• Keine Ergebnisse gefunden

Das Libro: „eine vollendete Synthese der Convivencia“ 193

1 IDENTITÄTS- UND ALTERITÄTSENTWÜRFE IN DER LITERATUR DER ‚CONVIVENCIA’

VII: STRAFRECHT- RECHTE UND PFLICHTEN DER MINDERHEITEN

1.3 Das Libro de buen amor des Juan Ruiz: Nebeneinander von christlicher und jüdisch-arabischer Anthropologie

1.3.1 Das Libro: „eine vollendete Synthese der Convivencia“ 193

„[…] las creencias se opusieron y al mismo tiempo se entrelazaron.“194

Diese These Castros bezüglich der komplexen Gesellschaftsstruktur der

‚Convivencia’ scheint sich auf exemplarische Weise sowohl in den Siete Partidas und den Milagros de Nuestra Señora von Berceo als auch im Libro de buen amor zu bestätigen. Die Partidas verdeutlichen aus juristischer Perspektive die Mechanismen und Bereiche der Grenzziehung zwischen den drei ethnischen Gruppen. Demgegenüber veranschaulichen Berceos Milagros eine deutlich radikalere, rein theologisch-dogmatische Perspektive auf die Alterität, die bewusst als religiöser Gegner inszeniert wird.

Das Libro de buen amor hingegen dokumentiert den zweiten Teil Castros These, indem es in einer äußerst realitätsnahen Sprache Beispiele für das Mit- und Nebeneinander der drei Kulturen liefert. Spricht aus den Partidas das Ziel, gerade durch die Grenzerhaltung ein friedliches Nebeneinander der Kulturen zu erreichen, so zeigen sich im Libro eher die Bereiche, in denen diese Grenzen überschritten werden.

Man könnte das Werk von Juan Ruiz, das als das spanische Meisterwerk des ausgehenden Mittelalters gilt, neben den Partidas und den Milagros als weiteres Gesicht der ‚Convivencia’ bezeichnen, als Quelle, die weder die Regeln dieser multiethnischen Gesellschaft aufzeigt, noch diese aus einer dogmatischen Perspektive betrachtet, sondern die den Fokus auf die Bereiche richtet, wo die Trennungslinie zwischen Identität und Alterität überschritten wurde.

193 Tietz, in: Neuschäfer, 1997, S. 44

194 Castro, 1987, S. 358

Das Libro de buen amor, in den vierziger Jahren des 14. Jahrhunderts geschrieben195, steht historisch an einem Punkt, den man als Endphase der

‚Convivencia’ bezeichnen kann.

Vor allem die zweite Hälfte des 14. Jahrhunderts markiert in Spanien den Beginn deren allmählichen Zerbrechens, was sich konkret in den Judenpogromen von 1348 in Katalonien und vor allem 1391 in Sevilla äußert.

Vergleichbar mit der Situation in Gesamteuropa kann man auch in Spanien von einer Krise der mittelalterlichen Gesellschaftsstruktur im Allgemeinen sprechen, die sich in allen Bereichen und damit auch im Kontakt zu den zwei Alteritätsgruppen manifestiert.

Dennoch scheinen zumindest in der ersten Hälfte des Jahrhunderts in Kastilien gerade die kulturellen Kontakte zwischen den drei ethnischen Gruppen besonders intensiv gewesen zu sein: „Castilla es en ese momento […] una encrucijada de tres culturas: cristiana, árabe y judía“196. Dementsprechend schreibt Lida de Malkiel: „La compenetración entre las culturas nunca fue mayor […]“197, und López-Baralt spricht von „una inevitable contaminación e interacción cultural entre los elementos occidentales y orientales de la Península.“198

Es scheint somit berechtigt, zumindest historisch das Libro als letzte große literarische Leistung, die aus der spezifischen Gesellschaftsform der

‚Convivencia’ hervorgegangen ist, zu bezeichnen. Inwieweit der Text konkret die bereits analysierten Mechanismen dieser multiethnischen Gesellschaft reflektiert, soll im Zentrum der folgenden Überlegungen stehen.

Das aufgrund der Kombination zahlreicher Quellen, Gattungen und Traditionen sehr heterogen wirkende Libro gab den Anlass zu vielen wissenschaftlichen

195 Zur Frage der Entstehungsdaten und der verschiedenen Manuskripte vgl. Gumbrechts Einleitung zu seiner zweisprachigen Edition des Libro de buen amor: Juan Ruiz, Arcipreste de Hita: Libro de Buen Amor, übersetzt und eingeleitet von Hans Ulrich Gumbrecht, München 1972, S. 9 f.

