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Ein Herz für Arbeiter – Wohlfahrtseinrichtungen

Neue Bilder eines neuen Raums – Fabrikalben

5.3  Die Fabrik zwischen zwei Buchdeckeln

5.3.4 Ein Herz für Arbeiter – Wohlfahrtseinrichtungen

Repräsentative Fotoalben zeigten ihrem Publikum von Industriellen oder interessierten Laien der Oberschicht neben dem Fabrikgelände, den Werks-hallen oder Aufnahmen der Belegschaft auch Wohlfahrtseinrichtungen für die Arbeiter, die ein fester Bestandteil des Bildprogramms waren.220 Der dargestellte Fabrikraum umfasste neben den unmittelbar auf dem Werks-gelände errichteten Gebäuden damit auch die Lebenswelt der Arbeiter und ihrer Familien. Auf diesen Fotografien waren Frauen und Kinder präsenter als auf den Aufnahmen vom Werksgelände – generell zeigten Bilder sozialer

218  o. A.: Al’bom manufaktury Al’berta Gjubner, S. 1–3. Zur spezifischen Darstellungsweise der Portraits in der Industriefotografie siehe auch: Kapitel „Inszenierte Geschichte – Firmenjubiläen“, S. 179–240.

219  Assegond: Les débuts de la photographie du travail usinier, S. 90, 93.

220  Mit Blick auf den Arbeitsschutz lag das Zarenreich Anfang des 20. Jahrhunderts nicht wesentlich hinter dem Standard westeuropäischer Länder: Für Frauen und Jugendliche herrschte ein Nachtarbeitsverbot. Die Arbeitszeit lag um die Jahrhundertwende mit 11–

11.4 Stunden etwas über der in Deutschland, England oder den USA. Allerdings variierte gerade der Umgang mit der eigenen Belegschaft sehr stark je nach Unternehmen. Bei-spielsweise zur Ausbeutung von Arbeitern: Timofeev: What the Factory Worker Lives by, S. 109–112. Ein Bereich, in dem das Zarenreich im Vergleich zu westeuropäischen Ländern Nachholbedarf hatte, war die Sozialgesetzgebung. Hildermeier: Geschichte Russ-lands, S. 1198–1201. Schließlich darf nicht vergessen werden, dass die Lebensbedingungen gerade in russischen Städten sehr schlecht waren. Folglich litten gerade auch Arbeiter unter diesen Zuständen, denn mit ihrem Lohn waren für sie generell nur preiswerte und damit einfache Unterkünfte in eher schlechtem Zustand erschwinglich.

Einrichtungen häufiger Personen (Abb. 31).221 Schließlich profitierten die Menschen von den Institutionen der Arbeiterwohlfahrt. Fabriken stellten in erster Linie Produkte her und ordneten den Menschen als Arbeitskraft diesem Ziel unter, auf den Bildern der Arbeiterwohlfahrt rückten die Lichtbildner die Belegschaft und deren Familien ins Zentrum der Aufnahme und zeigten, wem das soziale Engagement des Unternehmens galt.

Für die große Dominanz von Kindern auf den Fotografien der Wohl-fahrtseinrichtungen gibt es mehrere Gründe. Bildungseinrichtungen und Fabrikschulen waren ein besonders beliebtes Motiv,222 denn sie ermög-lichten den Industriellen ihr Engagement für die Zukunft des Zarenreichs zu demonstrieren, indem sie der kommenden Generation einen Zugang zur Bildung eröffneten.223 Ein Vergleich mit Fotografien anderer Einrichtungen

221  Beispielsweise: o. A.: 1857–1907 Krengol’mskaja manufaktura, S. 137, 140.

222  Besonders ab Mitte des 19. Jahrhunderts gründeten Unternehmer vermehrt Schulen für die Kinder ihrer Arbeiter. Gestwa, Proto-Industrialisierung, S. 169.

223  Die Textilfabrik Gjubner zeigte in ihrem Album eine Fotografie einer Kindergruppe und die entsprechende Bildunterschrift hieß: „Buduščie sotrudniki – Les travailleurs de l’avenir“ (die zukünftigen Arbeiter). Dies verdeutlicht, dass sich die Fabrikanten bewusst um diese Gruppe kümmerten. o. A.: Al’bom manufaktury Al’berta Gjubner, S. 32.

