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Essen und Trinken: ein exemplarischer Code kollektiver Identität und Alterität

PRINZIP 4: DIE INTENSIVIERUNG DER SELBST- UND FREMDBILDER IN KRISENZEITEN

2.3 Essen und Trinken: ein exemplarischer Code kollektiver Identität und Alterität

Es ist auffällig, mit welcher Häufigkeit Giesen zur Illustrierung der Kodierungsmuster kollektiver Identität gerade den Bereich des Essens und Trinkens erwähnt.

Ebenso spielt in einem Großteil der Studien zur Anthropologie der Nahrung die identitätsstiftende Funktion von Essen und Trinken eine zentrale Rolle.60

In diesem Sinne bezeichnet Kleinspehn Essen als das „Modell für soziale Beziehungen, als Modell für die Beziehungen der Menschen untereinander schlechthin“.61

Wie kaum ein anderer Bereich des Alltagslebens verweisen Ess- und Trinkgewohnheiten auf kulturelle, ethnische, religiöse, und soziale Gegebenheiten einer Gesellschaft. Gerade hier offenbaren sich Kulturen in dem, was sie von anderen unterscheidet, da Ernährung immer an ein bestimmtes Normensystem gekoppelt ist. Man denke beispielsweise an religiöse Essensvorschriften und Nahrungstabus, an die Bedeutung von Nahrung in Bezug zur Assimilation bzw. Ausgrenzung einer religiösen, ethnischen oder sozialen Gruppe, an den Bezug von Nahrung zu sozialem Prestige oder an die Interdependenz zwischen Nahrung und nationaler, ethnischer oder sozialer Zugehörigkeit.

In der Einleitung zu dem in Deutschland bisher einzigartigen Kompendium zum Thema „Essen und kulturelle Identität“ begründen die Herausgeber die Relevanz des Themas folgendermaßen: „Zwar gibt es noch andere menschliche Verhaltensweisen, mit denen sich sozialer Status und regionale, konfessionelle, ethnische und nationale Zugehörigkeit dokumentieren lassen (z.B. Kleidung, Schmuck, Waffen, Sprache, Wohn- und Heiratsformen), aber es gibt keinen Zweifel, dass gerade der Esskultur eine ganz spezifische symbolische Ortsbezogenheit innewohnt […]. Immer wieder haben die Menschen bis heute Anstrengungen unternommen, sich über bestimmte

60 siehe z.B. in : Teuteberg, Hans Jürgen / Neumann, Gerhard / Wierlacher, Alois (Hgg.) : Essen und kulturelle Identität. Europäische Perspektiven, Berlin 1997; Fieldhouse, Paul: Food and Nutrition. Customs and culture, London, 2.Aufl., 1995 ; Contreras, Jesús (Hg.) : Alimentación y cultura. Necesidades, gustos y costumbres, Barcelona 1995

61 Kleinspehn, Thomas : Warum sind wir so unersättlich ? Über den Bedeutungswandel des Essens, Frankfurt a.M. 1987, S. 15

Kostformen soziokulturell zu definieren und durch diese Identifikation eine Orientierung in der Welt zu erlangen.“62

In diesem Sinne lässt sich Geertz’ Definition der ‚Kultur als Text‘ auch auf diesen Bereich menschlicher Kultur übertragen: Essen als symbolische Handlung und gleichzeitig kommunikativer Vorgang stellt somit einen ‚Text‘

über eine gegebene Gesellschaft dar, der Einblicke in die jeweiligen Selbst- und Fremdbilder gewährt und zur Konstruktion derselben instrumentalisiert wird.

Lévi-Strauss, in dessen Hauptwerk Mythologiques gerade die menschlichen Essgewohnheiten eine zentrale Rolle spielen, fasst diese semiotische Dimension der Nahrung folgendermaßen zusammen: „Ainsi peut-on espérer découvrir, [...] comment la cuisine d’une société est un langage dans lequel elle traduit inconsciemment sa structure à moins que, sans le savoir davantage, elle ne se résigne à y dévoiler ses contradictions.“63

Essen kann somit auf den verschiedensten Ebenen des menschlichen Lebens als symbolische Handlung eine Rolle spielen. Fieldhouse64 nennt diesbezüglich als Hauptbereiche, die auch entsprechend der eigenen Themenstellung relevant sind, die soziale und die ethnisch-religiöse Dimension.

Im folgenden soll exemplarisch anhand dieser zwei Bereiche gezeigt werden, wie durch alimentäre Codes kollektive Identität konstruiert wird.65

62 Teuteberg / Neumann / Wierlacher, 1997, S. 13

63 Lévy-Strauss, Claude: Mythologiques III, Paris 1968, S. 411

64 Fieldhouse, 1995, S. 78 ff., S. 120 ff.

65 Hierbei wird kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben. Angesichts der vorwiegend literaturwissenschaftlichen Ausrichtung vorliegender Arbeit soll hier nur ein kurzer Einblick in die Anthropologie der Nahrung als exemplarischer Code kollektiver Identität gegeben werden.

Eine detaillierte Studie würde hierbei zu weit vom eigentlichen Thema der Selbst- und Fremdbilder wegführen. Folgender Überblick bleibt bewusst auf der abstrakt-theoretischen Ebene; die Anwendung der dargestellten theoretischen Prämissen erfolgt dann im Analyseteil.