196 Menéndez Peláez, Jesús: Historia de la literatura española, León 1999, S. 213

197 Lida de Malkiel, María Rosa: Dos obras maestras españolas. El libro de buen amor y la Celestina, Buenos Aires 1966, S. 16

198 López-Baralt, Luce: Huellas del Islam en la literatura española. De Juan Ruiz a Juan Goytisolo, Madrid 1989, S. 15

Kontroversen und wurde in seiner langen Rezeptionsgeschichte aus den unterschiedlichsten Blickwinkeln analysiert.199

Ein Forschungsschwerpunkt ist seit Américo Castro die Frage, inwieweit das Werk seine Form und seinen Inhalt der spezifischen ‚Mischkultur’ der

‚Convivencia’ zu verdanken hat, das heißt, inwiefern es jüdische und maurische Elemente integriert bzw. sogar auf ihnen basiert.

Castro sieht in diesem Zusammenhang eine deutliche Parallele zur arabischen Literatur und Philosophie und betrachtet das Collar de la paloma des Ibn Hazm als Hauptquelle des Libro de buen amor, das er als „un reflejo castellano de modelos árabes“ interpretiert.200

Diese These, in der folgenden Kontroverse als ‚Mudéjar-These’ bezeichnet, stellt den Anfang einer langen Reihe von Studien zu den Verbindungslinien zwischen dem Libro und der jüdisch-maurischen Kultur dar.

Entsprechend dem Vorgehen Castros, untersucht Lida de Malkiel Elemente des jüdischen Kultureinflusses und sieht, gerade bezüglich der heterogenen Gesamtstruktur des Libro, deutliche Parallelen zu dem Libro de Delicias des Yosef ben Meier ibn Sabarra.201

An dritter Stelle dieser Forschungsrichtung ist López-Baralt zu nennen, die den arabischen Kultureinfluss im Bereich der Astrologie festmacht: „[…] the astrological passage of the Libro de buen amor is one of the passages most strongly steeped in Mudejarism in the entire work.“202

Die ,Mudéjar-These’ blieb nicht unumstritten und rief in der Forschung heftige Kontroversen hervor. Vor allem Sánchez-Albornoz argumentierte gegen die These des jüdisch-maurischen Kultureinfluss und betonte die Eigenständigkeit sowie die christlichen Quellen des Werks.203

Ohne auf diese Kontroverse und deren jeweilige Positionen näher eingehen zu wollen, ergeben sich aus der umfangreichen Forschungsliteratur folgende Grundlinien, auf denen die eigene Analyse aufbauen wird:

199 Einen guten Überblick über die umfangreiche Forschungsliteratur bietet : Joset, Jacques : Nuevas investigaciones sobre el ‘Libro de buen amor’, Madrid 1988

200 Castro, 1984, S. 355 ff.

201 Lida de Malkiel, 1966, S. 28 ff.

202 López-Baralt, 1989, S. 53

203 Sánchez-Albornoz, Claudio : España. Un enigma histórico, tomo I, Barcelona 2000, S. 451-535

Der Nachweis einer direkten Beeinflussung durch einen jüdischen oder arabischen Autor, den Castro und Lida de Malkiel erbringen wollen, ist nur schwer zu überprüfen.

Was jedoch außer Frage steht, ist die Tatsache, dass das Libro de buen amor in einer Gesellschaft und Kultur geschrieben wurde, die aus drei Kulturkreisen bestand. Auch wenn das Libro primär dem christlichen Kulturkreis zuzuordnen ist, verweist es auf die damalige Gesamtkultur, zu der genauso die jüdisch-maurische Kultur gehörte.

Es scheint mir daher angebracht, den Fokus von der etwas eingefahrenen Diskussion über die direkten Kultureinflüsse abzuwenden und auf die – auf der Ebene des Textes zu überprüfende - Frage zu richten, in was für einem Verhältnis die Kulturkreise zueinander stehen, was für ein Bild von christlicher Identität und jüdisch-maurischer Alterität gezeichnet wird und inwiefern die in den Partidas definierten Grenzen hier überschritten werden.

Als Basis dieser Analyse soll zunächst auf das Hauptcharakteristikum des Textes – seine Heterogenität - eingegangen werden.