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Industrielle Paläste – Der Blick in die Werkstätten

Neue Bilder eines neuen Raums – Fabrikalben

5.3  Die Fabrik zwischen zwei Buchdeckeln

5.3.2 Industrielle Paläste – Der Blick in die Werkstätten

Nach einem Überblick und einem Rundgang über das Fabrikgelände öffnen die Fotoalben für die Betrachter die Türen der Werkstätten. Die Zahl der Innenauf-nahmen war bis auf die frühen Alben der Ižorsker Betriebe immer größer als die der Außenaufnahmen. Fotografien der Fabrikgebäude demonstrieren die Größe eines Unternehmens, die Innenansichten aus den Werkstätten bieten aber eine größere Bandbreite an Motiven. Viele Industriebauten glichen sich stark, so dass gerade Fotografien von speziellen Produktionsabläufen und Maschinen die Besonderheiten einer Fabrik herauszustellen vermochten.

Die ältesten Innenaufnahmen des Quellenkorpus stammen aus dem bereits besprochenen Album der Tulaer Waffenfabrik von 1873. Fotografen hatten in den 1860er und 1870er Jahren häufig noch große Probleme, qualitativ hochwertige Außenaufnahmen von Fabriken zu machen,131 entsprechend schwieriger war es, gute Innenansichten aufzunehmen. Schlechte Licht-verhältnisse und lange Belichtungszeiten waren der Grund, warum frühe Innenaufnahmen keine Menschen zeigen. Dies änderte sich im Zarenreich in den 1880er Jahren, und Fotografen inszenierten Fabriken zunehmend als mechanisierte sowie belebte Räume.132 Innenaufnahmen waren jedoch bis in

129  Diese Beobachtung formulierten Fotografen bereits in den 1850er Jahren. Es ging in diesem Kontext um die Frage, ob Landschaftsfotografien, auf denen Menschen zu sehen waren, aufgrund ihrer veränderten Atmosphäre noch Teil der Kunstfotografie seien oder nicht. Estelle Jussim; Elizabeth Lindquist-Cock: Landscape as Photograph, New Haven, London 1985, S. 31.

130  Karin Walter: Postkarte und Fotografie. Studien zur Massenbild-Produktion, Würzburg 1995, S. 173. Menschenaufnahmen werden in folgendem Album vergleichbar eingesetzt:

NBGĖ ORK: 161651: o. A.: Avgustejšej pokrovitel’nice popečitel’stva trudovoj pomošči ej imperatorskomu veličestvu Gosudaryne Imperatrice Aleksandre Fedorovine. Ot Venevskago Zemstva, snimki sooruženij trudovoj pomošči 1905, 1906, o. O. 1906.

131  Der französische Fotograf Henri Émile Cimarosa Godefroy beschrieb, welche Schwierig-keiten er bei der Durchführung eines Auftrags für die Forges de Montataire (Die Hütten-werke von Montataire) hatte. Neben den klimatischen Bedingungen konnte er nur an einem der freien Tage, die es alle drei Wochen gab, fotografieren, weil sonst der Rauch die Sicht auf das Unternehmen verdunkelte. Assegond: La photographie du travail, S. 103–104.

132  Gerade ab den 1880er Jahren nahm im Zarenreich die Verwendung von Dampfkraft in der Industrie nochmals stark zu. Hildermeier: Geschichte Russlands, S. 1149. Die

die 1910er Jahre eine Herausforderung für Fotografen: Spärliches Licht führte zu unscharfen Aufnahmen, die durch starke Retuschen vor dem Druck den Charakter einer Fotografie teilweise fast vollständig verloren.133

Industriefotografien zeichneten sich durch bildästhetische Merkmale aus, die sich vereinzelt in Stichen,134 vermehrt in frühen fotografischen Aufnahmen wie von D’jagovčenko finden und die bis in die sowjetische Zeit und teilweise bis heute aktuell blieben. Eines dieser Stilmittel war die Zentralperspektive (Abb. 16).135

In dieser Fotografie befindet sich der Fluchtpunkt in der Mitte des Bilds.