Abb. 31 o. A.: Gesamtansicht der Kattunfabrik (Obščij vid sitcevoj fabriki), in: o. A.: Ge-sellschaft der Manufaktur Ivan Garelin und Söhne (Tovariščestvo manufkatury Ivan Garelin i Synov’ja), Moskva o. J., S. 75. RNB OĖ Ė((AlTch459)/(2–1))

unterstreicht die Bedeutung der Kindsymbolik: Schlaf- und Speisesäle waren häufig leer, damit die Menschen nicht vom inszenierten Engagement der Unter-nehmer ablenkten.224 Im Gegensatz dazu fotografierten Lichtbildner Klassen-zimmer fast immer mit Schülern und Lehrern.225 Neben dieser moralischen visuellen Zukunftskommunikation verfolgten die Unternehmer mit ihrem Engagement auch praktische ökonomische Interessen. Sie hofften, dass ge-bildete Arbeiter weniger tränken und dadurch ihre Produktivität zunähme.226 Auf diese Annahme zielte die Einrichtung von Bibliotheken, Theatern oder sonstigen Bildungseinrichtungen, die sich ebenfalls auf den Fotografien niederschlugen.227 Weiter sahen Unternehmer die Kultivierung der Arbeiter als paternalistische Pflicht und erhofften sich durch das Engagement für die Kinder eine größere Loyalität der Belegschaft.228 Die Lichtbildner zeigten die Bildungseinrichtungen sowohl von außen als auch von innen (beispielsweise Abb. 32).

Die Fotografie des Klassenraums aus der Fabrikschule der Krasnosel’sker Papierfabrik präsentiert ein großzügig eingerichtetes Zimmer, mit hohen Fenstern, elektrischer Beleuchtung und einem Ofen. Die Inszenierung sollte den Betrachter glauben machen, dass er eine möglichst authentische

224  Z. B. Abb. 34; aber auch: Reif, Heinz: „Wohlergehen der Arbeiter und häusliches Glück“.

Das Werksleben jenseits der Fabrik in der Fotografie bei Krupp, in: Klaus Tenfelde (Hrsg.):

Bilder von Krupp. Fotografie und Geschichte im Industriezeitalter, München 1994, S. 105–

122, S. 179–240.

225  Interessant ist, dass mindestens die Hälfte der Schulaufnahmen im Fabrikkontext Mädchen zeigt und dies, obwohl Mädchen insgesamt weniger stark unter den Schülern vertreten waren und ihre Chancen, lesen zu lernen, statistisch nur halb so groß waren wie die der Jungen. Steinberg: Proletarian Imagination, S. 28.

226  Leonid Borodkin; Evgeny Chugunov: The Reading Culture of Russian Workers in the Early Twentieth Century (Evidence from Public Library Records), in: Miranda Remnek (Hrsg.):

The Space of the Book. Print Culture in the Russian Social Imagination, Toronto 2011, S. 142–164, S. 144, 151. Vermutlich machten besonders die weißen Schürzen der Mädchen sie zu beliebten fotografischen Objekten.

227  Besonders zwischen 1900 und 1905 erfreuten sich Arbeitertheater in Unternehmen großer Popularität. Engel: Between the Fields and the City, S. 158. Abgebildet beispielweise auch in: o. A.: Tovariščestvo manufkatury Ivan Garelin, S. 77.

228  Steinberg: Moral Communities, S. 35, 44–45, 51, 248. Allerdings entzogen sich viele Arbeiter diesen Kultivierungsversuchen seitens der Unternehmer. Zur Entwicklung des Schulwesens und der Bildungsstrategien im Zarenreich beispielsweise: Ben Eklof: Russian Peasant Schools. Officialdom, Village Culture, and Popular Pedagogy, 1861–1914, Berkeley u. a. 1986; Jan Kusber: Eliten– und Volksbildung im Zarenreich während des 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Studie zu Diskurs, Gesetzgebung und Umsetzung, Stuttgart 2004; Irina Mchitarjan: Der russische Blick auf die deutsche Reformpädagogik.

Zur Rezeption deutscher Schulreformideen in Rußland zwischen 1900 und 1917, Bielefeld 1998.

