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Der »ideologische« Erklärungsansatz

Versteht man allgemein die Religion als ein Sinnsystem mit einer transzen-denten Dimension, so lässt sich das sowjetkommunistische Projekt als ein quasireligiöses Sinnsystem deuten. Wenn man im nächsten Schritt, Max Weber folgend, die religiösen Einstellungen und Handlungen der Menschen als zentral für die (Religions-)Soziologie betrachtet,41 dann wird klar, warum es gerechtfertigt und sinnvoll ist, religiöse Elemente in der bolschewistischen Ideologie und Praxis zu suchen: Es »[…] erweist sich, dass der Kommunismus der religiösen Erfahrung nicht trotz, sondern gerade aufgrund der Radikalität seiner atheistischen Ansprüche zutiefst verwandt ist. Atheismus, der Wissen-schaftlichkeit für sich reklamiert, nähert sich einer religiösen Ekstatik an, die ohne Jenseits auskommt, aber eine nicht weniger tragfähige Grundlage in der Transzendenz des Immanenten erlangt hat.«42

Ob man den Sowjetkommunismus dabei als eine »politische«, »säkulare«,

»nicht-theistische« oder eine »Zivilreligion« etikettieren soll, ist eine essentia-listische Diskussion und als solche für die Soziologie nebensächlich;43 mit den 40 Zimmermann und Melnikow: »Gott ist mit uns!«, 272.

41 Vgl. Pickel: Religionssoziologie, 18.

42 Ryklin: Kommunismus als Religion, 48.

43 Karl Popper mahnt dazu, nicht um Wörter zu streiten, sondern nach Erklärungen zu suchen: »Begriffe oder Worte als solche können weder wahr noch falsch sein. Sie dienen nur der beschreibenden und begründenden menschlichen Sprache. Es sollte nicht unser Ziel sein, Bedeutungen zu analysieren, sondern nach interessanten und bedeutsamen Wahrheiten zu suchen; das heißt, nach wahren Theorien.« (Popper:

Auf der Suche, 200; Hervorhebung im Orig.) Armin Pfahl-Traughber weist zwar zurecht darauf hin, dass, wenn man das sozialwissenschaftliche Religionskonzept

Worten von Thomas Luckmann: »Unsere Untersuchung sollte zur Entdeckung der gemeinsamen Elemente oder, wie wir sagen können, der den historischen Artikulationen der Religion zugrundeliegenden religiösen Funktionen und der strukturellen Determinanten der wesentlichsten gesellschaftlichen Formen der Religion führen.«44 Obwohl man gegenwärtig nicht von einem breiten sozialwissenschaftlichen Konsens bezüglich der Quasireligiosität der sowjet-kommunistischen Ideologie sprechen kann, begegnet man dieser Position in der sozialwissenschaftlichen Literatur durchaus häufig; eine Reihe von Arbeiten beschäftigt sich ausführlich mit diesem Thema.45

Auf Parallelen zwischen der Entstehung des Marxismus und des Chris-tentums wies unter anderem Talcott Parsons hin.46 Marx’ sozialhistorische Teleologie wurde von den westlichen Intellektuellen und Wissenschaftlern bald als eine Heilserwartung enttarnt; Michail Ryklin weist diesbezüglich treffend darauf hin, dass »die Kommunisten einen blinden Glauben haben mussten, um wenigstens irgendwelche Anzeichen wahrnehmen zu können, dass sie sich ihm [dem Ziel der Revolution] näherten oder sich wenigstens auf dem richtigen Weg

allein auf die funktionelle Dimension abstellt, in diesem Fall die inhaltliche (es-senzielle) Besonderheit der Religion im herkömmlichen Sinne verloren geht und der Religionsbegriff somit verwischt wird (Pfahl-Traughber: »Politische Religion«

und »Zivilreligion«, 236; zur Unterscheidung zwischen essenzieller (substanzieller) und funktioneller Dimension siehe Pickel: Religionssoziologie, 16 ff.). Aus sozio-logischer bzw. sozial-psychosozio-logischer Perspektive ist die funktionelle Dimension für unsere Fragestellung jedoch die entscheidende, wenn nicht sogar die einzig relevante.