Decke, Boden und Seitenwände beziehungsweise die Säulen laufen auf diesen Punkt zu und teilen die Aufnahme in vier Flächen. Die Fluchtlinien, die sich in der Mitte des Bildes kreuzen, ziehen den Blick des Betrachters in die Foto-grafie hinein. Die Aufnahme gibt entlang des Mittelgangs die Sicht bis zur Hinterwand des langen Raumes frei, dessen Dimensionen die Komposition zusätzlich betont. Obwohl die Schlosserei ein extrem langgezogener Raum ist, bekommt der Betrachter den Eindruck einer geräumigen Werkstatt. Maßgeb-lich hierfür ist der leere Mittelgang. Diesen Raumeindruck konnten Fotografen verstärken, wenn sie ein Weitwinkelobjektiv verwendeten.136

Die Bildsprache und die Faszination für die ungewöhnlich großen Dimensionen der Innenräume waren keine russischen Besonderheiten, auch Fotografen in Westeuropa verwendeten ähnliche Strategien, wenn sie Fabrik-hallen inszenierten.137 In Deutschland bezeichneten Zeitgenossen bereits 1910 Werksgebäude als „Kathedralen“.138 Kirchenräume waren die Orte, die am ehesten vergleichbar mit den neuen Stahl- und Glaskonstruktionen waren.139

Beobachtung, dass ab den 1880er Jahren häufiger Menschen auf Innenaufnahmen aus Fabriken zu sehen sind, gilt auch für Frankreich: Assegond: Les débuts de la photographie du travail usinier, S. 88.

133  o. A.: Obščestvo Nikolaevskich zavodov i verfej, S. 112.

134  A. O. Adamoj, Ė. Dammjuller: Stoletij jubilej imperatorskoj petergofskoj granil’noj fabriki, in: Vsemirnaja Illjustracija, 23.08.1875, S. 152.

135  Der Vorteil dieses Stilelements ist, dass es dem Betrachter den Eindruck einer realistischen, objektiven Darstellung vermittelt, eine Form der Darstellung, die dem Wunsch der Industriellen entsprach. Frank; Lange: Einführung in die Bildwissenschaft, S. 25.

136  Matz: Industriefotografie, S. 22.

137  Matz: Industriefotografie, S. 111. Zur Verwendung der Zentralperspektive in Frankreich siehe auch: Assegond: Les débuts de la photographie du travail usinier, S. 94.

138  Hermann Sturm: Industriearchitektur als Kathedrale der Arbeit. Geschichte & Gegenwart eines Mythos, Essen 2007, S. 29. Auch Bahnhöfe wurden als „Kathedralen der Technik“ be-zeichnet. Hermann Glaser: Maschinenwelt und Alltagsleben. Industriekultur in Deutsch-land vom Biedermeier bis zur Weimarer Republik, Frankfurt a. M. 1981, S. 22.

139  Diese Assoziation schlug sich in der Sekundärliteratur auch in einigen Buchtiteln nieder, die eine Verbindung zwischen Industriearchitektur und christlichen Gotteshäusern

Für das Zarenreich greift der Vergleich zwischen Kathedralen und Industrie-bauten aber nicht, denn die russisch orthodoxen Kirchen orientierten sich mit ihrer Architektur stark am romanisch byzantinischen Baustil. Dieser hat kleine Fenster, und der kreuzförmige Grundriss der Bauten gewährt kein

herstellen: Ebert: Kathedralen der Arbeit. Zur Verbindung des Begriffs Kathedrale in der Architektur siehe auch: Sturm: Industriearchitektur als Kathedrale der Arbeit, S. 10–13;

Otto Gerhard Oexle: Die gotische Kathedrale als Repräsentation der Moderne, in: Andrea von Hülsen-Esch; Bernhard Jussen; Frank Rexroth (Hrsg.); Otto Gerhard Oexle: Die Wirk-lichkeit und das Wissen. Mittelalterforschung, historische Kulturwissenschaft, Geschichte und Theorie der historischen Erkenntnis, Göttingen 2011, S. 938–980.

Abb. 16 Ivan Grigro’evič D’jagovčenko: Schloss-Werkstatt (Zamočnaja masterskaja), in:

o. A.: Tulaer Waffenfabrik. Gegründet 1712 umgebaut 1873 (Tul’skii oružejnyj zavod. Osnovan 1712 perestroen 1873), Moskva 1873. RGB Inv MK XII – 4224 Izo 15880–64.

