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Heterogenität und Ambivalenz als Hauptmerkmal des Libro

1 IDENTITÄTS- UND ALTERITÄTSENTWÜRFE IN DER LITERATUR DER ‚CONVIVENCIA’

VII: STRAFRECHT- RECHTE UND PFLICHTEN DER MINDERHEITEN

1.3 Das Libro de buen amor des Juan Ruiz: Nebeneinander von christlicher und jüdisch-arabischer Anthropologie

1.3.2 Heterogenität und Ambivalenz als Hauptmerkmal des Libro

Dass das Libro de buen amor zu einem der meist erforschten Werke der spanischen Literatur gehört, liegt vor allem daran, dass es sowohl auf formaler, als auch auf inhaltlicher Ebene ein sehr heterogenes Gebilde darstellt.

Das Schwanken zwischen verschiedenen Gattungen, Erzählperspektiven und Stilebenen erschwert beträchtlich die Festlegung des Werks auf eine Interpretation. Betrachtet man die Gesamtstruktur, erhält das Libro lediglich durch die Präsenz des Ich-Erzählers eine gewisse Kontinuität. Doch fangen hier schon die Interpretationsprobleme an, da sich dieser Ich-Erzähler keineswegs auf eine Perspektive festlegen lässt.

Die ältere Forschung betrachtete die Ich-Perspektive als ‚echte’ Biographie des Juan Ruiz und rekonstruierte dessen Leben, über das es praktisch keine gesicherten Quellen gibt, aus den Angaben, die das Buch dazu liefert.204

Die heutige Forschung geht mit dieser Gleichsetzung von Ich-Erzähler, Protagonist und Autor vorsichtiger um und betont gerade die unterschiedlichen Rollen, die das Ich innerhalb des Libro einnimmt. Joset spricht in diesem Zusammenhang von einem „yo multifuncional“205, und Gumbrecht untersucht die zahlreichen Perspektivenwechsel, die innerhalb der Ich-Erzählung stattfinden.206

Ohne diese hoch komplexe Erzählstruktur näher analysieren zu wollen, ist es nötig, als Basis jeder Analyse, die sich mit dem Libro auseinandersetzt, einige Prämissen aufzustellen:

Entsprechend der neueren Studien zur Erzählstruktur des Libro de buen amor, soll hier die autobiographische Form als fiktive Autobiographie betrachtet werden. Der Ich-Erzähler ist also von der historischen Person des Juan Ruiz zu trennen.

Die Ich-Perspektive teilt sich, ähnlich wie in der Gattung des pikaresken Romans, in die Ebene eines auktorialen Erzählers und eines fiktiven Ich-Protagonisten auf. Diesen zwei Erzählebenen entspricht das Schwanken der

204 Vgl. Menéndez Pidal, Ramón: Poesía juglaresca y orígenes de las literaturas románicas, Madrid 1957, S. 210

205 Joset, Jacques: Nuevas investigaciones sobre el <<Libro de buen amor>>, Madrid 1988, S.

26

206 Gumbrecht, 1972, S. 26-41

Erzählung zwischen dem Erzählstrang der Liebesbiographie (Ich-Protagonist) und den auktorialen Kommentaren in Form von Reflexionen und religiös-moralischen Diskursen.

Neben diese episodisch aufgebaute Liebesbiographie, die sozusagen den roten Faden liefert, treten eine Vielzahl von Exempeln, Fabeln, lyrischen Einschüben, Marienliedern, Predigtfragmenten, allegorischen Erzählungen, Hirtenliedern, Spottliedern und Gebeten.207

Das Libro ist somit bezüglich seiner Gattung ein kaum zu klassifizierendes Gebilde auf der Basis einer fiktiven Liebesbiographie.

Der formalen Heterogenität entspricht auf der inhaltlichen Ebene eine Vielzahl von Ambivalenzen, die einer eindimensionalen Interpretation im Wege stehen.

In diesem Sinne stellt Menéndez Peláez treffend fest: „La polisemia es una constante de la obra.“208

Kaum ein Textabschnitt verdeutlicht diesen ambivalenten Charakter des Werks so eindrücklich wie der Prologteil (Zeilen 1 -154).209

Im ersten Teil des Prologabschnitts, einem Prosaprolog, kommentiert der Erzähler in Predigtform den Psalm 31.10:

„Intellectum tibi dabo, et instruam te in via hac qua gradieris: firmabo super te occulos meos.“ (Z. 1-2)

In der folgenden Psalmauslegung zeigt sich exemplarisch der Grundwiderspruch des Werks: durch den von Gott gegebenen Verstand („intellectum“ / „buen entendimiento“, Z.1, Z.12) erkenne der Mensch das Gute und könne das Schlechte davon unterscheiden. In diesem Sinne soll er – entsprechend der Aussage des Psalms – durch die Führung Gottes den

‚rechten’ Weg einschlagen.

