität der He 111 überschätzt wurde, wie Wark (Ultimate Enemy, S. 66 f.) kritisiert, so handelte es sich doch um eine »worst case assumption«; mittelfristig wurde mit 500 bis 600 Tonnen gerechnet (was genau dem Ergebnis der Tabelle von Wark entspricht).

52 CAB 53/37, 697 JP, 19. März 1938.

53 Vgl. CAB 53/32, COS-Paper 603, Estimated scale of Air Attack on England (Dowding) 20. Juli 1937; CAB 53/9, 220thMtg. COS, 22. Oktober 1937 (Newall).

54 Dem Generalstabschef Deverell schrieb er 1937: »It is at any rate a remarkable thing that though you have been in office 18 months we are still on speaking terms.« (Papers 212/21) Vgl. Brian Bond, Liddell Hart. A Study of his Military Thought, London 1977.

55 King’s College, London, Liddell Hart Papers 242/26, Liddell Hart an »Chink« Dorman-Smith, 17. Februar 1936.

56 CAB 53/44, 831 JP, 26. Januar 1939, Draft European Appreciation.

believe it possible, as there can be no other explanation for their piling up armaments to a level which they could not hope to maintain in a long war.«57 Hinter dieser Annahme verbarg sich die Umorientierung, die Newall selbst in Britannien vorgenommen hatte: Wer den strategischen Bombenkrieg ernst nahm, musste mit einem Ermattungskrieg zur Luft rechnen, bei dem von Anfang an hohe Verluste in Kauf genommen wurden. Eine Ausarbeitung Newalls vom November 1937 rechnete im Schnitt mit Verlusten von 50 Prozent des Standes pro Monat; im Herbst 1938 zum Beispiel mit 4 000 Bombern im ersten Jahr.58Um diese Verluste aufzufangen, mussten entsprechende Reserven zurückbehalten werden, bis die Kriegswirtschaft auf Touren kam. Der Umfang der vorgesehenen Reserven wurde daher von 100 bis 150 Prozent auf 210 bis 285 Prozent der »first line strength« verdoppelt.59Wenn Deutschland (und Italien) sich dieser Logik verweigerten, so konnte das nur bedeuten, sie vertrauten darauf, den Krieg mit einem »knock out blow« in den ersten Wochen beenden zu können. Die Alter-native, dass nämlich die Luftwaffe überhaupt nicht mit einem strategischen Bombenkrieg rechnete, war für die RAF begreiflicherweise Anathema. »They could not see – let alone admit – that others (most significantly their potential enemies) might think differently.«60

Auch diese Projektion, dass Deutschland notwendigerweise auf eine noch viel radikalere Variante des »strategic bombing« setzte als man selbst, war kein bloßes Hirngespinst, sondern eine Ableitung aus wohlüberlegten, doch – wie sich herausstellte – nicht immer hieb- und stichfesten, dabei aber grundlegen-den Annahmen der britischen Planungen. Communis opinio war, dass Deutschland den Ersten Weltkrieg wegen der Blockade verloren habe, und ihm in jedem folgenden Konflikt einähnliches Schicksal bevorstehe: »There seems little doubt that the German General Staff realize that they lost the last war because they failed to win it in the first few months.«61Sobald diese Voraus-setzung akzeptiert war, konnte jegliche deutsche Kriegsbereitschaftüberhaupt nur in dem Sinne interpretiert werden, dass Deutschland entweder bluffte oder aber sich gute Chancen ausrechnete, diesem unausweichlichen Schicksal, das

57 Slessor, Central Blue, S. 152, zitiert Newall vom 8. April 1938.

58 Vgl. AIR 8/222, Scheme J, 22. November 1937; AIR 8/248, 28. September 1938. In AIR 8/226 (Scheme K) finden sich unter dem 18. Januar 1938 Berechnungen der »wastage rates« von Flugzeugen: Bei Bombern wurde sie mit 28 Tagen bei heftiger, mit 55 Tagen bei leichter Abwehr angegeben. Im Kontext derübrigen Berechnungen ging man also offenbar von täglichen Einsätzen aus – eine Intensität, die beim strategischen Bombenkrieg später kei-neswegs erreicht wurde.

