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1 IDENTITÄTS- UND ALTERITÄTSENTWÜRFE IN DER LITERATUR DER ‚CONVIVENCIA’

1.1 Die Siete Partidas des Alfonso X: Toleranz und Trennung

1.1.1 Alfonso X: König der ‚Convivencia’

Die Regierungszeit des Alfonso X (1252-1284) gilt als Hochzeit des spanischen Judentums. Ein Großteil der Forschungsliteratur beschreibt den ‚weisen’ König als Symbol der Toleranz gegenüber Juden und Mauren und als letzten großen König der ‚Convivencia’.125 Delumeau bringt dieses weit verbreitete Bild auf den Punkt: „ […] l’Espagne des trois religions, un pays tolérant parce que non homogène.“126

Dieser Ruf des kastilischen Königs ist vor allem eine Folge seiner umfangreichen kulturpolitischen Arbeit, in die er alle drei ethnischen Gruppen miteinbezog. Castro spricht diesbezüglich von einer „contextura cristiano-islámico-judía“127, die zu einer ausgesprochenen kulturellen Blüte führte.

Da im 13. Jahrhundert im Zuge der schnell fortschreitenden ‚Reconquista’

Kastilien immer mehr eine Vormachtstellung erreichte, war eines der Hauptziele des Alfonso X, diesen Vormachtanspruch auch kulturell zu legitimieren: bei diesem ehrgeizigen Kulturprojekt, das alle Bereiche des Wissens – von den Naturwissenschaften über die Historiographie bis hin zu den Künsten – umfassen sollte, profitierte er von dem jeweiligen Fachwissen der drei ethnischen Gruppen. So wurde beispielsweise in der Übersetzerschule von Toledo, die man als „lugar de encuentro de intelectuales de las tres

125 Vgl. hierzu: Castro, Américo: España en su historia. Cristianos, moros y judíos, Barcelona 1984, S. 454 ff.; Baer, Yitzhak: Historia de los judíos en la España cristiana, Madrid 1981, S.

130 ff.

126 Delumeau, Jean: La peur en Occident, Paris 1978, S. 276

127 Castro, 1984, S. 456

religiones“128 bezeichnen kann, gerade über die Vermittlung durch die arabische Kultur ein neuer Zugang zur antiken Philosophie gewonnen.

Autoren wie Aristoteles wurden so neu entdeckt und wiederum durch jüdische Gelehrte ins Kastilische übersetzt. Auf diese Weise fand eine fruchtbare Synthese zwischen abendländischer und orientalischer Kultur statt.

Diese Politik der kulturellen Offenheit und des Austauschs zwischen den Kulturen lässt sich auch an der Tatsache erkennen, dass ein Großteil der unmittelbaren Ratgeber des Königs Juden waren. Vor allem die Bereiche der Finanzen, der Verwaltung und der diplomatischen Beziehungen waren weitgehend in jüdischer Hand.129

Poliakov bezeichnet diese nicht zu unterschätzende Funktion der Juden am Hofe als „administratives Rückgrat“ und kommt bezüglich ihrer allgemeinen gesellschaftlichen Position zu folgendem Urteil: „Tatsächlich nahmen sie auf der sozialen Stufenleiter einen Platz ein, der sofort nach dem König und den adligen Herren kam.“130

Nicht nur bezüglich der hohen Stellung jüdischer und maurischer Gelehrter, sondern auch hinsichtlich der Situation der zwei Alteritätsgruppen im Allgemeinen erscheint die Regierungszeit des Alfonso X als Symbol der

‚Convivencia’ schlechthin. Sowohl quantitativ wie auch hinsichtlich ihrer Rechte und Pflichten kann man die zwei Fremdgruppen als Mikrogesellschaften bezeichnen, die weitgehende Autonomie besaßen.