Raumerlebnis wie in einer gotischen Kirche.140 Im russischen Fall wäre der Begriff der „Paläste der Industrie“ darum am ehesten angemessen. Allerdings war wohl nur eine Minderheit der russischen Betrachter mit den Palais der Adeligen vertraut. Räume ähnlichen Ausmaßes kannten die Adressaten der Bilder höchstens von Bahnhöfen oder Opernhäusern.141 Bei beiden Gebäude-typen handelte es sich ebenfalls um neue Orte und Institutionen, die vielfach erst im 19. Jahrhundert entstanden. Es kann davon ausgegangen werden, dass Fabrikräumen noch der Reiz des Ungewöhnlichen anhaftete. Weiter handelte es sich um Orte, die die Menschen nicht täglich aufsuchten. Insgesamt kann davon ausgegangen werden, dass die Industriellen mit der Inszenierung der Fotografien darauf abzielten, ihre Betrachter mit den Dimensionen der neuen Architektur zu beeindrucken.142

Auf seinen frühen Innenaufnahmen (Abb. 16) setzte D’jagovčenko den leeren Raum in Szene. Er konnte eine solch großzügige Raumaufteilung wählen, weil die Tulaer Waffenfabrik 1873 nur wenige große Maschinen be-saß. Mit der fortschreitenden Industrialisierung zeigen die Innenaufnahmen in Werkshallen zunehmend größere Maschinenparks, es blieb weniger freie Fläche zurück (Abb. 17).

Die Abbildungen spiegeln somit die Veränderungen der industriellen Arbeits-prozesse. Mit der voranschreitenden Mechanisierung wuchs die maschinelle Ausstattung der Betriebe, und entsprechend gliederten sich die einzelnen Tätigkeiten in immer kleinere Einheiten.143 Die Fotografen wandelten dieses Problem zur Tugend und machten sich die Elemente der Maschinen mehr und mehr zu eigen, indem sie sie in den Bildaufbau integrierten (Abb. 17 und 18).

140  Zur Architektur der russisch orthodoxen Kirchen: Constantin C. Akentiev (Hrsg.): Liturgy, Architecture, and Art in Byzantine World, Papers of the XVIII International Byzantine Congress and Other Essays Dedicated to the Memory of Fr. John Meyendorff, Bd. 1, Saint-Petersburg 1995.

141  Zu Bahnhofsbauten: Schenk: Russlands Fahrt in die Moderne, S. 191–192, 381. Zu Opern-häusern: Michael Forsyth: Bauwerke für die Musik. Konzertsäle und Opernhäuser, Musik und Zuhörer vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München 1992.

142  Im Fall der Fotoalben war die Zahl der Rezipienten eher gering, außerdem waren tat-sächlich viele Geschäftspartner der Firmen an vergleichbare Bauten gewöhnt. Foto-grafien, die eine ähnliche Bildsprache nutzten, wurden auf Ausstellungen gezeigt, oder sie erschienen in illustrierten Zeitschriften. In diesen Fällen erreichten sie ein deutlich breiteres Publikum, das nicht mit Industriearchitektur vertraut war.

143  Margrit Grabas: Individuum und industrielle Arbeit, in: Richard von Dülmen (Hrsg.): Ent-deckung des Ich. Die Geschichte der Individualisierung vom Mittelalter bis zur Gegen-wart, Köln, Weimar, Wien 2001, S. 331–359, S. 331.

Abb. 17 o. A.: Kattun (Webstühle) (Tkackaja (stanki)), in: o. A.: Gesellschaft der Manufaktur Ivan Garelin und Söhne (Tovariščestvo manufkatury Ivan Garelin i Synov’ja), Moskva o. J., S. 49. RNB OĖ Ė((AlTch459)/(2–1))

Abb. 18 o. A.: o. T., in: o. A.: Gesellschaft der Manufaktur Ivan Garelin und Söhne (Tovariščestvo manufkatury Ivan Garelin i Synov’ja), Moskva o. J., S. 14.