Situation vor sich habe. Die Mehrheit der Kinder auf Abbildung 32 hat ihren Blick auf die Bücher gesenkt, selbst die Lehrerin scheint in ihre Lektüre ver-tieft. Entsprechende Aufnahmen gelangen besser, wenn der Fotograf ältere Schüler fotografierte. Auf Bildern wie Abbildung 33 aus der Kinderkrippe der Krasnosel’sker Papierfabrik blickten alle Kinder zum Fotografen, so dass für den Betrachter klar zu erkennen ist, dass es sich hier um eine Inszenierung vor der Kamera handelt.

Gerade die Fotografie der Schulklasse passt hervorragend zu anderen Industriefotografien, indem sie eine saubere Umgebung beschwört, in der nach neuesten Standards gelehrt und gelernt wird. Die Aufnahme spart jeden Hin-weis darauf aus, dass Schulen auch Orte der Disziplinierung und Demütigung sein konnten.229

Die Kleidung der Kinder betont die Bildungseinrichtungen als Raum der Ordnung und Sauberkeit. Auf den schwarz-weißen Abbildungen bilden die

229  Teilweise können Schulen im 19. Jahrhundert auch als Orte der Gewalt betrachtet werden:

So beschreibt Gerasimov, wie der Lehrer allen finnischsprachigen Kindern in der Fabrik-schule der Krenholmer Textilmanufaktur verbot, Russisch zu sprechen. Jedes Vergehen ahndete er mit Prügelstrafen. Gerasimov: Foster Child of the Founding Home, S. 274.

Abb. 32 o. A.: Fabriklehranstalt. 3. und 4. Abteilung, 1. Klasse (Fabričnoe učilišče. 3-e i 4-e otdelenija 1-go klassa), in: Gesellschaft der Krasnosel’sker Papierfabrik der Erben von K. P. Pečatkin (Tovariščestvo Krasnosel’skoj pisučebymažnoj fabriki naslednikov K. P. Pečatkina), Sankt-Peterburg nach 1911, S 40. RNB OĖ Ė((AlTch450)/(1–1a))

hellen Flächen der weißen Schürzen einen klaren Kontrast und betonten die Reinlichkeit ihrer Trägerinnen.230 Es ist davon auszugehen, dass anläss-lich des Besuchs des Fotografen auch die Jungen in ihren besten Kleidern er-schienen. Dies ist neben Schulaufnahmen auch auf anderen Fotografien zu beobachten.231 Nahm ein Fotograf beispielsweise Kinder vor Arbeiterhäusern auf, trugen diese häufig Schuhe, und auch hier fallen weiße Kleider, Hemden oder Schürzen auf (Abb. 31). Unter gewöhnlichen Umständen wäre wohl kaum eine Mutter einverstanden gewesen, wenn sich ihr Kind in Festtagskleidung in den Sand gesetzt hätte. Es wird ein weiteres Mal deutlich, dass der Besuch eines Fotografen eine Ausnahmesituation darstellte und die Fabrikanten von den Arbeitern erwarteten alles zu tun, um die Inszenierung der Fabrik als sauberen Ort zu untermauern. Arbeiter waren auf Fotografien grundsätzlich nie schmutzig, selbst auf Aufnahmen aus der Metallverarbeitung oder der Stahlherstellung (Abb. 25) haben die Dargestellten immer saubere Gesichter

230  Auch in Frankreich galten weiße Schürzen in der Industriefotografie als Zeichen von Sauberkeit. Assegond: La photographie du travail, S. 246.

231  Für den Besuch beim Fotografen legten die Menschen üblicherweise ihren Sonntagsstaat an. Teilweise verfügten die Ateliers über einen Fundus an Leihkleidern, aus denen die Portraitierten wählen konnten. Sachsse: Fotografie, S. 39–40.