Die weitaus einflussreichere Gruppe, vor allem innerhalb der Städte, stellten hierbei die Juden dar: „In der Sicht der Soziologie bildeten die Juden anderswo eine wandernde Randgruppe schlechthin; in Spanien waren sie dagegen eine Art Rückgrat des wirtschaftlichen und sozialen Lebens.“131

Angesichts dieses mehrheitlich positiven Bildes, das die Forschung von dem

‚weisen’ König zeichnet, mag es verwundern, dass man ebenso Studien zu

128 Valdeon Baruque, Julio: Alfonso X y la convivencia cristiano-judío-islámica, S. 170, in:

Estudios Alfonsies, hgg. von José Mondéjar, Granada 1985, S. 167-179

129 Vgl. hierzu: Baer, 1959, S. 134 ff.

130 Poliakov, Léon: Geschichte des Antisemitismus. Band III, Worms 1979, S. 113 f.

131 ebd. S. 134; vgl. hierzu: Suárez Fernández, Luis: Les Juifs espagnols au Moyen Age, Paris 1983, S. 103-134

judenfeindlichen Aspekten innerhalb seines Werks findet, die bis zu Antisemitismusvorwürfen gehen.132

Viele Forscher zeigen sich erstaunt, dass man in den Werken des Alfonso X diese eben dargelegte tolerante Haltung kultureller Offenheit gegenüber den Minoritäten nicht findet, und dass sogar bisweilen, wie beispielsweise in den Cantigas de Santa María, eindeutig Elemente des traditionellen mittelalterlichen Antijudaismus auftauchen.133

Baer bezeichnet diesbezüglich die Cantigas als „poesías a la virgen cuyo contenido lo forman unos relatos populares llenos de fanatismo e intolerancia hacia el judaísmo.“134

Ebenso führen viele den in den Siete Partidas festgelegten gesetzlichen Status der zwei Alteritätsgruppen als Beweis für Alfonsos harte Haltung gegenüber Juden und Mauren, die dem traditionellen kirchlichen Dogmatismus entspräche, an:

„Tampoco el estatuto jurídico reservado en las Partidas a moros y judíos […] se distingue en su letra por ninguna ruptura favorable respecto a la tradición ni a lo establecido por la ley eclesiástica acerca del trato de infieles.“135

Wie vertragen sich diese Urteile mit dem Bild Alfonsos als Symbol der

‚Convivencia’?

Wie kommt es zu dieser Kluft zwischen interkultureller Kulturarbeit einerseits und traditionellem Antijudaismus andererseits?

Valdeon Baruque fasst dieses widersprüchliche Bild Alfonsos wie folgt zusammen: „La actitud […] hacia islamistas y hebreos fue contradictoria, pues si por una parte puede decirse que en su época la convivencia espiritual de las tres culturas llegó acaso a su fecundidad máxima, por otra es indudable que el monarca […] inició una política de singular dureza con las minorías.“136

Oft wird dieser Widerspruch damit erklärt, dass Alfonso dann Offenheit gegenüber den Minderheiten an den Tag legte, sie sogar protegierte und gegen

132 siehe z.B. Hatton, Vikki / Mackay, Angus: Anti-Semitism in the ‚Cantigas de Santa Maria’, in:

Bulletin of Hispanistic Studies, LX, 1983, S. 189-199

133 siehe z.B. Baer, S. 143 und Bagby, Albert: Alfonso X, el Sabio compara moros y judíos, S.

579, in: Romanische Forschungen, 82. Band, 1970, S. 578-583

134 Baer, 1959, S. 143

135 Márquez Villanueva, Francisco: El concepto cultural alfonsí, Madrid 1994

136 Valdeon Baruque, 1985, S. 168

seine eigenen Gesetze verstieß, wenn er von ihnen profitieren konnte, im Allgemeinen aber sehr auf die Abgrenzung gegenüber den zwei Alteritäten bedacht war.137

Angesichts der sehr komplexen Realität der ‚Convivencia’, die bereits im Kapitel 3.2 beschrieben wurde, scheint mir dieser Erklärungsversuch zu einfach.

Viele der zitierten Studien, die meist zu einseitigen Urteilen bezüglich der Situation der Minderheiten unter Alfonso X neigen, übersehen gewisse Prämissen, die man bei der Analyse der Selbst- und Fremdbilder beachten sollte.

