• Keine Ergebnisse gefunden

Neue Bilder eines neuen Raums – Fabrikalben

5.2 Ein Album für den Zaren

Ein besonders aufwendiges Album gab 1873 die Waffenfabrik in Tula, der Tul’skij oružejnyj zavod,58 in Auftrag.59 Es handelte sich dabei streng genommen nicht um ein klassisches Album, sondern um eine Art Sammelmappe, die einzelnen Seiten waren nicht gebunden, sondern wurden lose aufbewahrt.60 Die Bilder ermöglichen dem Betrachter mit vier Außen-, elf Innenaufnahmen und zwei Grundrissen, sich einen detaillierten Eindruck vom Betrieb zu ver-schaffen. Das Album zeigt die ersten Innenaufnahmen aus Werkstätten einer russischen Fabrik.61 Mindestens ebenso eindrücklich ist die Ausstattung des Albums, das sich daher besonders gut als Gegenstand für eine Objektbio-graphie eignet.

Wer sich das Album heute in der Fotoabteilung der Russischen Staatsbiblio-thek (RGB) ansieht, dürfte erstaunt sein: Auf dem Tisch findet er zunächst eine große Holzkiste, die gut einen halben Meter breit, rund 70 Centimeter lang und 20 Centimeter hoch ist. Nimmt er den massiven Holzdeckel ab, sieht er im Inneren der mit weißem Satin oder Seide und rotem Samt ausgekleideten Box eine zweite Schatulle. Ihre Form erinnert an ein großes Buch oder Album (Abb. 4).

Der Deckel der Schatulle ist mit blauem Samt überzogen und mit Gold-schmiedearbeiten verziert. Sie zeigen im Zentrum das Emblem der Waffen-fabrik, strahlenförmig umgeben von Miniaturgewehren, von denen die meisten jedoch irgendwann aus ihren Halterungen gelöst wurden und heute fehlen.

Die beiden Lettern in der rechten und linken oberen Hälfte ziert eine Krone.

Die Buchstaben verweisen auf die Empfänger des Albums: Zar Alexander II.

(1818–1881) und Zarin Maria Alexandrovna (1824–1880). Ein Abdruck im Samt und ein Riss zwischen den beiden Lettern zeigen, dass jemand den hier ur-sprünglich befestigten doppelköpfigen Adler, das Wappen des Zarenreichs,

58  1712 von Peter I. gegründet entwickelte sich das Staatsunternehmen zu einer der wichtigsten Waffenfabriken im Zarenreich. 1875 wurde die Fabrik auf Geheiß Alexanders II. in Imperatorskij Tul’skij oružejnyj zavod Glavnаgo artilerijskago upravlenija (Kaiserliche Tulaer Waffenfabrik des Artilleriehauptamtes) umbenannt. 1912 erfolgte eine weitere Namensänderung in Tul’skij Imperatora Petra Velikago oružejnyj zavod (Tulaer Zar Peter des Großen Waffenfabrik).

59  Es befindet sich heute in der fotografischen Sammlung der Rossijskaja gosudarstvennaja biblioteka in Moskau. RGB: Inv MK XII – 4224 Izo 15880–64: Tul’skij Imperatora Petra Velikago oružejnyj zavod (Hrsg.): Tul’skij oružejnyj zavod. Osnovan 1712.

60  In Deutschland schloss die Bezeichnung „Album“ im 19. Jahrhundert auch Sammel-mappen ein. Herz: Gesammelte Fotografie und fotografierte Erinnerungen, S. 242.

61  Zumindest konnten im Rahmen der Recherchen für die vorliegende Arbeit keine früheren Innenaufnahmen ausfindig gemacht werden.

5.2 Ein Album für den Zaren

gewaltsam abgerissen hat. Dies geschah mit großer Wahrscheinlichkeit, nach-dem 1917 die Bolschewiki die Macht in Russland übernommen hatten. Auf der unteren Hälfte des Deckels sind silberne Lorbeer- und Eichenzweige zu sehen, die ein goldenes Band zusammenhält. Es trägt den Titel des Albums: Tul’skij oružejnyj zavod. Osnovan 1712, perestroen 1873 (Tulaer Waffenbetrieb, gegründet 1712, umgebaut 1873).