Abb. 33 o. A.: Krippe für die Kinder der Arbeiter (Jasli dlja detej rabočich), in: Gesell-schaft der Krasnosel’sker Papierfabrik der Erben von K. P. Pečatkin (Tovariščestvo Krasnosel’skoj pisučebymažnoj fabriki naslednikov K. P. Pečatkina),

Sankt-Peterburg nach 1911, S 49. RNB OĖ Ė((AlTch450)/(1–1a))

und Hände. Ihr Erscheinungsbild ist tadellos, obwohl die Arbeiter gerade hier in einem Umfeld tätig waren, in dem sie mit Ruß und Maschinenöl in Berührung kamen und folglich dunkle Verfärbungen auf Haut und Kleidung hätten sichtbar sein müssen.232

Den Eindruck von Sauberkeit und Ordnung unterstrichen auch Fotografien der Arbeiterunterkünfte, insbesondere die Innenaufnahmen aus Schlafsälen, so Abbildung 34 aus dem Jahr 1888. Dies war im Zarenreich die verbreitetste Unterbringung für Arbeiter.233 Bei diesem Beispiel handelt es sich um eine fortschrittliche Variante, denn vor der Jahrhundertwende waren viele Schlaf-säle nur mit einfachen Pritschen ausgestattet.234 Alle Beispiele dieses Motivs im analysierten Quellenkorpus sind menschenleer, und die in regelmäßigen Reihen stehenden Betten und Schränkchen dominieren die Bildkomposition.

Die durch die einheitlich gemachten Betten erzeugte Ästhetik lässt vergessen, wie viele Menschen hier nebeneinander schliefen und lebten. Die völlige Ab-wesenheit persönlicher Gegenstände legt erneut offen, dass es sich um eine starke Inszenierung handelt.

Diese Form des sozialen unternehmerischen Engagements war im Zaren-reich akzeptiert und galt als fortschrittlich. Im Gegensatz dazu finden sich in französischen Fabrikalben keine Fotografien aus Schlafsälen.235 Hier werden die unterschiedlichen Kontexte deutlich, vor denen russische und französische Industrielle das Bildrepertoire für Alben ihrer Unternehmen zu-sammenstellten. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts gab es besonders in Frankreich zunehmend Unternehmer, die sich im sozialen Wohnungsbau engagierten und Arbeitersiedlungen für ihre Belegschaft bauen ließen.236 Die Fabrikanten wollten die Lebensbedingungen der Menschen verbessern, so dass Familien beispielsweise eigene Wohnungen oder kleine Häuschen mit Garten erhielten.

232  Diese Faszination für Sauberkeit findet sich auch in der ethnografischen Fotografie und der Kolonialfotografie – ebenfalls ein Bereich, in dem Kultivierungsbemühungen eine wichtige Rolle spielten. Anne McClintock: Imperial Leather. Race, Gender and Sexuality in the Colonial Contest, Oxon, New York 1995, S. 211, 214.

233  Engel: Between the Fields and the City, S. 204–205. Bis in die 1880er Jahre war es keine Seltenheit im Zarenreich, dass die Arbeiter direkt in der Fabrik schliefen. Hildermeier:

Geschichte Russlands, S. 1194; Pavlov: Ten Years of Experience, S. 130.

234  Pavlov: Ten Years of Experience, S. 124.

235  Gespräch mit Céline Assegond am 28. August 2014 in Basel.

236  Charles Fourier: Cités ouvrières. Des modifications à introduire dans l’architecture des villes, Paris 1849; A. Penot: Les cités ouvrières de Mulhouse et du département du Haut-Rhin, Mulhouse, Paris 1867, S. 1–2, 7–9; Stéphane Jonas: Le Mulhouse industriel. Un siècle d’histoire urbaine 1740–1848, Bd. 2, Paris 1994, S. 169–191; Stéphane Jonas: Mulhouse et ses cites ouvrières. Perspective historique 1840–1918, quatre-vingt ans d’histoire urbaine et sociale du lodgement ouvrier d’origine industrielle, Strasbourg 2003, S. 66–212.

Dadurch stärkten sie die Loyalität zwischen der Belegschaft und ihrem Be-trieb. Für französische Unternehmer mussten die russischen Fotografien großer Schlafsäle rückschrittlich erscheinen,237 weswegen sich entsprechende Aufnahmen nicht eigneten, um für das gesunde Lebensumfeld der Fabrik zu werben.

Im Zarenreich stellte sich die Wohnsituation der Arbeiter im Vergleich zu Frankreich prekär dar. 1912 lebten in Moskau durchschnittlich 8,7 Menschen in einer Wohnung, in St. Petersburg lag mit 7,4 Bewohnern pro Wohnung die

237  Beispielsweise die unterschiedlichen Arbeiterunterkünfte in Mulhouse: Penot: Les cites ouvrières de Mulhouse, S. 32–35.