Da das menschliche Gedächtnis jedoch durchlässig sei und der Mensch von Natur aus eher zur Sünde neige, bedürfe er der Wiedererinnerung an den von Gott vorgezeichneten Weg durch die Kunst und bekäme so Anregung zum guten Handeln und zur ‚rechten’ Liebe, die als „buen amor de Dios“ (Z. 27)

207 Es wurde bereits auf die Vielzahl der verwendeten Gattungen, Quellen und literarischen Traditionen hingewiesen. Eine detaillierte Studie hierzu liefert Lecoy, Felix: Recherches sur le

<<Libro de buen amor>>, London 1974

208 Menéndez Peláez, 1999, S. 232

209 Strophen- und Zeilenangaben stammen aus folgender Ausgabe: Juan Ruiz, Arcipreste de Hita: Libro de buen amor, Edición de Alberto Blecua, 5. Aufl., Madrid 2001

bezeichnet wird. Die Ermahnung an den göttlichen Ursprung des menschlichen Verstands durch das Medium der Kunst soll den Menschen vor Verfehlungen wie der als töricht abgestempelten weltlichen Liebe bewahren:

„E otrosí desecha e aborresçe el alma el pecado del amor loco d’este mundo.” (Z. 29 f.)

In Zusammenhang mit den durchaus ‚weltlichen’ Liebesabenteuern, die der Protagonist im weiteren Verlauf erleben wird, kann man diese erste These als klare Intentionsangabe lesen: das Buch, das in Form von zahlreichen Beispielen von der weltlichen, d.h. sündigen Liebe handelt, soll dem Leser die Schliche dieser „loco amor“ vor Augen führen und damit, sozusagen über Negativbeispiele, eine Anleitung zur „buen amor“ geben.

Nun wird diese erste Intentionsangabe jedoch durch die folgende Argumentationslinie durchkreuzt:

„Enpero, porque es umanal cosa el pecar, si algunos, lo que non los consejo, quisieran usar del loco amor, aquí fallarán algunas maneras para ello. E ansí este mi libro a todo omne o muger, al cuerdo e al non cuerdo, al que entendiere el bien e escogiere salvación e obrare bien amando a Dios, otrosí al que quisiere el amor loco […].” (Z. 117 ff.)

Da also die Sünde - und damit die weltliche Liebe - menschlich sei, kämen auch diejenigen, die eher zu dieser Seite der Liebe tendieren, in dem Buch auf ihre Kosten.

Der Erzähler richtet sich also an verschiedene Adressaten: jeder soll in den Liebesepisoden das finden, was er sucht: der eine eine Anleitung zur Gottesliebe, der andere zur weltlichen Liebe. Bereits im Prosaprolog wird also hervorgehoben, dass das Werk verschiedene Adressaten hat und sich damit einer eindimensionalen Interpretation entzieht. Gleichzeitig zieht sich jedoch der Erzähler durch den Zusatz „lo que non los consejo“ (Z. 118), sowie durch die Verwendung des Konjunktivs „quisieron“ (Z. 117) sprachlich geschickt aus der moralischen Verantwortung für den Inhalt und die Interpretation des Werks.

Der Gegensatz zwischen einer moralisch-didaktischen Intention, die die weltliche Liebe verurteilt und einem ‚Subtext’, der geradezu ein Loblied auf diese singt, zieht sich durch das gesamte Werk. So folgt beispielsweise auf einen langen Exkurs gegen die Weltlichkeit und die Sünden des Fleisches („De quáles armas se debe armar todo christiano para vencer el diablo, el mundo de

la carne“ (Str. 1579-1605)) ein Loblied auf die kleinwüchsigen Frauen („De las propiedades que las dueñas chicas an“ (Str. 1606-1617)).

Betrachtet man auf diesem Hintergrund den zentralen Begriff der „buen amor“, wird deutlich, dass die anfängliche Definition als „buen amor de Dios“ (Z. 27) nicht die einzige ist. Je nach Adressat kann die ‚rechte’ Liebe sich entweder tatsächlich als göttliche, spirituelle Liebe realisieren oder eben als weltliche Liebe, auf die der Erzähler an vielen Stellen ebenso ein Loblied singt.

Zahlreiche Textstellen belegen diese andere Seite der Liebe, die ebenso als Bestimmung der menschlichen Natur angegeben wird:

„Como dize Aristótiles, cosa es verdadera, / el mundo por dos cosas trabaja: la primera, / por aver mantenençia; la otra cosa era / por aver juntamiento con fenbra plazentera.” (Str. 71)

„ […] ca en muger loçana, fermosa e cortés, / todo bien del mundo e todo plazer es.“ (Str. 108)

Vergleichbar mit der Erzählstrategie im Prosaprolog entzieht sich auch hier der Erzähler durch die Nennung der Autorität des Aristoteles zumindest teilweise der moralischen Verantwortung für das folgende Loblied auf die weltliche Liebe.