RNB OĖ Ė((AlTch459)/(2–1))

Auf diesen Fotografien geben die Aneinanderreihungen identischer Maschinen und Formen dem Betrachter ein Gefühl der Raumdimensionen vor Ort und vermitteln einen Eindruck der Produktionskraft der Fabrik.144

Bei der Darstellung der Maschinen stellten Spiegelungen eine Heraus-forderung für die Fotografen dar. Die Auftraggeber wollten auf idealen Auf-nahmen einer Maschine alle technischen Details gleichmäßig ausgeleuchtet sehen. Häufig schützten jedoch glänzende Lackierungen die Einzelteile vor dem Rosten, oder Bauteile waren zur besseren Funktionsweise eingeölt oder eingefettet, was zu Reflektionen auf den Negativen führte. Die Fotografen hatten unterschiedliche Rezepte, um diesen Glanzlichtern vorzubeugen:

Sie bearbeiteten die Maschinen mit einer Mischung aus Seife, Ruß oder Schuhcreme, bis auf den Aufnahmen die Illusion einer matten Oberfläche entstand.145

Mark Steinberg beschreibt die Melancholie als eine der dominierenden Emotionen des 19. Jahrhunderts.146 Dies schlug sich in der russischen Literatur bei den Symbolisten in einer Vorahnung für das Ende einer Ära nieder.147 Im Gegensatz dazu können Fabrikfotografien als zukunftsorientierte, optimistische Abbildungen interpretiert werden. Die einheitliche Struktur der Maschinen trägt zum Eindruck der Werkshallen als stark ästhetisierte Orte bei (Abb. 17 und 18).148 In beiden Beispielfotografien dominieren Wiederholung und geometrische Ordnung den abgebildeten Fabrikraum. Sie visualisieren den seriellen Charakter der Massenproduktion und das Gefühl unbegrenzten industriellen Potentials.149 Auf der literarischen Ebene bildeten marxistische Autoren wie Aleksej Kapitonovič Gastev (1882–1939) das Pendant zu dieser fotografischen Bildsprache der Produktion, indem sie Maschinen als zukunfts-weisende Symbole der Hoffnung beschrieben.150 Die Fotografien vermittelten das Bild eines durchstrukturierten Unternehmens. In den Werkshallen stand

144  Ironischerweise mussten in den Fabriken die Maschinen angehalten und die Produktion gestoppt werden, damit ein Lichtbildner Fotografien industrieller Produktivität anfertigen konnte. Nicht nur die Bewegungen der Maschinen, auch ihre Erschütterung machten Aufnahmen während des Produktionsprozesses unmöglich. Nye: Image Worlds, S. 41–42.

145  o. A.: Fotografirovanie Mašin, S. 422–423.

146  Steinberg: Petersburg, S. 239.

147  Dowler: Russia in 1913, S. 256–263.

148  Dies war in ganz Europa eines der Merkmale der Industriefotografie. Stebbing: Industrial Image, S. 43.

149  Rahner: Glanzbilder, S. 12

150  Rolf Hellebust: Flesh to Metal. Soviet Literature & the Alchemy of Revolution, Ithaca, London 2003, zur Verwandlung des menschlichen Körpers in Metall, hier: S. 45–51, 62–65;

Mark Steinberg: Proletarian Imagination. Self, Modernity, and the Sacred in Russia, 1910–

1925, Ithaca, London 2002, S. 162–163.

nichts herum, das die Produktion hätte behindern oder einschränken können.

Die Inszenierung von Ordnung sollte die Vorwürfe von Industrialisierungs-kritikern widerlegen und die Bedenken gegenüber der Entstehung einer möglicherweise umstürzlerisch eingestellten Arbeiterschaft zerstreuen.151 Industrielle nutzten die Bilder als visuelle Beweise gegen die im Zarenreich verbreitete Meinung, dass Kaufleute und Unternehmer ihre Betriebe un-diszipliniert und chaotisch organisierten.152 Abbildung 17 und 18 lassen mit ihrem geometrischen Bildaufbau gar nicht den Gedanken von Chaos auf-kommen.153 Stattdessen strahlen die Aufnahmen eine gewisse Ruhe aus, was angesichts des enormen Geräuschpegels, der in den Werkstätten geherrscht haben muss, ironisch anmutet.

Zeigten Fotografien Arbeiter in den Werkstätten, fungierten diese teilweise vergleichbar zu den Außenaufnahmen als emotionaler Einstieg in das Bild.