Abb. 34 Levickij: Schlafsaal der Meister in der Fabrik in Moskau (Spal’naja masterov na fabrike v Moskve), in: o. A.: Ansichten der Fabrik und Geschäfte der Gesellschaft A. I. Abrikosov und Söhne im Jahr 1888. Die Fabrik ist während der Produktion donnerstags von 2 bis 4 Uhr für die Öffentlichkeit geöffnet, Aufsicht habender Direktor V. A. Abrikosov (Vidy fabrik i magazinov tovariščestva A. I. Abrikosova synovej, v 1888g. Fabrika otkryta dlja publiki vo vremja proizvodstva po četvergam, ot 2 do 4 časov, Direktor Rasporjaditel’

V. A. Abrikosov), Moskva 1888, S. 24. RGB Inv MK XII–1277

Zahlen ebenfalls weit über dem Durschnitt anderer europäischer Hauptstädte wie Paris (4,3), Wien (4,2) oder Berlin (3,9).238 Bei diesen Zahlen handelt es sich um eine Schätzung – die Verhältnisse sahen besonders in Mietskasernen deutlich schlimmer aus. Hier vermieteten Wohnungsbesitzer teilweise einzel-ne ugly (Ecken), so dass sich oft mehrere Familien in eieinzel-nem einzigen Zimmer drängten, nur durch Vorhänge voneinander getrennt.239 Folglich hatten russischen Betrachter eher Bilder von Schlafgängern vor Augen – Personen, die abwechseln im selben Bett schliefen, womöglich auf Pritschen in fensterlosen Räumen (Abb. 60 und 61). Vor diesem Hintergrund erscheinen die ordent-lichen, sauberen Schafsäle mit großen Fenstern als erstrebenswerte Orte.

Auch die Außenaufnahme von Arbeitersiedlungen wie die der Textilfabrik Ivan Garelin i Synov’ja (Abb. 35) müssen vor dem Hintergrund der Wohn-situation der Arbeiter im Zarenreich interpretiert werden. Dem heutigen Be-trachter stechen besonders die Pfützen auf der morastigen Straße ins Auge; ein Anblick, der eher negative Assoziationen wie fehlende oder wenig fortschritt-liche Infrastruktur oder die russische Wegelosigkeit weckt.240 Der Zustand der Straßen war für die Auftraggeber des Albums dagegen ganz normal, sonst hätten diese das Bild nicht in die Publikation aufgenommen. Das eigentliche fotografische Objekt waren stattdessen die einstöckigen Holzhäuser rechts und links der Straße, in denen Meister und Arbeiter lebten. Diese Bauten hatte das Unternehmen als soziale Fürsorge für seine Mitarbeiter bauen lassen.

Zum festen Bildprogramm der Wohlfahrtseinrichtungen gehörten auch Fotografien des fabrikeigenen Krankenhauses. Seit 1866 verpflichtete ein Er-lass alle Fabrikbesitzer, deren Belegschaft die Zahl von 1.000 Arbeitern über-schritt, eine Krankenstation mit zehn Betten vorzuhalten und zusätzlich

238  Ruble: Second Metropolis, S. 266. Die große Wohnungsnot und das enorme Wachstum der russischen Städte ließ St. Petersburg um die Jahrhundertwende zur teuersten Stadt Europas werden. Engel: Between the Fields and the City, S. 111–112, 173–181, 328.

239  Vermutlich lebten 1913 noch etwa 10 Prozent der Bevölkerung der russischen Hauptstadt in Ecken. Steinberg: Petersburg, S. 12; William Brumfield: Russian Architecture and the Cataclysm of the First World War, in: Murray Frame u. a. (Hrsg.): Russian Culture in War and Revolution, 1914–22. Book 1. Popular Culture, the Arts and Institutions, Bloomington 2014, S. 165–188, S. 181–182; Engel: Between the Fields and the City, S. 204–205; Goehrke:

Auf dem Weg in die Moderne, S. 317. Wenn dies möglich war, bevorzugten Familien vergleichbare kleinere Arbeiterhäuschen. Pavlov: Ten Years of Experience, S. 127.

