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2 Wissenschaftlicher Kontext und Forschungsstand

2.4 Infektionskrankheiten-Surveillance

Durch die Beobachtung der Häufigkeit des Auftretens von Infektionskrankheiten können Maßnahmen zur Verhinderung ihrer Verbreitung durchgeführt werden. Diese Beobachtungs-ansätze werden unter dem Oberbegriff Surveillance zusammengeführt und ein systematisches Vorgehen der Erfassung erfolgt mithilfe von Surveillance-Systemen.

Prämisse der Anwendung von Surveillance-Methoden ist die Reduzierung falsch positiver bzw. falsch negativer Ergebnisse, da nicht entdeckte Häufungen negative Konsequenzen für die Gesundheit größerer Bevölkerungsgruppen haben können und falsch positive Ergebnisse unnötige Kosten für das Gesundheitssystem verursachen.

2.4.1 Surveillance

Wie in Kapitel 1 bereits kurz erläutert, ist unter Surveillance eine „systematische und kontinu-ierliche Sammlung, Analyse und Interpretation von Daten zu verstehen, die eng verbunden ist mit der zeitlichen und verständlichen Weitergabe der Ergebnisse und einer Bewertung für Entscheidungsträger, so dass Maßnahmen erfolgen können“ (Porta et al. 2008, S. 239), um eine weitere Ausbreitung von Erkrankungen verhindern. Fehr & Vogt (2001), die unter ande-rem Declich & Carter (1994) folgen, fügen der Definition eine Raum-Zeit-Komponente hinzu, indem sie Surveillance als „systematische und kontinuierliche Beobachtung eines Geschehens in Raum und Zeit“ definieren.

Zu den Zielen der Surveillance von Infektionskrankheiten gehören unter anderem

− die Identifizierung von Ausbrüchen zur Einleitung von Kontrollmaßnahmen,

− die Identifizierung von Risiken, um Präventionsmaßnahmen durchführen zu können,

− die Validierung von Kontroll- und Präventionsmaßnahmen sowie

− die Generierung von Hypothesen für ätiologische Untersuchungen (Buehler 1998, Drees-man & Benzler 2005, Few et al. 2004).

Eine systematische Erfassung und Analyse von Krankheitsdaten ermöglichen Surveillance-Systeme. Diese Systeme haben die Funktion, einen Überblick über das Krankheitsgeschehen zu geben, um auffällige räumliche und zeitliche Häufungen von Krankheiten möglichst zeit-nah erkennen und ihre Ursachen analysieren zu können. An Surveillance-Systeme werden verschiedene Anforderungen gestellt: Sie sollten unter anderem einfach, flexibel und von den Hauptakteuren sowie den betroffenen Individuen akzeptiert, sensitiv, repräsentativ und zeit-nah sein (CDC 2001, Fehr & Vogt 2001, van Loock 1994).

2.4.2 Erhebung meldepflichtiger Infektionskrankheiten nach Infektions-schutzgesetz (IfSG)

Nach dem IfSG sind der Verdacht, die Erkrankung und der Tod an Krankheiten wie zum Bei-spiel akuter Virushepatitis, Cholera, HUS (vgl. Fußnote 22) oder Poliomyelitis sowie zwei oder mehr gleichartige Erkrankungen infektiöser Gastroenteritis, bei denen ein epidemischer Zusammenhang wahrscheinlich ist oder vermutet wird, vom Arzt oder anderen befugten Per-sonen namentlich an das Gesundheitsamt des Hauptwohnsitzes des Erkrankten zu melden (§ 6 IfSG).

Die Labormeldepflicht gilt explizit für den Nachweis einer akuten Infektion im Labor (§ 7 IfSG). Die Labormeldung erfolgt an das jeweils zuständige Gesundheitsamt und wird gegebe-nenfalls an das Gesundheitsamt des Hauptwohnsitzes des Erkrankten weitergeleitet, das wei-tere Informationen wie z.B. Krankheitssymptome ermittelt (Dreesman & Benzler 2005).