An erster Stelle ist hier zu betonen, dass es sich bei der Gesellschaftsordnung der ‚Convivencia’ keineswegs um eine aus drei gleichberechtigten Gruppen zusammengesetzte Gesellschaft handelt. Unbestritten ist – in den zurückeroberten Gebieten – die christliche Vorherrschaft. Infolgedessen war Alfonso X als christlicher Monarch gerade bezüglich der rechtlichen Stellung der Minderheiten an gewisse Grundsätze des kanonischen Rechts gebunden.138 Spricht man also von Fremdbildern in den Werken des Alfonso X, darf man diese grundsätzliche christliche Vormachtstellung nicht außer Acht lassen.

Wie bereits im Kapitel 3.2 betont wurde, wäre es ebenso unangemessen, die viel zitierte tolerante Haltung des Königs mit unserem heutigen Konzept von Toleranz gleichzusetzen. Toleranz bedeutete im 13. Jahrhundert keineswegs Gleichheit, sondern ein gewisses Gleichgewicht von Rechten und Pflichten, das man den Minderheiten zugestand. Unbestritten blieb hierbei jedoch aus theologischer Perspektive die Verurteilung der anderen Religion als Irrweg.

Márquez Villanueva beschreibt diese Kombination aus Anerkennung einerseits und Geringschätzung andererseits folgendermaßen: „Las respectivas leyes o creencias no han cedido nunca ante las otras en el plano doctrinal, ni han profesado tampoco ningún principio de indiferencia o libertad religiosa. Lo que sí se mantuvo en la práctica fue un status quo de tregua o desarme que permitía la existencia continuada de las tres religiones […].”139

137 vgl. Suárez Fernández, 1983, S. 124 und Valdeon Baruque, 1985, S. 170

138 Auf den konkreten juristischen Kontext der Siete Partidas werde ich im nächsten Kapitel eingehen.

139 Márquez Villanueva, 1994, S. 98

Es wurde bereits betont (vgl. S. 42 f.) dass diese multiethnische Gesellschaft nur durch das Gleichgewicht zwischen einer gewissen Autonomie der zwei Alteritätsgruppen auf der einen Seite und strikten Trennungsmaßnahmen auf der anderen Seite funktionieren konnte.

Eine dritte Prämisse darf man bei der Analyse der Fremdbilder nicht außer Acht lassen. Viele der Studien, die den Antijudaismusvorwurf erheben, übersehen, dass Spanien im 13. Jahrhundert praktisch das einzige Land Europas war, in dem Juden in relativer Autonomie leben konnten.140

In fast ganz Europa verschlechterte sich ab dem 11. Jahrhundert im Zuge der Kreuzzüge die Situation der Juden. Die Vorstellung, dass man den Feind auch im eigenen Land verfolgen müsste, führte zu einer Reihe von diffamierenden Vorwürfen, die sich schnell verbreiteten. Ab dem 12. Jahrhundert geben so zahlreiche Quellen Auskunft über Ritualmordvorwürfe und Hostienfrevel, die wiederum der Anlass für blutige Ausschreitungen gegenüber jüdischen Gemeinden waren.141 Eine Analyse der Fremdbilder im spanischen 13.

Jahrhundert sollte diesen allgemeinen Kontext nicht völlig übersehen.142

Will man eine differenzierte Antwort auf die so widersprüchlich erscheinenden Fremdbilder unter Alfonso X erhalten, sollte der gerade umrissene Kontext nicht unberücksichtigt bleiben.

Im Folgenden soll gezeigt werden, warum sich gerade die Siete Partidas zur Analyse der Grenzziehung zwischen Identität und Alterität eignen.

140 Vgl. Delumeau, 1978, S. 275 ff.

141 Eine sehr gute Überblicksdarstellung über dieses Inventar an Stereotypen gibt Rohrbacher:

Rohrbacher, Stefan / Schmidt, Michael: Judenbilder. Kulturgeschichte antijüdischer Mythen und antisemitischer Vorurteile, Reinbek 1991

142 Auch wenn die folgende Analyse der Fremdbilder in den Siete Partidas nicht einen ausführlichen Vergleich zu den damals in ganz Europa kursierenden Stereotypen leisten kann, soll jedoch bei den gängigsten Stereotypen, wie dem Ritualmordvorwurf, kurz auf diesen Kontext eingegangen werden.