Entgegen der vorausgegangenen Charakterisierung der irdischen Liebe als

„amor loco d’este mundo“ (Z. 30), fällt hier die Betonung des Pols der Freude („plazentera“ / „plazer“) auf, wodurch ein klarer Kontrast zu der anfangs betonten moralisch-didaktischen Argumentationslinie entsteht.

Das Hauptproblem, das der Interpret angesichts dieser Ambivalenzen hat, ist, dass zwischen der Verteufelung der irdischen Liebe auf der einen Seite und dem Lob ebendieser auf der anderen Seite keine Synthese zu finden ist. Der Erzähler entzieht sich dadurch jeglicher Festlegung, ja betont sogar diese Vielschichtigkeit als Quintessenz des Werks, das sich wie ein Instrument dem jeweiligen Interpreten anpasst:

„De todos instrumentos yo, libro, só pariente: / bien o mal, qual puntares, tal diré ciertamente; / qual tú dezir quisieres, ý faz punto, ý tente; / si me puntar sopieres, sienpre me avrás en miente.“ (Str. 70)

Entgegen der Erzählperspektive im Prosaprolog zieht sich hier der Erzähler komplett als Interpretationsinstanz zurück, was durch die Verschiebung des „yo“

verdeutlicht wird. Dadurch wird explizit eine eindimensionale Interpretation

ausgeschlossen, da jede Lesart von dem jeweiligen Intrepreten abhängig gemacht wird. Welche Interpretation nun als gut oder schlecht („bien o mal“) anzusehen ist, wird bewusst offen gelassen.

Dementsprechend spielt der Erzähler mit den zahlreichen Aufforderungen, das Buch ‚richtig’ zu verstehen:

„Entiende bien mis dichos e piensa la sentençia ; […].“ (Str. 46)

„En general a todos fabla la escritura: / los cuerdos con buen sesso entenderán la cordura; / los mançebos livianos guardense de locura: / escoja lo mejor el de buen ventura.” (Str. 67)

„[…] entiende bien mi libro e avrás dueña garrida.“ (Str. 64)

„Muchos leen el libro e tiénenlo en poder / que non saben qué leen nin lo pueden entender; […]” (Str. 1390)

Die ‚richtige’ Interpretation ist also genauso wie die ‚rechte’ Liebe doppeldeutig:

jeder soll das herauslesen, was er herauslesen will (s. Str. 67), was natürlich der Vielzahl von konträren Interpretationen Tür und Tor öffnet.

Dementsprechend variieren in den zitierten Stellen die Deutungsangebote von einer abstrakten Ebene des tieferen Sinns („sentencia“ / „cordura“; Str. 46, 67) über die ganz konkrete Aussicht auf eine „dueña garrida“ (Str. 64), bis zur Feststellung, dass viele Leser der eigentlichen Sinn von vorn herein nicht verstehen könnten (Str. 1390).

Das einzige, worauf sich der Text wirklich festlegen lässt, ist seine Heterogenität. Folglich muss die Basis jeder Interpretation gerade auf diesem Hauptmerkmal aufbauen und darf nicht, wie es in der älteren Forschung die Tendenz war, versuchen, die Widersprüche aufzulösen.210

Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass das heterogene Quellenmaterial zu einem Teil für den uneinheitlichen Charakter des Libro de buen amor verantwortlich ist.

Dies erklärt jedoch noch nicht die gerade aufgezeigten inhaltlichen Ambivalenzen. Diese, darin ist sich die neuere Forschung weitgehend einig, sind die Konsequenz der spezifischen Mischkultur der ‚Convivencia’: „Pues

210 Vgl. Gumbrecht, 1972, S. 42: „Es hat sich herausgestellt, dass man das Libro nicht auf eine

‚richtige’ Auslegung seiner in Widerspruch stehenden Inhalte reduzieren kann.“

Juan Ruiz integra de modo genial todo elemento cultural de su momento histórico, sea clásico y europeo, sea cristiano, musulmán o judío […].“211

Ob, wie Castro und Lida de Malkiel behaupten, sich die Heterogenität durch eine konkrete Quelle aus dem jüdisch-arabischen Kulturkreis erklären lässt, soll hier nicht zur Debatte stehen. Als Prämisse für die folgende Textanalyse soll jedoch vorausgesetzt werden, dass das Libro de buen amor als Konsequenz einer Mischkultur anzusehen ist, in der zwangsläufig verschiedene Menschenbilder und damit auch verschiedene Liebeskonzeptionen aufeinander treffen.

Auf der Ebene des Textes soll im Folgenden untersucht werden, inwiefern gerade bezüglich der unterschiedlichen Menschenbilder, die das Libro entwirft, Zuordnungen zu den drei Kulturkreisen getroffen werden, und ob diese etwas über die jeweiligen Selbst- und Fremdbilder aussagen.

211 Rodríguez-Puértolas, Julio: Juan Ruiz. Arcipreste de Hita, Madrid 1978, S. 62; vgl. auch die bereits zitierten Werke Castros, Lida de Malkiels und López-Baralts.

1.3.3 Don Carnal gegen Doña Quaresma: exemplarische