Die Meldungen beinhalten laut § 9 IfSG unter anderem den Namen, das Geschlecht, das Ge-burtsdatum und die Adresse des Erkrankten. Ergänzende Angaben sind davon abhängig, ob der positive Befund vom Arzt oder vom Labor gemeldet wird. Vom Labor werden nur wenige weitere Details übermittelt, wie z.B. Angaben zur Nachweismethode, zum Befund oder zum Namen des Arztes, der die Laboruntersuchung veranlasst hat. Meldungen vom Arzt an das

Gesundheitsamt enthalten dagegen unter anderem auch Angaben zur beruflichen Tätigkeit und darüber, ob die Erkrankung im Ausland erworben wurde oder nicht.

Vom Gesundheitsamt findet eine Übermittlung der Falldaten – ohne Adressangabe des Er-krankten – an die Landesbehörde statt (§11 Abs. 1 IfSG), und von dort erfolgt die Übermitt-lung an das RKI (§ 11 Abs. 3 IfSG) (vgl. auch RKI 2000b). Von der Arzt- oder Labormel-dung an das Gesundheitsamt bis zur Übermittlung an das RKI dürfen bis zu zwei Wochen vergehen. In der Praxis erfolgt die Übermittlung in der Regel schneller und unter besonderen Umständen, wie z.B. während des Augusthochwassers 2002 in Sachsen oder während der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 in Deutschland praktiziert, ist eine tägliche Übermittlung möglich (Bigl et al. 2003, Williams et al. 2009).

2.4.3 Analyse von Surveillance-Daten

Um überregionale Ausbrüche zu identifizieren, das heißt solche Ausbrüche, die von den Ge-sundheitsämtern nicht erkannt werden können, weil die Fälle regional nur sporadisch auftre-ten, werden die Daten auf Landes- und Bundesebene erfasst und zur automatischen Aus-bruchserkennung ausgewertet. Zu den Auswertungsverfahren, die universell für verschiedene Erreger verwendet werden, gehören z.B. EARL (EARLy warning system) bzw. AIM+ (Au-tomatisiertes Infektionskrankheiten-Meldesystem) oder die „Übersichtsdarstellung“ sowie das

„Scanverfahren“ von Kulldorff, die unter anderem in Nordrhein-Westfalen (Reintjes et al.

2001, Rissland et al. 2003) und Niedersachsen (Dreesman & Scharlach 2004) entwickelt wur-den bzw. eingesetzt werwur-den.

Hintergrund der Algorithmen zur Ausbruchserkennung ist in den meisten Fällen ein Vergleich aktueller Daten mit Daten der Vergangenheit, das heißt in der Regel aus fünf Vorjahren. Mit dem Inkrafttreten des IfSG im Jahr 2001 besteht somit ab dem Jahr 2006 eine gute Ver-gleichsbasis für die Anwendung dieser Verfahren (Dreesman & Benzler 2005).

Werden im Rahmen der Routine-Surveillance Auffälligkeiten im Infektionsgeschehen ent-deckt, dann kann mit analytischen Studien wie z.B. mit Fall-Kontroll-Studien abgeklärt wer-den, ob sich hinter der Häufung ein Ausbruch verbirgt und welche ursächlichen Zusammen-hänge bzw. Risiken Auslöser des Ausbruchs waren.

2.4.4 Surveillance wasserbürtiger bzw. hygieneabhängiger Infektions-krankheiten

Da es schwierig ist, Trinkwasser als Auslöser eines Ausbruchs zu identifizieren, besteht die Möglichkeit der Kombination verschiedener Indikatoren wie z.B. von Wasserversorgungs-problemen und Erregernachweisen im Stuhl und im Trinkwasser, um die Stärke einer mögli-chen Assoziation zwismögli-chen Trinkwasser und einem auffälligen Krankheitsgeschehen besser einschätzen zu können.

Nach Tillett et al. (1998) gibt es vier Kriterien, die A einen Erregernachweis im Stuhl und im Trinkwasser,

B Probleme der Trinkwasserqualität oder der Wasseraufbereitung aber ohne Erregernach-weis,

C einen positiven Zusammenhang zwischen Trinkwasserqualität und Krankheit als Ergebnis einer analytischen Studie (z.B. einer Fall-Kontroll-Studie) und

D die Annahme eines Ausbruchs aufgrund einer deskriptiven epidemiologischen Studie, bei der andere Krankheitsursachen ausgeschlossen werden,

beinhalten.

