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Die »europäische Frage« lässt sich in mehrfacher Hinsicht betrachten. Als Europakriterien könnte man die Ausprägung der Trennung von Kirche und Staat, die Haltung zu den Menschenrechten und die Lehrmeinung der Kirchen über die Zugehörigkeit zu Europa untersuchen, wie Igor Gordyi dies in einem Aufsatz vorschlug.12 In den offiziellen Dokumenten der größten Konfessionen lassen sich hingegen vier umfassendere Europabezüge finden. Im Folgenden wird dafür zwischen einem kulturellen, einem politischen, einem pluralen und einem Europa der Werte unterschieden. Diese vier Untersuchungsfelder unterschiedlicher Kategorien bieten sich an, da diesen ein expliziter bzw. auch impliziter Europabegriff zugrunde liegt, der nachvollzogen werden kann, wenn man die offiziellen Dokumente liest, in denen sich Kirchen und religiöse

Orga-11 Vgl. die regelmäßig durchgeführten Vertrauensumfragen in der Ukraine u.a.:

»Наибольшим доверием в Украине пользуется церковь«. Weitere Umfra-gedaten des Razumkov-Zen trums in: Релігія і влада в Україні: Проблеми взаємовідносин.

12 Gordyi: Die Kirchen und die Europäisierung der Ukraine.

nisationen in der Ukraine immer wieder zu bestimmten aktuellen Ereignissen zu Wort gemeldet haben.

Zuerst sollen die Fragen nach einem kulturellen Europabegriff und einer kulturellen Zugehörigkeit zu Europa als gemeinsamen Geschichtsraum un-tersucht werden. Die ukrainischen Kirchen haben sich zu dieser kulturellen Zugehörigkeit zu Europa bekannt.13 Die Russische Orthodoxe Kirche (ROK) hält jedoch nach wie vor daran fest, dass die Ukraine zur »historischen Rus’»

gehört und die Ukrainische Orthodoxe Kirche mit Moskau verbunden sei.14 Das Moskauer Patriarchat stellt damit nicht die Zugehörigkeit der Ukraine zu Europa in Frage, sondern verortet die Ukraine und damit auch die Ukrainische Orthodoxe Kirche in einem Kulturraum, dessen Grenzen mit der Westgrenze der Ukraine identisch sind. Europa wird dabei nicht zwangsläufig auf seinen westlichen Teil reduziert, dieser jedoch von einem orthodox geprägten Kul-turraum abgegrenzt, der laut der ROK aus dem Erbe der Christianisierung der Kiever Rus’ entstand.15

Als nächstes stellt sich die Frage nach einem politischen Europabegriff.

Europa ist nach dem Zweiten Weltkrieg, durch die verschiedenen Wirtschafts-zusammenschlüsse und Verträge, zu einer politischen- und wirtschaftlichen Institution geworden, deren wichtigste Abteilungen heute in Brüssel und Strasbourg untergebracht sind. Die grundsätzliche Haltung zu Europa mit seinen Institutionen und seinen vielfältigen Verflechtungen nationalstaatlicher Einzelbereiche und damit auch die Haltung zu einer Annäherung der Ukraine 13 »Обращение Церквей и религиозных организаций к украинскому народу«.

14 Zur historischen Rus’ gehören nach Ansicht des Moskauer Patriarchats alle Staaten, die aus der Kiever Rus’ hervorgegangen sind: Russland, die Ukraine und Belarus.

Siehe hierzu: »Определение Освященного Архиерейского Собора Русской Православной Церкви ‹О единстве Церкви›« (2008) und Gordyi: Die Kirchen und die Europäisierung der Ukraine, 301 ff.

15 »Определение Освященного Архиерейского Собора Русской Православной Церкви ‹О единстве Церкви›« (2008).

an die EU, spielt auch für die religiösen Institutionen des Landes eine Rolle.

Kirchliche Lobbyarbeit auf europäischer Ebene gehört zum europäischen Alltagsgeschäft. Kirchen besitzen Büros und Vertretungen in Brüssel und Strasbourg. Der EU-Präsident trifft sich jährlich mit Kirchenvertretern, und die Kirchen äußern sich zur Politik der europäischen Institutionen, geben Ratschläge und Warnungen und versuchen darüber hinaus, eigene Interes-sen durchzusetzen.

