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Abseits der großen Formate

Visuelle Vorgänger – Fabriken in der Malerei

3.2 Abseits der großen Formate

Die meisten Autoren von Untersuchungen zur Industriemalerei betonen, dass es im 18. und 19. Jahrhundert nur wenige Bilder von Industrieanlagen gegeben habe. Dem widerspricht Nicolas Pierrot, der in seiner Dissertation Fabrikdar-stellungen in Frankreich von 1760 bis 1870 untersucht. Allein für diesen Zeit-raum konnte er mehrere tausend Abbildungen ausfindig machen, wobei er Zeichnungen, Presseillustrationen oder Plakate nicht einbezog.50 Im Unter-schied zu anderen Forschungsarbeiten beschränkt sich Pierrot nicht auf Ge-mälde, sondern untersucht auch Stiche und Lithografien. Diese Drucke waren verglichen mit Ölgemälden billiger51 und entsprechend weniger wertvoll. In-folgedessen gingen die Darstellungen schneller verloren, und es existieren in Frankreich heute kaum geschlossene Bildkorpora dieser Abbildungen, was die wissenschaftliche Arbeit erschwert.52 Die Situation in der Russischen Föderation stellt sich ähnlich dar. Zwar existieren Druckgrafiken aus dem Zarenreich, die Fabriken zeigen, diese sind jedoch meist weit zerstreut.53 Auch widmete sich bislang keine Untersuchung systematisch diesen Abbildungen.

Im Folgenden werden darum ein erstes Mal die Forschungsergebnisse Pierrots mit der Sammlung aus der Rossijskaja Gosudarstvennaja Biblioteka (Russische Staatsbibliothek) verglichen und herausgearbeitet, in welchen Punkten sich die Entwicklung von Fabrikdarstellungen in beiden Ländern deckte und welche Unterschiede es gab.

50  Nicolas Pierrot: Le silence des artistes? Thématique industrielle et diversification des supports (v. 1850–fin XIXe siècle), in: Denis Woronoff (Hrsg.): Les images de l’industrie de 1850 à nos jours. Actes du colloque tenu à Bercy, le 28 et 29 juin 2001, Paris 2002, S. 10–20, S. 13.

51  In Frankreich kostete 1823 ein Stich ca. einen Franc. Dies war zwischen 1832–1835 der durchschnittliche Tageslohn eines Webers am Hochrhein und etwas weniger als der Lohn eines Stoffdruckers aus derselben Region. Pierrot: Les images de l’industrie en France, S. 215.

52  Pierrot: Les images de l’industrie en France, S. 8, 54–55.

53  Im Rahmen dieser Arbeit war es nicht möglich, eine systematische Recherche durch-zuführen. Sicherlich lassen sich jedoch in Bibliotheken sowie in den Sammlungen der großen Kunstmuseen, aber auch in Heimat- und Firmenmuseen entsprechende Druck-grafiken finden, welche eine aussagekräftige Quellenbasis für eine vielversprechende Analyse bilden könnten.

3.2 Abseits der großen Formate

In Frankreich entstanden die ersten Industriedarstellungen Ende des 17. Jahrhunderts, sie waren jedoch noch sehr selten. Von 1755 bis 1789 waren Fabriken und Manufakturen nur dann abbildungswürdig, wenn sie den Ruhm des Empire dokumentierten. Erst ab der Wende zum 19. Jahrhundert erstellten Künstler öfter Ansichten von Betrieben, ab 1822 waren diese regelmäßig im Salon ausgestellt.54 Im Zarenreich kamen Drucke von Fabrikgebäuden nach bisherigem Wissensstand erst im 19. Jahrhundert auf. Vermutlich hatte es bis dahin zu wenige Beispiele entsprechender Einrichtungen gegeben, als dass sie Grafiker in großem Stil inspiriert hätten. Die Sammlung der Staatsbibliothek umfasst zwölf Stiche und Lithografien, von denen jedoch nur zwei eindeutig datiert sind, auf 1855 und 1864/67. Zwei weitere Stiche entstanden vermutlich 1845.55 Pierrot stellt Perioden fest, in denen Industriedarstellungen besonders beliebt waren. Er gibt jedoch zu bedenken, dass diese Trends auch damit zu-sammenhängen, wann die großen Druckgrafik-Sammlungen französischer Landschaften zusammengestellt wurden.56 Es handelte sich hierbei um eine europäische Mode, beispielsweise entstanden auch in Belgien um die Jahr-hundertmitte entsprechende Serien.57 Für das Zarenreich sind jedoch keine vergleichbaren Sammlungen bekannt. Dennoch gleichen sich einige Drucke der untersuchten Sammlung auffallend, so dass davon ausgegangen werden kann, dass sie als Serie erschienen und möglicherweise von dem selben Künstler stammen.58