Allerdings bestanden die abgebildeten Maschinen häufig aus vielen unter-schiedlichen geometrischen Strukturen, wodurch der Effekt weniger stark ausfiel als bei den Außenaufnahmen. Lichtbildner nutzten Menschen auf Innenaufnahmen häufig als Statisten, um den Ablauf eines Arbeitsprozesses zu inszenieren. Die einzelnen Handgriffe mussten in der Realität weder parallel verlaufen noch am fotografierten Ort erfolgen, was Abbildung 19 und 20 aus Niederlassungen der Süßwarenfabrik Tovariščestva A. I. Abrikosovy i synovej (Gesellschaft A. I. Abrikosovy und Söhne) in Moskau und aus der Dependance in Simferopol verdeutlichen.

Das Bild der Herstellung der konfety (Pralinen, Abb. 19) zeigt den Produktionsprozess von der Teigherstellung über das Ausrollen der Masse bis zum fast fertigen Produkt vorne an der Tischkante. In der Moskauer Fabrik scheint es vorstellbar, dass die Arbeitsschritte in einem Raum abliefen. Da-gegen lässt die Fotografie aus Simferopol (Abb. 20) Zweifel aufkommen, ob die Produktion üblicherweise wie dargestellt stattfand: Die Produkte stehen auf provisorisch wirkenden Hockern.

Der Fotograf nahm die Szene auf einer Veranda auf, was die unverglasten Tür- beziehungsweise Fensteröffnungen zeigen. Das Verschließen von Flaschen und das Abpacken von Süßwaren haben sicher nicht im Freien stattgefunden.

151  Hildermeier: Geschichte Russlands, S. 1197. Weiter zur Kritik an der Industrialisierung in Kapitel „Fotografien und Industrie – Historischer Überblick“, S. 27–60.

152  Marjorie Hilton: Selling to the Masses. Retailing in Russia, 1880–1930, Pittsburgh 2012, S. 113.

153  Bereits in Fabrikdarstellungen in der Bildenden Kunst, besonders auf Stichen, bemühten sich die Künstler, den chaotischen Raum der Fabrik für den Betrachter möglichst klar und verständlich darzustellen. Nicolas Pierrot: Peindre dans l’usine, 1760–1890, in: La revue, Histoire Science et Techniques, September 2002, No. 36, S. 4–15, S. 11.

In diesem Fall handelt es sich wohl um die visuelle Produktion eines Raums industrieller Aktivität, in dem die Inszenierung des Fotografen Elemente kombiniert, die praktischen Gesichtspunkten folgend nie am entsprechenden Ort abliefen. Aus technischer Sicht dürfte der Lichtbildner die Aufnahme auch wegen der besseren Lichtverhältnisse auf der Veranda gemacht haben. Gleich-zeitig entsprachen das gute154 und offenbar warme Wetter auf der Fotografie

154  Dass die Sonne schien, während der Fotograf die Aufnahme machte, ist an den klar um-rissenen Schatten auf dem Fußboden zu erkennen. Wäre die leichte Überbelichtung auf der rechten Seite des Bildes nur Folge einer langen Belichtungszeit gewesen, hätten sich Abb. 19 Levickij: Vorbereitung von Konfekt in der Fabrik in Moskau (Prigotovlenie

konfekt na fabrike v Moskve), in: o. A.: Ansichten der Fabrik und Geschäfte der Gesellschaft A. I. Abrikosov und Söhne im Jahr 1888. Die Fabrik ist während der Produktion donnerstags von 2 bis 4 Uhr für die Öffentlichkeit geöffnet, Aufsicht habender Direktor V. A. Abrikosov (Vidy fabrik i magazinov tovariščestva A. I. Abrikosova synovej, v 1888g. Fabrika otkryta dlja publiki vo vremja proizvodstva po četvergam, ot 2 do 4 časov, Direktor Rasporjaditel’

V. A. Abrikosov), Moskva 1888, S. 6. RGB Inv MK XII–1277

dem Image der Krim im späten Zarenreich.155 Diese Reputation nutzen die Fabrikanten, denn die Arbeiter in Simferopol stellten in erster Linie Produkte aus Früchten her. Warmes sonniges Klima sorgt für eine aromatische, süße Ernte und entsprechend hochqualitative Süßwaren.

die Schatten nur verschwommen auf dem Boden abgezeichnet. Herzlichen Dank für diesen Hinweis an Gil Pasternak.