59 Vgl. CAB 23/90 A, 49thMtg. Cab., 22. Dezember 1937; AIR 8/222, Scheme J; Slessor, Central Blue, S. 157, 206, 212.

60 Terraine, Right of the Line, S. 63 f.

61 CAB 53/40, 747 JP, 15. Juli 1938, »Appreciation of the Situation in the event of War against Germany in April, 1939«.

auch nicht durch irgendwelche militärischen Zufälle zu beeinflussen war, durch ein K.O. in der ersten Runde zu entkommen.

In der maßgeblichen Studie der Stabschefs vom März 1938 hießes dement-sprechend auch: »The deterrent effect of Great Britain and France opposing German aspirations in Central Europe would depend on the degree of Germany’s expectations that she can obtain a k.o. blow against this country by ruthless use of the German air striking force.«62Aus dieser Sicht hatte dann auch der Di-plomat Harvey tatsächlich recht: »Really impressive Air Raid precautions were probably the greatest guarantee of European peace we could furnish.«63Sobald sich zum Beispiel durch Radar, Spitfires etc. die Lage zugunsten Englands ver-ändert hatte, drängte sich dann der Umkehrschluss auf: »Hitler has missed the bus. His generals won’t let him risk a war now.«64

Die englische Abschreckungsstrategie hat Malcolm Smith boshaft kritisiert:

»A British threat to defend London was hardly likely to change Hitler’s plans for Czechoslovakia.«65Das klingt einleuchtend, freilich nur auf den ersten Blick.

Denn solange die Blockade ihre Wirkung tat, war diese als Abschreckungs-strategie auch tatsächlich genug; wenn die Leuna-Werke, das Zentrum der deutschen synthetischen Treibstofferzeugung, ausreichende Mengen zu pro-duzieren in der Lage waren, dann nicht.66Hitler seinerseits überschätzte im Herbst 1939 den Abschreckungswert seines Bündnisses mit der Sowjetunion, das Chamberlain bloßmit der freudigen Erwartung quittierte, Italien und Japan würden ihm auf diesem Wege kaum folgen.67Der Zweite Weltkrieg – in der Form, wie er im September 1939 ausbrach, ganz anders als in »Mein Kampf« nach-zulesen, nämlich als deutscher Krieg gegen England, und im Bündnis mit Stalin – war in diesem Sinne das Resultat des Scheiterns zweier Abschreckungsstra-tegien. Das nukleare Zeitalter mit seiner »Mutual Assured Destruction« hat zumindest dieses Risiko weitgehend vermindert.

62 CAB 53/37, 697 JP, 19. März 1938, § 90.

63 John Harvey (Hg.), The Diplomatic Diaries of Oliver Harvey 1937–1940, London 1970, S. 429 f. (8. Januar 1939).

64 Robert Self (Hg.), The Neville Chamberlain Diary Letters, Bd. 4: The Downing Street Years, 1934–1940, London 2005, S. 419 (28. Mai 1939),ähnlich schon S. 377 (5. Februar 1939:

»They missed the bus last September […]«).

65 Smith, Air Strategy, S. 175. Vgl. auch das Zitat Ismays vom 22. September 1938 bei Michael Howard, The Continental Commitment. The Dilemma of British Defence Policy in the Era of Two World Wars, London 1972, S. 125.

66 Die Einschätzungen in AIR 9/129 und AIR 9/122, die zum Teil auf französische Quellen zurückgehen, wiesen sehr wohl auf das Potential der Leuna-Werke hin. Vgl. auch Smith, Air Strategy, S. 214.

67 Vgl. Self (Hg.), Chamberlain Diary Letters IV, S. 417 (27. August 1939);ähnlich auch im Brief an Arthur Chamberlain vom 25. Oktober 1939, wo esüber Hitler heißt: »The agreement with Russia, into which he was lead by Ribbentrop, was a diplomatic blunder.« (University of Birmingham Library, Neville Chamberlain Papers 7/6).