Es gibt keine Dokumente zum Ursprung der Schatulle, doch ihr Titel gibt wichtige Hinweise auf ihren Entstehungskontext: der Umbau der Fabrik 1873. In September dieses Jahres besuchte Kriegsminister Dmitrij Alekseevič Miljutin (1816–1912) anlässlich der Einweihung eines neuen Gebäudes und der Inbetriebnahme zweier Dampfmaschinen das Unternehmen.62 Zwei der elf Innenaufnahmen zeigen das entsprechende Turbinen- und Maschinen-haus, so dass davon auszugehen ist, dass die Fotografien die erfolgreiche Modernisierung der Fabrik dokumentieren sollten. Die Aufnahmen aus den anderen Werkstätten warben ebenfalls für die Leistungsfähigkeit und Fort-schrittlichkeit des Betriebs. Die Tulaer Waffenfabrik war ein staatliches Unter-nehmen und somit Zar Alexander II. unterstellt. Staatseigene UnterUnter-nehmen hatten im Zarenreich dank staatlicher Aufträge ein gesichertes Auskommen:

Nur sie durften das russische Militär ausstatten. Die Staatsbetriebe standen

62  I. A. Bynkinyj; P. S. Ul’jancevyj: Posle osvoboždenija, in: L. A Grišin; L. A. Demin;

Z. P. Kozyreva; u. a (Hrsg.): Istorija Tul’skogo oružejnogo zavoda, 1712–1972, Moskva 1973, S. 71–98, S. 81.

Abb. 4

o. A.: Tulaer Waffenfabrik. Gegründet 1712 umgebaut 1873 (Tul’skii oružejnyj zavod.

Osnovan 1712 perestroen 1873), Moskva 1873.

RGB Inv MK XII – 4224 Izo 15880–64

aber untereinander in Konkurrenz.63 Dies legt nahe, dass das Album die Funktion eines sehr aufwendigen Werbegeschenks erfüllte, mit dem die Unter-nehmensleitung ihren großen Maschinenpark vorführte. Denn Maschinen waren ein Symbol für Fortschritt und Leistungskraft.64 Miljutin sollte das Geschenk an den Monarchen mit in die Hauptstadt nehmen, so dass sich Alexander II. selbst einen Eindruck von der Fabrik verschaffen konnte.

Allerdings wäre es zu kurz gegriffen, das Album allein als Werbeträger zu verstehen. Es handelte sich schließlich um ein Geschenk an den Zaren, dessen Person weitaus mehr Aspekte umfasste, als die des obersten Landes-herrn. Die Zaren inszenierten sich bereits im 16. Jahrhundert gegenüber der russischen Bevölkerung, die zum überwiegenden Teil aus Bauern bestand, als von Gott erwählt. Der Zar war Quelle aller Macht, er schien der alleinige Garant für Gerechtigkeit zu sein. In seiner Figur mischten sich religiöse und weltlich-machtpolitische Aspekte. In der Vorstellung der russischen Be-völkerung war der Zar der Inbegriff des Guten, während seine Amtsleute und Adeligen hinter seinem Rücken die Bauern ausbeuteten.65 Peter I. erweitere das Repertoire um den Aspekt des Eroberers und Feldherren, der das Russische Reich gegen äußere Feinde verteidigte.66 Seine Nachfolger übernahmen diese Facette und gewichteten je nach den politischen Rahmenbedingungen die religiösen, mythischen oder militärischen Aspekte in ihrer Selbstdarstellung verschieden stark. Während Katharina II. den Mythos der gottgewählten Herrscherin und Eroberin pflegte, stilisierten sich Paul I. (1754–1801) und Alexander I. (1777–1825) als militärische Führer.67 Im 19. Jahrhundert setzte

63  Peter Gatrell: Defence Industries in Tsarist Russia, 1908–13. Production, Employment and Military Procurement, in: Linda Admondson; Peter Waldron (Hrsg.): Economy and Society in Russia and in the Soviet Union, 1860–1930. Essays for Olga Crisp, Hampshire 1992, S. 131–151, S. 138.