Ausbrüche werden als stark mit Trinkwasser assoziiert eingeschätzt, wenn die Kriterien „A und C“ oder „A und D“ oder „B und C“ erfüllt sind. Zur Kategorie der wahrscheinlich mit Trinkwasser assoziierten Ausbrüche gehört die Kriterienkombination „B und C“ oder nur „C“

oder „A“, und eventuell assoziiert sind die erfüllten Kriterien „B“ oder „D“. Anhand dieser Kriterien werden unter anderem in Großbritannien und den USA trinkwasserbürtige Ausbrü-che im Rahmen spezieller Surveillance-Systeme für wasserbürtige Infektionskrankheiten ein-gestuft und ausgewertet (Risebro et al. 2005, Tillett et al. 1998, Yoder et al. 2008; siehe auch Environmental Science and Research 2007).

Ein Vergleich von Surveillance-Systemen für wasserbürtige Infektionskrankheiten in Groß-britannien, Schweden und den USA von Stanwell-Smith et al. (2003) zeigte, dass diese Sur-veillance-Systeme zwischen 1850 und 1920 etabliert wurden, um möglichst frühzeitig Aus-brüche aufzudecken und eine Weiterverbreitung von Krankheitserregern in der Bevölkerung durch Präventionsmaßnahmen und eine Anpassung gesetzlicher Vorschriften zu unterbinden.

In allen drei Ländern basiert die Meldung von Ausbrüchen auf freiwilliger Basis und Stan-dardfragebögen beinhalten unter anderem Angaben zur Anzahl an Erkrankten sowie Ergeb-nisse von Stuhlproben, Wasserproben und epidemiologischen Analysen. Auch Hinweise auf Ursachen, wie z.B. Hochwasser- oder Starkniederschlagsereignisse, Probleme in der

Aufbe-reitung, Reparaturarbeiten am Trinkwassernetz oder weiterführende Angaben z.B. zur Art der Aufbereitung und Desinfektion sowie der Rohwasserressource sind Bestandteile dieser Frage-bögen (Yoder et al. 2008).

Grenzen werden der Effektivität dieser speziellen wasserbürtigen Surveillance-Systeme da-durch gesetzt, dass nur wenige Ausbrüche auf lokaler Ebene als wasserbürtig erkannt werden, wodurch ihre Sensitivität nicht sehr hoch ist. Zudem werden nur selten Informationen zur Exposition gegenüber Risikofaktoren ermittelt. Auch sporadische Infektionserkrankungen, die auf Trinkwasser zurückzuführen sind, das nur geringe Mengen an Pathogenen enthält oder nur gelegentlich kontaminiert ist, werden mit diesen Systemen nicht erfasst (Stanwell-Smith et al.

2003, Yoder et al. 2008).

Mit dem Surveillance-System der USA wurden z.B. im Jahr 2005 acht Ausbrüche und im Jahr 2006 zwölf Ausbrüche der öffentlichen Wasserversorgung als wasserbürtig identifiziert. Die-se Ausbrüche führten zu insgesamt 612 Erkrankungen, vier Todesfällen, und der Median der betroffenen Personenzahl lag bei zehn Erkrankungen. Auslösende Agenzien dieser 20 Aus-brüche waren in zwölf Fällen Bakterien, in drei Fällen Viren und in zwei Fällen Parasiten. In einem Fall waren mehrere Erreger Verursacher der Infektionen und bei zwei Ausbrüchen ge-lang ein Erregernachweis nicht (Yoder et al. 2008).