155  Kerstin S. Jobst: Die Perle des Imperiums. Der russische Krim-Diskurs im Zarenreich, Konstanz 2007; sowie das Forschungsprojekt von Kerstin Jobst (Universität Wien): „Von der kaiserlichen Sommerfrische bis Kazantip“. Die Entwicklung des Tourismus auf der Krim von der Neuzeit bis in die Gegenwart.

Abb. 20 Levickij: Vorbereitung von Fruchtkompott in der Fabrik in Simferopol (auf der Krim) (Prigotovlenie kompota iz frukt na fabrike v Simferopole (v Krymu)), in:

o. A.: Ansichten der Fabrik und Geschäfte der Gesellschaft A. I. Abrikosov und Söhne im Jahr 1888. Die Fabrik ist während der Produktion donnerstags von 2 bis 4 Uhr für die Öffentlichkeit geöffnet, Aufsicht habender Direktor V. A. Abrikosov (Vidy fabrik i magazinov tovariščestva A. I. Abrikosova synovej, v 1888g. Fabrika otkryta dlja publiki vo vremja proizvodstva po četvergam, ot 2 do 4 časov, Direktor Rasporjaditel’ V. A. Abrikosov), Moskva 1888, S. 33. RGB Inv MK XII–1277

Der Fotograf legte besonderen Wert darauf, dass möglichst wenige der Be-teiligten direkt in die Kamera blickten, sondern stattdessen der Eindruck entstand, die Aufnahmen seien unbemerkt während eines gewöhnlichen Arbeitstags gemacht worden. Wollten die Fotografen nicht die Empathie des Betrachters ansprechen, bemühten sie sich um ein ‚authentisches‘ Bild. Nicht immer gelangen solche Aufnahmen. Ein Beispiel hierfür ist eine Fotografie (Abb. 21) aus der Schmiede des Cepodelatel’nyj zavod L. L. Zotova (Fabrik für Kettenherstellung L. L. Zotov).

Der Fotograf hatte große Schwierigkeiten mit den schlechten Lichtverhält-nissen und den langen Belichtungszeiten. Viele Arbeiter verharrten darum in unnatürlich starren Posen. Auf der rechten Seite sind vier Arbeiter zu sehen, die vorgeben, Eisen zu bearbeiten. Neben den unnatürlichen Gesten ist deutlich zu sehen, dass die zu bearbeitenden Metallstücke kalt sind und nicht glühen.

Hätte das Metall geglüht, wäre es als helle, weiße Struktur auf dem Abzug zu

Abb. 21 o. A.: Ansicht der Fabrik für Kettenherstellung und der in Russland ersten internationalen Teststation in Nižnij-Novgorod L. L. Zotov (Vidy Cepodelatel’nago zavoda i pervoj v Rossii meždunarodnoj ispytatel’noj stancii v Nižnjago-Novgoroda L. L. Zotova (nasl. A. A. Smelova)), Nižnij Novgorod o. J., S. 6.

RGB Inv MC XII–4241

Abb. 21a

sehen.156 Die klaren Schatten lassen darauf schließen, dass bei der Aufnahme ein künstliches Blitzlicht zum Einsatz kam. Assegond konnte für Frankreich feststellen, dass gerade die schwierigen Lichtbedingungen in Fabrikwerk-stätten Lichtbildner zur Weiterentwicklung der fotografischen Technik und zu Innovationen auf dem Feld der künstlichen Beleuchtung animierten.157 Das helle Licht dürfte der Grund für das angstverzerrt wirkende Gesicht des Mannes links im Mittelgrund gewesen sein. Neben einigen Männern, die den Fotografen direkt anblickten, ist es besonders der Ausdruck im Gesicht dieses Arbeiters, der die Inszenierung und Anwesenheit des Fotografen offenlegt.

Die Fotografen setzten für ihre Inszenierungen Arbeiter als Staffagen ein, wenn bei den Produktionsprozessen wenige oder keine Maschinen zum Ein-satz kamen, so auf einer Fotografie der Papierfabrik Tovariščestvo Krasnosel’skoj pisučebymažnoj fabriki (Gesellschaft der Krasnosel’sker Schreibpapier Fabrik).

Die Aufnahme zeigt, wie Arbeiterinnen von Hand Lumpen zerkleinern (Abb. 22).