64  Nigel Raab: Visualising Civil Society. The Fireman and the Photographer in Late Imperial Russia, 1900–1914, in: History of Photography, Jg. 31/2007, Heft 2, S. 151–164, S. 159.

65  Carsten Goehrke: Russischer Alltag. Eine Geschichte in neun Zeitbildern, Bd. 1. Die Vor-moderne, Zürich 2003, S. 295–296. Der Glaube an den guten Zaren ging so weit, dass unter den russischen Bauern viele Geschichten zirkulierten, in denen der Zar die Rolle des Be-freiers einnahm und die Menschen aus der Leibeigenschaft befreite. Kirill V. Čistov: Der gute Zar und das ferne Land. Russische sozial-utopische Volkslegenden des 17.–19. Jahr-hunderts, Münster 1998, S. 189, 198–199.

66  Richard Wortman: Scenarios of Power. Myth and Ceremony in Russian Monarchy, Bd. 1.

From Peter the Great to the Death of Nicolas I., Princeton 1995, S. 81.

67  Vor den Hintergrund der Französischen Revolution und der Aufklärung schwächten sie den sakralen Charakter des Zarenbilds ab. Die Uniform ersetzte in den Zarendar-stellungen die mythischen Analogien, so dass Anfang des 19. Jahrhunderts militärische Uniformen die akzeptierte Kleidung der Monarchen wurde und Paraden zum zentralen Element der Selbstpräsentation. Wortman: Scenarios of Power, Bd. 1, S. 169–170.

eine Resakralisierung des Zarenbilds ein, und nach 1850 legten die russischen Monarchen besonderen Wert auf die Darstellung der Einheit zwischen Zar und Volk. Das Bild des guten „Väterchen Zar“ erlebte eine neue Konjunktur.68

Der Akt des Schenkens erfüllte für die Fabrikleitung die Funktion der Kontaktaufnahme mit dem Monarchen. Obwohl keine persönliche Über-gabe des Albums stattfand, etablierte das Geschenk eine Form der Interaktion zwischen beiden Parteien.69 Einerseits schuf das Präsent Vertrauen, anderer-seits rief es beim Beschenkten das Gefühl hervor, dem Schenker gegenüber ver-pflichtet zu sein.70 Gleichzeitig habe eine Gabe auch eine zeitliche Dimension, so Helmut Berking, es handle sich um eine materialisierte Erinnerung.71 Im Fallbeispiel der Waffenfabrik verweist dieser Aspekt jedoch weniger auf die Vergangenheit als auf die Zukunft. Zar Alkesandr II. war im Jahr 1873 bereits 18 Jahre auf dem Thron, hatte das Unternehmen aber noch nicht besichtigt. Das Zarengeschenk kann vor diesem Hintergrund als Strategie verstanden werden, die Aufmerksamkeit des Herrschers auf sich zu lenken; eine erfolgreiche Strategie. Nur zwei Jahre später stattete Alexander II. der Fabrik tatsächlich einen Besuch ab.72

68  Goehrke: Auf dem Weg in die Moderne, S. 257; Wortman, Richard: Scenarios of Power.

Myth and Ceremony in Russian Monarchy, Bd. 2. From Alexander II to the Abdication of Nicolas II, Princeton 2000, S. 525–527. Zur weiteren Entwicklung des Zarenbildes und Zarenmythos siehe Kapitel „Die Fabrik wird salonfähig – der Erste Weltkrieg“, S. 325–368.