Die Kirchenoberhäupter wollen auf bevorstehende Veränderungen im politischen Bereich vorbereitet sein und ihre Meinungen dazu in aktuelle Debatten einfließen lassen. Einzelne Kirchen der Ukraine haben sich in der Vergangenheit auch zu einem gemeinsamen Wirtschaftsraum, zur EU -Inte-gration und sogar zum Assoziierungsabkommen zwischen der EU und der Ukraine geäußert.

Ein weiterer Bezugspunkt für die Haltung der Kirchen zu Europa ist die Reaktion auf ein plurales Europa, das durch und durch heterogen veranlagt nur durch gegenseitige Toleranz als minimalen Konsens auf der Ebene der Einzelakteure existieren kann. Hierunter fällt der Bereich der Ökumene und als konkretes Ereignis in der ukrainischen Geschichte, das auf eine negative Haltung einer Kirche, nämlich der Ukrainischen Orthodoxen Kirche des Mos-kauer Patriarchates (UOK [MP]) schließen lässt, der Papstbesuch im Jahre 2001.

Johannes Paul II. war damals von Präsident Kučma in die Ukraine eingeladen worden. Angehörige des Moskauer Patriarchates riefen dazu auf, den Besuch zu boykottieren und das Höhlenkloster in Kiev, das der Papst bei seinem Besuch in Kiev besuchen sollte, für den Gast aus Rom zu sperren.16

Ebenfalls unter dem Aspekt des pluralen Europas ist die Haltung zu al-ternativen Lebensweisen wie z. B. gleichgeschlechtlichen Partnerschaften zu

16 Hierzu: Durkot: Zwischen Zwist und Dialog. Ukrainische Kirchen und Konfessio-nen nach dem Papstbesuch.

untersuchen, was im Folgenden unter dem Themenkomplex der Antidiskri-minierungsdebatte skizziert werden soll.

Europa soll dabei nicht nur als geographischer und kultureller Raum be-trachtet werden, zu welchem die Ukraine ohne Frage gehört und in welchem sich auch die ukrainischen Kirchen verorten. Europa ist auch mehr als eine politische- oder Wirtschaftsgemeinschaft und Pluralität. Europa soll vielmehr auch als Wertegemeinschaft verstanden werden, was für eine europäische Identität viel greifbarer ist. Dies legt die neue, allerdings nicht ratifizierte,

EU-Verfassung im zweiten Artikel als »Ziele und Werte der Union« fest, welche für das gesamte Handeln der EU verpflichtend sein sollen:

»Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Men-schenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Män-nern auszeichnet.«17

Dieser Wertekatalog gilt für die EU und damit nicht für alle Staaten Euro-pas. Als weitere Grundlage für eine europäische Wertegemeinschaft kann die europäische Menschenrechtskonvention angesehen werden, die in dem Verfassungsentwurf bereits berücksichtigt ist. Diese wurde vom Europarat, in welchem auch die Ukraine vertreten ist, verabschiedet; sie ist daher für wesentlich mehr europäische Staaten verbindlich.

17 Einzusehen unter: http://eur-lex.europa.eu/de/editorial/abc_c02_r1.htm.

Die Haltung zu einem Europa der Werte, das ein Bekenntnis zu Men-schenrechten, Demokratisierung und Rechtsstaatlichkeit einfordert, ist für die einzelnen Konfessionen in deren Grundsatzdokumenten zu untersuchen.

Interessant ist dabei die Überprüfung der Kompatibilität einzelner Schlüsselbe-griffe, denn auch in den Dokumenten der ukrainischen Kirchen geht es immer wieder um Werte und Werteverfall, ohne dass diese explizit aufgelistet werden.