44 Luckmann: Die unsichtbare Religion, 118; zur Kritik seines Ansatzes siehe Pickel:

Religionssoziologie, 188 ff. und Pollack: Säkularisierung, 6 ff.

45 Für einen Überblick vgl. Maier: Totalitarismus und Politische Religionen.

46 Parsons: Religion in Postindustrial America, 208–209. Nicht zufällig zitiert auch ein anderer moderner Klassiker der Soziologie den Religionssoziologen David Martin: »Wenn Katholiken aufhören, konservativ zu sein, werden sie leicht Mar-xisten« (Berger: Auf den Spuren der Engel, 30).

befanden«. Ähnlich äußert sich der Klassiker der Totalitarismus-Forschung Carl Friedrich: »Die totalitären Ideologien […] setzen den Glauben an die Stelle der Vernunft und magische Beschwörung tritt an die Stelle des gesunden Menschenverstandes.«48

Die Selbstsakralisierung des totalitären Herrschaftsapparats schloss neben der Ersetzung der christlichen Dreifaltigkeit durch Marx, Engels und Lenin eine ganze Hier archie von Sakralinstanzen ein, die ihn durch neu erfundene Rituale legitimierten.49 »Sie bedienen sich dabei selektiv der sakralen Tradi-tionen der christlichen Religionen, deren Mythen, Kulte, Riten und Kosmo-logien sie in ihr eigenes Repertoire der innerweltlichen Erlösungskulte zu integrieren versuchen.«50 Eine ganze Riege von Parteifunktionären war in der Sowjetunion »[…] amtsmäßig damit befasst […], die korrekte Auslegung des Dogmenstandes zu überwachen, die Reglementierung der Lehrautorität auf den Gebieten der Unterweisung und Mission voranzutreiben und die Sakraltexte so zu reformulieren, dass sie auch der Volksreligiosität zugänglich wurden«.51 Die »immanente Transzendenz« trat für die breite Masse der Sowjetmenschen neben der Verheißung eines baldigen kommunistischen Paradieses auf Erden auch durch die Hölle der Stalinschen Arbeitslager in Erscheinung.

Ohne hier die Parallelen zwischen der sowjetisch-kommunistischen Ideologie und den herkömmlichen Religionen weiter zu verfolgen, kann man 47 Ryklin: Kommunismus als Religion, 47–48.

48 Friedrich: Totalitäre Diktatur, 22. Analog: »An die Stelle einer Orientierung in der Welt tritt der Zwang, mit dem man sich selbst zwingt, von dem reißenden Strom übermenschlicher, natürlicher oder geschichtlicher Kräfte mitgerissen zu werden.« (Arendt: Elemente und Ursprünge, 966).

49 Fulcher / Scott: Sociology, 408–409; ausführliche Beispiele bringt Ryklin: Kom-munismus als Religion; zu den Ritualen im KomKom-munismus vgl. auch Zulehner et al.: Religionen und Kirchen in Ost(Mittel)Europa, 34.

50 Riegel: Der Marxismus-Leninismus als »politische Religion«, 17.

51 Riegel: Der Marxismus-Leninismus als »politische Religion«, 38; Hervorhebung nicht im Original.

konstatieren, dass der homo sovieticus durch und durch ein »homo religio-sus« war. Der spätsowjetische Aufschwung der Religiosität kann somit als eine weltanschauliche Kompensation der ideologischen Krise verstanden werden, von der die sowjetische Gesellschaft in den Jahren der Perestrojka immer mehr erfasst wurde. Genauso logisch erscheint in diesem Zusammenhang die Flaute in der Entwicklung der Religiosität in der ersten Hälfte der 1990er Jahre, als die allgemeine Aufbruchsstimmung und liberal-demokratische Begeisterung die sich weiter vertiefende (vor allem ökonomische) Krise noch zu überde-cken vermochten. Der postsowjetische religiöse Aufschwung traf dann mit der endgültigen »Transformationsernüchterung« zusammen: Ende der 1990er Jahre gab es keine säkularen ideologischen Konstrukte mehr, die den postso-wjetischen Menschen helfen konnten, den Verlust ontologischer Sicherheit (Anthony Giddens) zu bewältigen. Die herkömmliche Religiosität wurde in ihrer Funktion der Kontingenzbewältigung52 alternativlos.