69  Helmut Berking: Schenken. Zur Anthropologie des Gebens, Frankfurt a. M., New York 1996, S. 18, 30; Martin Lintner: Eine Ethik des Schenkens. Von einer anthropo-logischen zu einer theologisch-ethischen Deutung der Gabe, Wien 2006, S. 40; Georg Witte: Das Geschenk als Ding, das Ding als Geschenk. Daniil Charms’ Überholung des Funktionalen Gegenstands, in: Rainer Grübel; Gun-Britt Kohler (Hrsg.): Gabe und Opfer in der russischen Literatur und Kultur der Moderne, Oldenburg 2006, S. 283–303, S. 283. Irenäus Eibl-Eibesfeldt bezeichnet das Überreichen von Geschenken als eine der elementaren Interaktionsstrategien, die in verschiedensten Gesellschaften auftaucht und nach universell gültigen Regeln strukturiert ist. Irenäus Eibl-Eibesfeldt: Grundriss der vergleichenden Verhaltensforschung. Ethnologie, München 81999, S. 742. Zu diesen Regeln siehe auch den Grundlagentext von Marcel Mauss, den dieser ursprünglich 1923 unter dem Titel Essai sur le don. Forme et raison de l’échange dans les société archaïques in der L’Année Sociologique veröffentlichte: Marcel Mauss: Die Gabe. Form und Funktion des Austausches in archaischen Gesellschaften, Frankfurt a. M. 1968. Harry Liebersohn skizziert die Veränderungen, die das Konzept der Gabe und des Geschenks in West-europa vom 19. bis ins 20. Jahrhundert durchlief. Harry Liebersohn: The Return of the Gift. European History of a Global Idea, Cambridge 2011, S. 165–170.

70  Iris Därmann: Theorien der Gabe. Zur Einführung, Hamburg 2010, S. 16; Lintner: Eine Ethik des Schenkens, S. 54.

71  Berking: Schenken, S. 20.

72  Gavardii Polkovnik Zybin: Kratkaja istorija Tul’skago Imperatora Petra Velikago oružejnago zavoda, 1712–1912, Moskva 1912, S. 39. In dieser Situation kann das Album auch in der Tradition klassischer diplomatischer Umgangsformen gesehen werden,

Marcel Mauss und Pierre Bourdieu stellen den Akt des Schenkens auch in den Kontext der Demonstration von Reichtum und Macht. Der Geber demonstriere mit einem kostbaren Geschenk, dass es ihm finanziell gut gehe, und erhalte im Zuge dessen Anerkennung und Prestige als „symbolisches Kapital“.73 Die Fabrikleitung bemühte sich, dem Zarenehepaar ein besonders kostbares Präsent zu machen, um das Prestige des Unternehmens zu erhöhen.

Dies war eine Herausforderung, denn eine solche Gabe musste angemessen und, wenn sie für den bedeutendsten Mann des Russischen Reichs bestimmt war, entsprechend wertvoll sein.74

Das Album erfüllt diese Voraussetzungen auf mehreren Ebenen. Neben der kostspieligen Schatulle unterstrichen die großformatigen Abzüge75 die Ex-klusivität des Geschenks. Die Bilder spiegelten den neuesten Stand der foto-grafischen Technik. Insbesondere die Innenaufnahmen demonstrierten das große Können des Fotografen, der für die Albuminabzüge die teuersten und besten Chemikalien und Materialien verwendete, die 1873 in Westeuropa er-hältlich waren.76 Auf diese hohe Qualität legten die Auftraggeber nur im Falle des Herrschergeschenks Wert. Die Unternehmensleitung gab eine zweite Mappe mit Abzügen derselben Negative in Auftrag. Diese Fotografien waren aus in Russland handelsüblichem Fotopapier.77 Auch die Retuschen sind im Falle des Zarengeschenks unauffälliger, was von größerer Sorgfalt und Kunst-fertigkeit zeugt.78

denn es war in Europa üblich, mit Geschenken in Entscheidungsprozesse einzugreifen und kurzfristige Erfolge zu erzielen. Mark Häberlein; Christof Jeggle: Einleitung, in: dies.

(Hrsg.): Materielle Grundlagen der Diplomatie. Schenken, Sammeln und Verhandeln in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, Konstanz 2013, S. 11–30, S. 13; Harriet Rudolph: Fürst-liche Gaben? Schenkakte als Elemente der politischen Kultur im Alten Reich, in: Mark Häberlein; Christof Jeggle (Hrsg.): Materielle Grundlagen der Diplomatie. Schenken, Sammeln und Verhandeln in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, Konstanz 2013, S. 79–

102, S. 102.