Die stark ästhetisierte Aufnahme mit geometrischem Bildaufbau zeigt einen Raum, dessen Funktion ohne die Frauen für den Betrachter nicht

156  Ulrich Wengenroth: Die Fotografie als Quelle der Arbeits- und Technikgeschichte, in:

Klaus Tenfelde (Hrsg.): Bilder von Krupp. Fotografie und Geschichte im Industriezeitalter, München 1994, S. 88–104, S. 96–97. Siehe auch: Kapitel „Die Fabrik wird salonfähig – der Erste Weltkrieg“, S. 325–368.

157  Assegond: La photographie du travail, S. 132–141. Der erste Test eines Magnesium-blitzes fand 1864 in England beim Versuch statt, in einer Mine zu fotografieren. Naomi Rosenblum: Une histoire mondiale de la photographie, Paris 1992, S. 248–249.

nachvollziehbar wäre. Nicht einmal die Architektur belegt zweifelsfrei, dass es sich um eine Fabrik und nicht um einen Handwerksbetrieb handelt:

Boden, Stützpfeiler und Deckenbalken sind aus Holz und konnten keine schweren Maschinen tragen.158 Es gab viele moderne Unternehmen im Zaren-reich, ein Teil der Fabrikanten beschränkte sich jedoch darauf, durch viele Arbeiter und Handarbeit fehlende Investitionen in Technik oder Bausubstanz auszugleichen.159

Typisch für Industriefotografien ist auf Abbildung 22 das weit geöffnete Fenster. Auch Abbildung 16 zeigt offene Fenster. Dieses Detail verweist auf Dis-kussionen über hygienische Bedingungen in Fabriken, die im 19. Jahrhundert engagierte Bürger und Zemstvo Ärzte führten.160 Mediziner gingen damals davon aus, dass Sonnenlicht und frische Luft eine gesundheitsfördernde

158  Beschreibungen von Zeitgenossen bestätigen diesen Eindruck der russischen Fabrik-produktion, die in manchen Industriezweigen eher einem Handwerksbetrieb glich.

Victoria Bonnell: Roots of Rebellion. Worker’s Politics and Organizations in St. Petersburg and Moscow, 1900–1914, London 1983, S. 63. Zu den Vorteilen des Baustoffs Beton im Ver-gleich zu Holz: Dommann: Warenräume und Raumökonomie, S. 53–54.

159  Hildermeier: Geschichte Russlands, S. 1151.

160  Zu den Diskussionen über Hygiene siehe das Forschungsprojekt von Angelika Strobel (Universität Zürich): „Die Gesundung Russlands. Hygienepropaganda und Moderne im Abb. 22 o. A.: Lumpenabteilung. Abtrennen von Hand (Trjapičnoe otdelenie. Ručnaja

rezka trja’ja), in: o. A.: Gesellschaft der Krasnosel’sker Papierfabrik der Erben von K. P. Pečatkin (Tovariščestvo Krasnosel’skoj pisučebymažnoj fabriki naslednikov K. P. Pečatkina), Sankt-Peterburg nach 1911, S 9. RNB OĖ Ė((AlTch450)/(1–1a))

Wirkung hätten, schlechte Luft mache hingegen krank.161 Dieses medizinische Wissen stammte aus der Zeit, bevor Louis Pasteur (1822–1895) und Robert Koch (1843–1910) die Mikroben entdeckten (in den 1870er und 1880er Jahren),162 und ging auf die Miasmentheorie von Hippokrates zurück. Hippokrates zu-folge riefen infektiöse Ausdünstungen, sogenannte Miasmen, Krankheiten hervor.163 Frische Luft beinhalte weniger Keime und sei im Gegensatz dazu

Wirkung hätten, schlechte Luft mache hingegen krank.161 Dieses medizinische Wissen stammte aus der Zeit, bevor Louis Pasteur (1822–1895) und Robert Koch (1843–1910) die Mikroben entdeckten (in den 1870er und 1880er Jahren),162 und ging auf die Miasmentheorie von Hippokrates zurück. Hippokrates zu-folge riefen infektiöse Ausdünstungen, sogenannte Miasmen, Krankheiten hervor.163 Frische Luft beinhalte weniger Keime und sei im Gegensatz dazu