240  Auch die Zeitgenossen selbst hofften darauf, dem Alltag der schlammigen Dorfstraßen zu entkommen, und das trotz der weit verbreiteten Skepsis gegenüber dem urbanen Leben in den Städten. Brooks: When Russia Learned to Read, S. 13. Zur russischen Wegelosigkeit und der Bedeutung des Straßennetzes: Roland Cvetkovski: Russlands Wegelosigkeit.

Semiotik einer Abwesenheit, in: Karl Schlögel (Hrsg.): Mastering Russian Spaces. Raum und Raumbewältigung als Probleme der russischen Geschichte, München 2011, S. 91–107.

fünf Betten für alle weiteren 1.000 Beschäftigten bereitzustellen.241 In ihren Werbetexten in Illustrierten betonten die Verantwortlichen der Betriebe ex-plizit, wie viel medizinisches Personal sich um das Wohlergehen ihrer Arbeiter kümmerte.242 Die detaillierten Beschreibungen der Krankenfürsorge und Gesundheitsvorsorge in populären Zeitschriften zeigen, dass die Unternehmer erkannten, welche Brisanz die Gesundheitslage der Fabrikarbeiter in den ge-sellschaftlichen Diskussionen des ausgehenden Zarenreichs hatte. In den 1870er Jahren hatten sich an ihnen sogar Arbeiterunruhen entzündet.243 Zwar hatten sich die Zustände seither verbessert, dennoch bemängelten Fabrik-inspektoren regelmäßig die schlechte medizinische Versorgung der Arbeiter.244 Über die tatsächlichen Zustände im Inneren der Krankenhäuser schweigen sich die meisten Fotografien jedoch aus und zeigen bis auf eine Ausnahme

241  James Mavor: An Economic History of Russia, Bd. 2, New York 21965 (ursprünglich 1914), S. 408.

242  Beispielsweise: I. I. Ratner: Na fabrike Blingken i Robinson, in: Novoe Vremja, 29.05.1910, S. 12; o. A.: O značenie švejnoj mašiny v domašnem obichode i promyšlennosti, in: Niva, 03.09.1905, S. 700–700v.

243  Zelnik: Law and Disorder on the Narova River, S. 48–73.

244  Hildermeier: Geschichte Russlands, S. 1201.

Abb. 35 o. A.: o. T., in: o. A.: Gesellschaft der Manufaktur Ivan Garelin und Söhne (Tovariščestvo manufkatury Ivan Garelin i Synov’ja), Moskva o. J., S. 89.

RNB OĖ Ė((AlTch459)/(2–1))

nur Außenaufnahmen der Krankenstationen.245 Die Innenaufnahme zeigt leere Bettgestelle ohne Bettwäsche oder Patienten. Fotografien von Kranken hätten die Erzählung einer gesunden Fabrik infrage gestellt. Darüber hinaus hätten Aufnahmen von Patienten das Potential gehabt, die Inszenierung des geordneten und friedlichen Raums der Fabrik zu untergraben: Es hätte sicht-bar werden können, welche Verletzungen die Arbeiter durch Unfälle an den Maschinen davontrugen.246 Ursachen für Verletzungen waren neben Arbeits-unfällen auch Willkür und Gewaltausübung durch die Werkspolizei, die sowohl finanzielle als auch körperliche Strafen verhängen konnte.247 Wären Unternehmer in Alben auf Disziplinarmaßnahmen eingegangen, hätten sich Betrachter möglicherweise gefragt, ob die Arbeiter nicht doch gefährlich seien.

Angesichts der Angst der russischen Eliten vor einer organisierten Arbeiter-schaft dürften Fabrikanten diese Themen gerne vermieden haben. Während westeuropäische Betriebe Fotografien von Invaliden verwendeten, um mit Bildern von Erholungsheimen ihr besonderes Engagement für ihre Belegschaft zu betonen,248 klammerte die russische Industriefotografie diese Thematik fast vollständig aus. Die Verletzlichkeit des menschlichen Körpers durch die Technik war kein Motiv, das Fabrikanten in Fotoalben verbreiteten oder das andere Medien aufgriffen und publizierten. Auch dieses Bild des Fabrikraums wäre mit der idealen Scheinwelt der Fotoalben kollidiert.