73  Pierre Bourdieu: Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1979, S. 352; Mauss: Die Gabe, S. 66–72.

74  Berking: Schenken, S. 23; Rudolph: Fürstliche Gaben?, S. 101.

75  Längskante: 39,5 Centimeter, Stirnseite: 29,5 Centimeter.

76  Herzlichen Dank für diesen Hinweis an Pavel Vlad’evič Chorošilov.

77  Tul’skij oružejnyj zavod 1873 g., Moskva 1873. In der Mappe fehlen jedoch die beiden Grundrisse des Unternehmens sowie eine Fotografie, die die Fabrikfassade entlang des Flusses Upa zeigt. Diese Fotografie entwickelte sich zu einer ikonischen Darstellung des Unternehmens. Diese Blätter fehlen vermutlich, weil sie für andere Zwecke verwendet und dann nicht in die Mappe zurückgelegt wurden. Zur ikonischen Ansicht siehe: Kapitel

„Inszenierte Geschichte – Firmenjubiläen“, S. 179–240.

78  Vergleichsweise Bilder: Tul’skij oružejnyj zavod 1873 g.: Nr. 5–8 beziehungsweise: Tul’skij Imperatora Petra Velikago oružejnyj zavod (Hrsg.): Tul’skij oružejnyj zavod. Osnovan 1712:

Nr. 8–11.

Bei der Wahl des Fotografen scheute die Firmenleitung keine Mühen und Kosten. Sie vergab diesen prestigereichen Auftrag nicht an einen in Tula an-sässigen Fotografen, sondern an Ivan Grigro’evič D’jagovčenko (1835–1887) aus Moskau. Er galt als einer der besten russischen Fotografen, nachdem er 1872 auf der Polytechnischen Ausstellung in Moskau für seine fotografičeskie vidy79 (Fotografische Ansichten) eine Große Goldmedaille gewonnen hatte.80 D’jagovčenko bewies sein Können bei den Innenaufnahmen sowie bei einem Panorama. Es zeigt die gesamte Fabrikanlage (Abb. 5) von den Schornsteinen über das Hauptgebäude bis zu zwei Kirchen.

79  Kalendar’-putevoditel’ po Moskve i ee okrestnostjam, Moskva 1873, S. 1. Zitiert nach:

Šipova: Fotografy Moskvy (2006), S. 94.

80  Šipova: Moskovskie fotografy, S. 128.

Abb. 5 Ivan Grigro’evič D’jagovčenko: Blick von der Siedlung Čulkovsk (Vid ot Čulkovskoj slobody), in: o. A.: Tulaer Waffenfabrik. Gegründet 1712 umgebaut 1873 (Tul’skii oružejnyj zavod. Osnovan 1712 perestroen 1873), Moskva 1873. RGB Inv MK XII – 4224 Izo 15880–64

Abb. 5a

Im 19. Jahrhundert hatte sich ein regelrechter Hype um die Darstellungsform des Panoramas entwickelt. Barbara Segelken sieht darin den Ausdruck einer neuen Raumkonzeption, die der Landschaft einen wirtschaftlichen Zweck zuspricht.81 Russische Fabrikanten setzten Panoramen von Industrieland-schaften gerne als Briefkopf oder in der Werbung ein. Bei diesen Darstellungen handelte es sich zumeist um Grafiken. Fotografische Panoramen waren un-gleich schwieriger herzustellen. Im Fall von Abbildung 5 erkennt der Betrachter erst auf den zweiten Blick, dass der Fotograf die Aufnahme aus zwei Negativen zusammensetzte – leicht rechts der Mitte ist die senkrechte Bildkante zu er-kennen (Abb. 5a). Panoramen waren besonders aufwendig anzufertigen, weil die Kamera bei beiden Bildern auf exakt derselben Höhe stehen und die Be-lichtung beider Aufnahmen identisch sein musste. Der große Aufwand machte fotografische Panoramen im 19. Jahrhundert zu Luxusprodukten, sie finden sich entsprechend selten in Firmenalben.82 Umso sprechender ist die Existenz

81  Barbara Segelken: Der panoramatische Blick. Industriestandorte in der Rundumsicht 1840–2002, in: Sabine Beneke; Hans Ottomeyer (Berlin) (Hrsg.): Die zweite Schöpfung.