Es handelt sich bei den in der EU-Verfassung genannten Werten um eben jene, die von Seiten der EU auch immer wieder von der Ukraine eingefordert werden. So hatte am 18. Oktober 2012 der EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso die anstehenden Wahlen und den Umgang der Ukraine mit politischen Gefangenen zum Test für die Verwurzelung der europäischen Werte in der Ukraine erklärt.19 Der Umgang mit politischen Gefangenen verweist auf den Fall Tymošenko,20 der nicht nur von der EU, sondern auch von der UGKK

mit fehlender Rechtsstaatlichkeit verbunden wird.21

Die ROK hatte im Jahre 2000 mit ihrer Sozialdoktrin ihre grundsätzliche Haltung zum Verhältnis zwischen Kirche und Staat und auch zu den Grund-rechten verdeutlicht und 2008 mit dem Dokument »Die Grundlagen der Lehre der Russischen Orthodoxen Kirche über die Würde, die Freiheit und

18 Zur Wertedebatte siehe auch: Schockendorf: Die Bedeutung europäischer Werte für die Ukraine.

19 Ukraine-Analysen 108 vom Oktober 2012: Chronik 18.10.2012.

20 Julija Tymošenko war von Januar bis September 2005 und von Dezember 2007 bis März 2010 ukrainische Ministerpräsidentin unter Präsident Juščenko. Nach dem Amtsantritt von dessen Nachfolger im Jahre 2010 wurden mehrere Strafverfahren gegen sie eingeleitet, die u. a. von Seiten der EU als politisch motiviert gewertet werden. Hierzu Schneider-Deters: Die Ukraine. Machtvakuum zwischen Russland und der Europäischen Union, 337–379.

21 Siehe hierzu: »Глава УГКЦ звернувся до судді Кірээва з проханням про зміну міру запобіжного заходу для Юлії Тимошенко« und »Глава УГКЦ Патриарх Свяиосоав раскритиковал »советскую систему правосудия« в Украине«.

die Menschenrechte« die Haltung zu den Menschenrechten noch einmal spezifiziert, auf die in der Sozialdoktrin nur kurz eingegangen worden war.

Das Kiever Patriarchat reagierte auf die Sozialdoktrin der ROK und gab in den Jahren 2001 und 2004 ebenfalls zwei Grundsatzdokumente heraus, in denen zu aktuellen gesellschaftlichen Problemen Stellung genommen wurde: »Kirche und Welt am Übergang zum dritten Jahrtausend« (2001) und »Über die geistige Wiedergeburt der ukrainischen Gesellschaft in den Zeiten der Globalisierung«

(2004).23 Auch diese beiden Dokumente besitzen als Grundsatzdokumente einen besonderen Stellenwert und greifen die Themenfelder auf, die von der

ROK ebenfalls diskutiert worden waren. Beide Kirchen äußern sich in den Dokumenten auch zum Verhältnis der Kirche zur Politik und erteilen jeglichem politischen Engagement der Kirchen eine Absage. Die anderen Konfessionen der Ukraine gaben zwar keine Grundsatzdokumente zu diesen Fragen heraus, weshalb ihre Einstellung für die Öffentlichkeit schwer zu verifizieren ist, doch sind auch von diesen zu den genannten Punkten, die zu einem Europa der Werte gehören, ergänzt durch eine grundsätzliche Trennung von Kirche und Politik, offizielle Äußerungen veröffentlicht worden.

Die herausgegebenen und genannten Dokumente bieten bereits ein Beispiel für ein dichotomes Werteverständnis zwischen den orthodoxen Kirchen auf der einen und westeuropäischen Institutionen auf der anderen Seite. Wenn sich auch keine Widersprüche bei der Betonung der Werte finden, so stimmen doch inhaltliche Wertedefinitionen nicht zwangsläufig überein. Insbesondere das Dokument zu den Menschenrechten rief heftige Reaktionen bei den

westeuro-22 Uertz / Schmidt (Hgg.): Die Grundlagen der Lehre der Russischen Orthodoxen Kirche über die Würde, die Freiheit und die Menschenrechte.

23 »Про духовне відродження українського суспільства в умовах глобалізації світу« und »Церква і світ на початку третього тисячоліття«.

päischen Kirchen hervor, wie an der Reaktion der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE)24 zu erkennen war.25

Trotz Überschneidungen, die es zwischen den einzelnen Ebenen für die Europabezüge immer wieder gibt – so sind beispielsweise Gesetzesentwürfe in Strasbourg über ein Antidiskriminierungsgesetz vom Thema der Men-schenrechte nicht zu abstrahieren – , lassen sich doch explizite wie implizite Europavorstellungen und Haltungen zur europäischen Politik identifizieren, die auch gesondert untersucht werden können. Daher soll als zweiter Punkt die Positionierung der Kirchen in einem politischen Europa genauer be-trachtet werden.

Die religiöse Landschaft der Ukraine und die interreligiöse