In Deutschland werden Infektionskrankheiten aus der sich nach § 4 Abs. 2 Nr. 3 IfSG erge-benden Pflicht zur „Zusammenfassung von Meldungen zur infektionsepidemiologischen Auswertung“ im Surveillance-System des RKI erfasst (Hamouda 2005). Wasserbürtige Infek-tionserkrankungen fallen unter die Kategorie „Epidemiologischer Zusammenhang Lebensmit-tel, definiert als mindestens eine der beiden folgenden Expositionen: Entweder Verzehr poten-tiell kontaminierter Lebensmittel derselben Herkunft oder Aufnahme (Trinken, Verschlucken) potentiell kontaminierter Flüssigkeit derselben Herkunft“ (RKI 2007a, S. 7), wobei das Wort

„Flüssigkeit“ in den RKI-Falldefinitionen 2007 das Wort „Wasser“ der Falldefinitionen 2004 abgelöst hat (RKI 2004a). Hygieneabhängige Infektionskrankheiten aufgrund von Wasser-mangel können dagegen nach den Falldefinitionen unter fäkal-orale Mensch-zu-Mensch-Übertragungen subsumiert werden, für die als Beispiel „Schmierinfektionen z.B. im Kinder-garten, beim Wickeln von Säuglingen oder Kleinkindern“ angegeben sind (RKI 2004a, S. 12).

Wie in Kapitel 2.3.5 dargelegt, wird das Auftreten hygieneabhängiger Infektionskrankheiten in hoch entwickelten Ländern jedoch nur selten epidemiologisch untersucht (Mara & Fea-chem 2003, Letrilliart 1997), und in Deutschland erfolgt aufgrund des normalerweise hohen

Lebensstandards keine eigene Erfassung von Infektionskrankheiten aufgrund von wasserman-gelbedingten Hygienedefiziten.

Auch für wasserbürtige Infektionskrankheiten gibt es in Deutschland kein spezielles Surveil-lance-System (Exner et al. 2001), wohl auch, weil in den letzten zehn Jahren nur die beiden Ausbrüche der Giardiasen und Norovirus-Erkrankungen als wasserbürtig aufgedeckt wurden, die bereits in Kapitel 2.3.5 beschrieben sind (vgl. Gornik et al. 2001, Kistemann et al. 2003, Kramer et al. 2001, RKI 2004b). Basierend auf den Vorgaben des neuen IfSG sind in Deutschland seit dem Jahr 2001 jedoch auch Erreger wie Cryptosporidium parvum und Giar-dia lamblia zu melden, die häufig über das Trinkwasser übertragen werden (§ 7 Abs. 1 Nr. 10 und Nr. 16 IfSG).

Risebro et al. (2005) zeigten in einer Analyse nationaler Surveillance-Systeme ausgewählter europäischer Länder, dass Deutschland neben Finnland durch diese neu aufgenommenen Er-reger eine herausragende Rolle einnimmt. In beiden Ländern sind sowohl die bereits in Kapi-tel 2.3.1 genannten Krankheitserreger meldepflichtig, als auch akute Gastroenteritiden (mit bestätigtem Lebensmittelbezug) sowie Ausbrüche. Im Vergleich dazu besteht z.B. in Großbri-tannien eine Meldepflicht nur für akute Gastroenteritiden, in Frankreich nur für Ausbrüche und in den Niederlanden neben akuten Gastroenteritiden und Ausbrüchen nur für Shigellosen und EHEC-Enteritiden. Alle übrigen Erregernachweise, bis auf die für Cryptosporidium par-vum und Giardia lamblia, die in Frankreich nicht erhoben werden, erfolgen in den Niederlan-den, Großbritannien und in Frankreich freiwillig. Auch in Schweden werden Noroviren und akute Gastroenteritiden nur auf freiwilliger Basis gemeldet (Risebro et al. 2005).

Insgesamt scheint nach Neumann et al. (2005) und auch Mara & Feachem (2003) das Auftre-ten wasserbürtiger bzw. hygieneabhängiger InfektionskrankheiAuftre-ten in Industrieländern häufig unterschätzt zu werden. Insbesondere in Extremsituationen wie bei Starkniederschlagsereig-nissen oder bei Naturkatastrophen wie extremem Hochwasser, wird ein wasserbezogener Aus-löser gehäufter Infektionskrankheiten oft nicht als solcher erkannt.