Bilder der industriellen Welt vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart, Wolfratshausen 2002, S. 348.

82  Assegond: La photographie du travail, S. 170–175. Das vielleicht bekannteste Panorama einer Fabrik ist ein Panorama der Krupp-Stahlwerke von 1867. Bossen: Eine gemeinsame Geschichte erschaffen, S. 45. Zu Panoramen siehe auch: John Stamper: Aerial Views and Panoramas. Photographing the Nineteenth-Century Universal Expositions, in: Micheline

eines Panoramas im analysierten Fallbeispiel. Die Auftraggeber gaben sich große Mühe, um ein möglichst beeindruckendes Geschenk für den Zaren zu schaffen, das sowohl auf der Ebene der visuellen Form – der Fotografie – als auch auf der inhaltlichen Ebene der Bilder – der Fabrik – ein modernes Unter-nehmen zeigte.

Die Fotografien geben außerdem Hinweise über den Status von Industrie-fotografien innerhalb der Profession russischer Fotografen. D’jagovčenko, der zu den führenden Fotografen zählte, ist bis heute hauptsächlich für Portraits bekannt.83 Nichtsdestotrotz nahm er den Auftrag der Fabrik an, obwohl es sich um ein Motiv handelte, das nicht zum klassischen Kanon der Kunstfotografie zählte.84 Die Anfertigung von Industriefotografien war nicht ehrenrührig. Ins-besondere im vorliegenden Fall handelte es sich im Gegenteil um einen höchst attraktiven Auftrag, denn D’jagovčenko erhielt die Möglichkeit, sein Können vor dem Zaren und dessen Hofstaat zu präsentieren. Zu Herrschergeschenken gehörte auch die Tradition, diese auszustellen.85 Auf diese Weise erhielt der Moskauer Fotograf mittels seiner Bilder Zutritt zum Petersburger Zarenpalast.86

Obwohl das Album so aufwendig ist, hinterließ es nur wenige Spuren, seine Provenienz liegt zu weiten Teilen im Dunkeln. Von seiner bewegten Geschichte zeugen die Risse im Samt sowie die entfernten Gewehre, Doppel-adler und die fehlende Krone (Abb. 4). Nach der Übergabe in Tula dürfte das Zarenalbum zunächst Teil der Bibliothek des Winterpalasts geworden sein.

Vermutlich verließ es diese Sammlung nach 1917, als die Bibliothek Teile ihrer Sammlung verkaufte, oder jemand stahl die Schatullen im Zuge der Revolution und der Wirren des Bürgerkriegs.87 Der nächste verbürgte Hinweis auf ihren Aufenthaltsort ist ein Stempel im Deckel der Schatulle, der nachweist, dass das Album in die Sammlung der damaligen Gosudarsvennaja biblioteka Sojuza SSR imeni V. I. Lenina (Staatliche Bibliothek der Union der sozialistischen Sowjet Republiken mit Namen V. I. Lenin – heute die Russländische Staatsbibliothek

Nilsen (Hrsg.): Nineteenth-Century Photographs and Architecture. Documenting History, Charting Progress, and Exploring the World, Farnham 2013, S. 93–103.

83  Keines der konsultierten Nachschlagewerke erwähnt die Fotografien des Tul’skij oružejnyj zavod. Beispielsweise: Šipova: Fotografy Moskvy (2006), S. 93–100; Šipova: Moskovskie fotografy, S. 127–137.

84  Siehe Kapitel „Eine Beziehung entwickelt sich – Lichtbilder und neue Produktions-weisen“, S. 81–101.

85  Bernhard Laum: Schenkende Wirtschaft. Nichtmarktmäßiger Güterverkehr und seine soziale Funktion, Frankfurt a. M. 1960, S. 272–273.