Die meisten Motive zeigen Außenansichten der Fabriken inmitten der sie umgebenden Landschaft (Abb. 1).

Pierrot sieht diese Darstellungen in der Tradition der Vedutenmalerei, bei der die Maler den Reichtum einer bestimmten Region untermauern sollten. Der Begriff „Vedute“ bedeutet das Gesehene, das, was man sieht.59 Damit beschreibt der Name das Merkmal der Darstellungen, denn bei Veduten handelt es sich um an topographische Gegebenheiten angelehnte Landschaftsdarstellungen.

Die Maler ließen sich nicht von imaginären Szenarien inspirieren, sondern fertigten Abbildungen realer Ansichten mit jeweils regionalen Spezifika an,

54  Pierrot: Les images de l’industrie en France, S. 6, 72, 76.

55  http://library.krasno.ru/Pages/Kraevedenie/Voznesenka19.htm (zuletzt eingesehen am 29.09.15); http://bagira.guru/rodina/1992-04/stroptivyy-kankrin.html?fontstyle=f-larger (zuletzt eingesehen am 29.09.15).

56  Pierrot: Les images de l’industrie en France, S. 100.

57  Bart Van der Herten; Michel Oris; Jan Roegiers (Hrsg.): La Belgique industrielle en 1850.

Deux cents images d’un monde nouveau, Bruxelles 1995.

58  RGB IZO: 63175–44; 63176–44; 63178–44; 63180–44, sowie die Drucke RGB IZO: 112346–

49; 112347–49; 112348–49; 112349–49.

59  o. A.: Art. „Vedute“, in: Wolf Stadler (Hrsg.): Lexikon der Kunst. Malerei, Architektur, Bild-hauerkunst, Bd. 12, Freiburg 1990, S. 107–111, S. 107.

wobei sie zur besseren Wirkung ihre Bilder bewusst arrangierten.60 Dabei galten Natur, Kulturlandschaft, Gebäudestrukturen sowie Ortsbilder als un-zertrennliche Einheit.61 Trotz der im 19. Jahrhundert beliebten romantischen Ausgestaltung des Genres mussten die Betrachter immer erkennen können, um welche Ansicht es sich handelte. Dies machte Veduten mit der zunehmenden Mobilität und Reisetätigkeit der Menschen im 19. Jahrhundert zum idealen Souvenir.62

Speziell für die Gesamtansichten von Fabriken sieht Pierrot weitere Vor-läufer in den Schlossansichten des 18. Jahrhunderts,63 auch Schlossveduten

60  Hermann Voss: Studien zur venezianischen Vedutenmalerei des 18. Jahrhunderts, in:

Repertorium für Kunstwissenschaft 47, Leipzig 1926, S. 1–45, S. 1.

61  Benno Lehmann: Die Stadt- und Landschaftsvedute im 19. Jahrhundert, in: Eber-hard Knittel (Hrsg.): Veduten des 19. Jahrhunderts Vignetten zum Goethe-Jahr (= In Baden-Württemberg: Kultur, Leben, Natur, Jg. 29/1982, Heft 1), S. 7–9, S. 7.