245  RGB: Izo 6141–77: Karl Andreevič Fišer: Brjanskij rel’soprokatnyj, stalelitejnyj, železodelatel’nyj i mechaničeskij zavod. Osnovan v 1873 godu, Moskva o. J., S. 27; RNB OĖ: Ė((AlТch391)/(1–1)): J. Grodzicki; V. Radomiu: Ostroveckie Čugunoplavil’nye i Železodelatel’nye Zavody 1896, o. O. 1896, S. 15; RGB: Izo 21544–73: o. A.: Očerk osnovanija razvitija i nynešnjago sostojanija fabrik i zavodov Akcionernago obščestva bumažnych manufaktur I. K. Poznanskago v gor. Lodzi, Lodz 1896, S. 5–6; NBGĖ ORK: BsN28: o. A.:

Prebyvanie ego Imperatorskago veličestva, gosudarja Imperatora na Aleksandrovskom južno-rossijskom zavod brjanskago obščestva v Ekaterinoslave, 31 janvarja 1915 goda, Moskva 1915, S. 77; RGIA f. 37, op. 81, d. 224: o. A.: Vidy chimičeskich zavodov Tovariščestva P. K. Uškova i Ko, S. 28.

246  Semën Ivanovič Kanačikov: A Radikal Worker in Tsarist Russia. The Autobiography of Semën Ivanovič Kanačikov, Übersetzung: Reginald Zelnik, Stanford 1986, S. 15. Körper-liche Verletzungen und Leiden spielten in den Schriften von Arbeiterautoren eine wichtige Rolle. Steinberg: Proletarian Imagination, S. 72–73. In Deutschland nutzte die AEG Fotografien von Verstümmelungen durch Arbeitsunfälle zur Unfallprävention. Im Zarenreich war die Angst der Unternehmer vor kritischen Fragen offenbar zu groß. Rogge:

Fabrikwelt um die Jahrhundertwende, S. 160–162.

247  Zelnik: Law and Disorder on the Narova River, S. 40, 238, 240, 275, 279. Teilweise waren diese Strafen so schwer, dass die Geschlagenen an den Folgen starben.

248  Matz: Industriefotografie, S. 67, 69.

5.4 Fazit

Unternehmer präsentierten ihrem Publikum, das vornehmlich aus der ge-hobenen Mittel- und Oberschicht stammte, den Fabrikraum mittels Foto-grafien in aufwendig gearbeiteten und kostbar verzierten Alben. Viele Fotografien hätten nicht bis heute überlebt, wenn sie nicht Teil eines Albums geworden wären. Diese exklusive Rahmung verfolgte mehrere Ziele: Die Fabrikleitung drückte, wenn es sich um Geschenke handelte, mit den teuren Alben ihre Wertschätzung gegenüber dem Beschenkten aus. Im Gegenzug konnte sie hoffen, dass die prunkvollen Einbände das Interesse der Betrachter weckten und zu einem positiven Blick auf das Unternehmen führten. Darüber hinaus stimmten die prächtige Ausstattung der Bände die Betrachter auf das Narrativ ein, das die Fabrik als einen Raum der Symmetrie, der Ordnung und industriellen Ästhetik präsentierte. Bildsprache und Stilmittel blieben bis zum Ersten Weltkrieg relativ konstant. Mit der voranschreitenden Entwicklung der fotografischen Technik erweiterten sich sukzessive die gängigen Motive, so dass die Fotografen nach der Entwicklung des künstlichen Blitzlichts auch in Werkstätten Aufnahmen anfertigen und Personen fotografieren konnten.

Die Fotoalben führten den Betrachter in einem visuellen Rundgang über das Fabrikgelände, zeigten leer geräumte Flächen oder symmetrisch auf-geschichtete Produkte sowie Werkshallen, in denen Maschinen, Menschen und Elemente der Architektur sich zu einem geometrischen Gesamtbild

Die Fotoalben führten den Betrachter in einem visuellen Rundgang über das Fabrikgelände, zeigten leer geräumte Flächen oder symmetrisch auf-geschichtete Produkte sowie Werkshallen, in denen Maschinen, Menschen und Elemente der Architektur sich zu einem geometrischen Gesamtbild