86  Leider lässt sich nicht nachvollziehen, ob dies konkrete Auswirkungen hatte, ob D’jagovčenko aufgrund des Tulaer Albums weitere Aufträge erhielt.

87  Die Informationen zur Überlieferungsgeschichte dieses Albums beruhen auf den Aus-sagen von Anna Nikolaevna Larina, Mitarbeiterin in der Fotoabteilung der RGB.

(RGB)) aufgenommen worden sei. Der Stempel vermerkt die Jahreszahlen 193 und eine Leerstelle. In der Mappe mit den Bildern für den Eigengebrauch der Fabrik findet sich ein anderer Stempel, der Hinweis gosudarstvennyj knižnyj fond (Staatliche Buchabteilung). Er dokumentiert den Wachstumsprozess der heutigen RGB. Diese übernahm in den Jahren nach der Oktoberrevolution die Bestände zahlreicher kleinerer Bibliotheken und Privatsammlungen. Regionale Kommissionen sandten Objekte aus ihren Beständen nach Moskau, in der Hoffnung, diese würden Teil der Bibliothek.88 Während die Mappe sehr wahr-scheinlich 1930 die RGB erreichte, deutet vieles darauf hin, dass die Schatulle bereits in den 1920er Jahren nach Moskau kam. Der Vermerk der Jahreszahl 193 ohne ein eingetragenes Jahr ist charakteristisch für Sammlungsobjekte, die bereits in der Bibliothek lagerten, ohne katalogisiert zu sein. Sie waren für alle Personen abgesehen von den Bibliothekaren unauffindbar – existierten scheinbar nicht.89 Dieses Vorgehen diente dem Schutz des Albums.90 Auf-grund der direkten Beziehung des Objekts zum Hause Romanov fürchteten Mitarbeiter der Bibliothek in den ersten Jahren nach der Oktoberrevolution, Album und Fotografien könnten zerstört werden. Fast zwanzig Jahre dauerte es, bis die Schatulle eine Inventarnummer zugewiesen bekam und offiziell Teil der fotografischen Sammlung der Leninbibliothek wurde.

Die Analyse des Albums gibt auf unterschiedlichen Ebenen Hinweise auf die Verwendung und Funktion von Fotografien und deren Bedeutungswandel.

Die Abzüge in der Schatulle stammten von denselben Negativen wie die-jenigen aus der Mappe der Waffenfabrik. Sie unterschieden sich nur durch die Chemikalien und Retuschen. Von der Bildebene ausgehend zeigten sie also denselben Raum der Fabrik. Den entscheidenden Unterschied machte die jeweilige Rahmung aus, die die Abzüge erhielten. Die Fotografien ent-wickelten sich erst in der kostbaren Schatulle und als Herrschergeschenk zum Produzenten symbolischen Kapitals für die Unternehmensleitung. Diese Funktion verhalf den Bildern zu einem Platz in der Bibliothek des Zaren.

Was anfangs ein sicherer Aufenthaltsort gewesen war, wandelte sich nach der Oktoberrevolution zur Bedrohung für die Fotografien aus Tula: Zunächst hatte

88  V. G. Zimina u. a.: Istorija gosudarstvennoj ordena Lenina Biblioteki SSSR imeni V. I. Lenina za 100 let. 1862–1962, Moskva 1962, S. 59, 61.

89  Peter Holquist beschreibt, dass die eigentliche Archivrevolution in den 1990er Jahren darin bestanden habe, dass Forscher Zugang zu Findbüchern erhalten hätten. Peter Holquist: A Tocquevillean „Archival Revolution“. Archival Change in the Long Durée, in:

Jahrbücher für Geschichte Osteuropas, Jg. 51/2003, Heft 1, S. 77–83, S. 77–78.

90  Vergleichbare Schutzmechanismen beschreibt Julia Herzberg für bäuerliche

90  Vergleichbare Schutzmechanismen beschreibt Julia Herzberg für bäuerliche