62  Lehmann: Die Stadt- und Landschaftsvedute im 19. Jahrhundert, S. 8. Diese Funktion übernahmen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vermehrt Fotografien und Post-karten. o. A.: Art. „Vedutenmalerei“, in: Harald Olbrich u. a. (Hrsg.): Lexikon der Kunst.

Architektur, bildende Kunst, angewandte Kunst, Industrieformgestaltung, Kunsttheorie, Bd. 7, Leipzig 1994, S. 570–571.

63  Pierrot: Les images de l’industrie en France, S. 125.

Abb. 1 N. A. Volkov: Gorinskaja Papierfabrik (Gorinskaja Bumagoprjadil’naja fabrika), o. O. o. J. RGB 63180–44

genannt.64 Diese Traditionslinien prägen auch die Abbildung der russischen Gorinskaja Papierfabrik (Abb. 1). Auf den niederländischen und italienischen Vorbildern der Veduten nutzten die Künstler oft Bäume, um ihre Landschaften einzurahmen. Diese Funktion übernehmen im vorliegenden Stich eine Trauer-weide und ein nicht näher bestimmbarer Baum, die groß im Vordergrund stehen. Beide unterstreichen den relativ symmetrischen, klassischen Bildauf-bau. Die repräsentative Treppe führt den Blick des Betrachters zum Haupt-gebäude des Unternehmens, das mit seinen Arkaden und Türmchen selbst stark an ein Schloss erinnert. Vergleichbar mit den französischen Grafiken lässt das Gebäude kaum Rückschlüsse darauf zu, dass es zur Papierherstellung diente. Allein die beiden Rauchwölkchen deuten dies an. Rauch hatte sich auf Stichen schon früh zum Symbol für Aktivität und Produktivität entwickelt.65

Im Unterschied zu den Bäumen und Pflanzenelementen muten die pittoresken Rauchkringel auf Abbildung 1 allerdings wenig natürlich an. Auch die Gebäude wirken sehr schematisch, als habe der Künstler sie nicht während eines Ortsbesuchs gezeichnet, sondern am Reißbrett entworfen. Fast scheint es, als habe der Grafiker keine Erfahrung mit der Abbildung von Industrie-anlagen gehabt. Dagegen wirkt die Lithographie der Textilfabrik der Brüder Gučkovyj (Abb. 2), die ca. zehn Jahre später entstand, deutlich realistischer.

Obwohl Paškin den Baumbestand weniger detailreich abbildete, wirkt die Darstellung ausgewogener und dynamischer, der Betrachter kann sich problemlos den kräftigen Wind vorstellen, den der Rauch sowie die Fahne auf dem Türmchen links im Bild andeuten. Um das ästhetische Gleichgewicht ober- und unterhalb des Horizonts sicherzustellen, ließ der Künstler den Himmel nicht weiß (wie in Abb. 1), sondern deutete die Struktur der Wolken an.66 Auch dadurch wirken die Fabrikgebäude weniger schematisch, obwohl es sich mehrheitlich um rechteckige Gebäudekomplexe handelt.

Allen Drucken der analysierten Sammlung ist gemein, dass sie eine neutrale bis positive Sicht auf die Industrie wiedergeben. Damit unterscheiden sie sich von französischen Abbildungen aus der gleichen Zeit. In Frankreich ver-schwanden bereits in den 1830er Jahren allmählich die romantischen Einflüsse aus den Landschaftsdarstellungen. Die Künstler wählten dunklere Farbtöne, um den Raum wiederzugeben, und teilweise zeigten sie sogar Bäume, die ihre Blätter verloren hatten.67 Eine mögliche Erklärung für diese Beobachtung ist,

64  Sigrid-Jutta Motz: Fabrikdarstellungen in der deutschen Malerei von 1800 bis 1850, Frankfurt a. M. 1980, S. 34–35.

65  Pierrot: Les images de l’industrie en France, S. 131–132.

66  Pierrot: Les images de l’industrie en France, S. 187–188.

67  Pierrot: Les images de l’industrie en France, S. 191.

dass es zu dieser Zeit im Zarenreich noch zu wenige Fabriken gab, damit die negativen Auswirkungen der Industrie für die Natur entsprechend gravierend ausgefallen wären. Denkbar ist auch, dass die russischen Künstler sich sehr stark an den romantischen Vorbildern ihrer deutschen, französischen oder nieder-ländischen Kollegen orientierten.68 Bis in die 1820er Jahre hatte die russische Landschaftsmalerei nicht existiert und noch bis Mitte des Jahrhunderts war sie nur in Ansätzen vorhanden. Dieser geringe Rückhalt innerhalb der Malerei und die Suche nach einer eigenen Ausdrucksform könnten erklären, warum russische Kunstschaffende so stark an romantischen Darstellungen hingen und erst langsam auf kritische visuelle Darstellungen reagierten.

In anderen Bereichen eigneten sich die russischen Künstler dagegen relativ schnell neue Darstellungsweisen an. So integrierten französische Grafiker um 1850 nur dann Figuren, wenn diese die Szenerie belebten und mit Anekdoten bereicherten.69 Abbildung 2 zeigt beispielhaft, wie dieser Kunst-griff im Zarenreich zum Einsatz kam. Paškin zeigt auf dem Weg im Vorder-grund ein Fuhrwerk und zwei Einzelpersonen, darüber hinaus sind auf dem Weiher ein Ruderboot mit zwei Passagieren und dahinter zwei Enten zu er-kennen. Eine zweite Entwicklung betraf die Perspektive: Ende der 1840er Jahre

68  van Os: Russian Landscapes, S. 10–21, 28.

69  Pierrot: Les images de l’industrie en France, S. 83.

Abb. 2 Paškin: Fabrik der Brüder Gučkovyj (Fabrika Brat: Gučkovych), Lithographie (ris. na kam.), Moskva 1855. RGB 112351–49

zeigten französische Drucke vermehrt Fabriken aus der Vogelperspektive.70 Auch auf Paškins Ansicht der Textilfabrik blickt der Betrachter von einem er-höhten Punkt auf die Anlage. Dadurch sind hintereinander liegende Gebäude besser zu erkennen, und es ist für das Publikum einfacher, einen Eindruck des gesamten Firmengeländes zu bekommen. L(undwig) Pietzsch radikalisiert auf seiner Darstellung der Textilfabrik Gjubner diese Perspektive weiter, indem er einen Standpunkt schräg über der Anlage wählt, von dem aus der Zuschauer auf das Firmengelände blickt. In diesen beiden Fällen handelte es sich weniger um genuin neue Motive, sondern um die Erweiterung der bereits vorhandenen Darstellungsweise. Diese Innovationen übernahmen die Grafiker und Zeichner ohne große Vorbehalte von ihren europäischen Kollegen.

Pierrot zeigt für Frankreich, dass die Forschungsmeinung, es habe keine Darstellung von Fabriken und Industrieanlagen gegeben, nicht stimmt. Die Fallstudie anhand der Bestände der Russischen Staatsbibliothek hat gezeigt, dass Fabriken und Industrieanlagen auch in den Bildwelten des Zarenreichs ihren Platz hatten, wenn auch lange nicht innerhalb der Kunstmalerei. In einer Periode, in der Fabriken auf Gemälden keinen Platz fanden, waren Litho-grafien und Stiche diejenigen Kunstformen, mit der russische Künstler die neuen Erscheinungen festhielten. Diese Darstellungsformen erlebten einen Aufschwung im Rahmen der Weltausstellungen, für die Fabrikanten ganze Bilderserien in Auftrag gaben. Schließlich führte jedoch der Siegeszug der Fotografie dazu, dass die Druckgrafiken auch im Zarenreich ihre Bedeutung für die Abbildung von Fabriken einbüßten.71