Für detaillierte Informationen verweise ich auf die bereits genannten Studien.

DIE SOZIALE DIMENSION DER NAHRUNGSSYMBOLIK

Gerade im Bereich der sozialen Beziehungen und der Konstruktion sozialer Identität nimmt Nahrung eine zentrale Stellung ein: „Food behaviour is thus a guide to both social relationship and to social structure.“66

Die Art der Zubereitung, der Darbietung, der Speiseauswahl und der Tischsitten waren so vor allem im Mittelalter und der frühen Neuzeit eine öffentliche Demonstration von Wertschätzung, Abneigung und sozialer Stellung.

Fieldhouse unterscheidet mehrere Kategorien, in denen Essen soziale Funktionen einnehmen kann.67 Entsprechend der eigenen Themenstellung sind hiervon vor allem die drei folgenden Bereiche relevant: Essen als Prestige- und Statussymbol, Essen als Gemeinschaftsbekundung und Essen als rituelle Handlung.

Essverhalten, sowie die Art der Speisen und der Tischsitten sind und waren vor allem in dem fraglichen Zeitraum des Mittelalters und der frühen Neuzeit eines der wichtigsten Symbole, um sozialen Status zu demonstrieren. So wurden gerade in den mittelalterlichen Ständegesellschaften Ständekontraste und soziale Distanz durch die Art und Zubereitung der Speisen inszeniert: teure, exotische oder kompliziert zubereitete Speisen fungierten als Prestigesymbol und dienten der Machtdemonstration, sowie der Abgrenzung gegenüber anderen Ständen. Ebenso hatten die streng normierten Tischsitten soziopolitische Funktionen.

Aber auch im privaten Bereich der sozialen Beziehungen kann Essen eine Rolle spielen: „Food is an universal medium for expressing sociability and hospitality.”68 Die Nähe sozialer Beziehungen wird so an der Art und Weise gemeinsamen Essverhaltens ablesbar. Tischgemeinschaft bedeutet häufig die gegenseitige Akzeptanz oder kann Freundschaftsbekundung ausdrücken, ebenso auch Essensgeschenke.

Demgegenüber verweist die Ablehnung gemeinsamen Essens auf das Bedürfnis der Grenzziehung zwischen Identität und Alterität.

Des weiteren kann sich im Essverhalten auch der Wunsch nach Gruppenzugehörigkeit widerspiegeln: so ist die Assimilation der eigenen

66 ebd. S. 79

67 ebd.

68 ebd. S. 83

Essgewohnheiten an die der erstrebten Gruppe ein deutliches Anzeichen von kulturellem Assimilationsverhalten im Allgemeinen. Die Betonung von Gruppenzugehörigkeit wird unter anderem durch rituelle Esshandlungen öffentlich demonstriert. „They permit the expression of sentiments which can not always be put into words an can thus act as a unifying social force.“69

Auf der anderen Seite ist gerade der Bereich des Essens in einem Großteil der rituellen Handlungen im allgemeinen anwesend: Rituale integrieren beispielsweise häufig Opfergaben, die von Menschenopfer, über Tieropfer bis zu pflanzlichen Gaben gehen können.

Gerade im rituellen Bereich des Essens manifestiert sich die zweite Dimension der Nahrungssymbolik:

DIE ETHNISCH-RELIGIÖSE DIMENSION DER NAHRUNGSSYMBOLIK

Ethnisch-religiöse Gruppenzugehörigkeit äußert sich vielfach durch symbolische Bedeutungen von Speisen.

Fieldhouse unterscheidet hierbei folgende Bereiche und Funktionen70: Nahrung als Kommunikation mit Gott, als Glaubensbekundung oder als symbolische Abwendung von Weltlichkeit sowie Nahrung als religiös-ethnische Identitätsbekundung.

Nahrungsopfer haben häufig die Funktion, Gott um etwas zu bitten oder für etwas zu danken. Ebenso kann symbolisches Essen – wie z.B. beim Abendmahl - die Einheit mit Gott bekunden: „symbollically eating the god allows the eater to acquire godly virtues, or at the least to identify spiritually with the god.“71

Das Befolgen von Speisegesetzen kann das Einverständnis mit einer religiösen Autorität oder Doktrin demonstrieren. Auf dem selben Hintergrund dienen gewisse Speisen der Erinnerung von Ereignissen, die einen zentralen Platz in der kollektiven Identität einnehmen: so vergegenwärtigen beispielsweise der Verzehr von bitteren Kräutern im Rahmen des jüdischen Pessah-Fests den Auszug aus Ägypten.

69 ebd. S. 100

70 ebd. S. 120

71 ebd. S. 121

Die Ablehnung von Weltlichkeit wird symbolisch oft durch Essverhalten wie Askese oder Fasten demonstriert. Derartige Praktiken haben auch die Funktion einer symbolischen Reinigung, um damit Gott würdiger zu werden .

Zusammenfassend kann man sagen, dass Essen im religiös-ethnischen Bereich immer der Konstruktion und Demonstration von kollektiver Identität dient. Fieldhouse erklärt diesen Mechanismus folgendermaßen:

„Individuals who observe codified food rules make a public demonstration of belonging to a group, and every day provide themselves with a private affirmation or identification with the group. […]. Indeed, some religious food practices may have been decreed expressly to create such a feeling of fellowship and group membership. In obeying the dietary laws one is continually reminded that one is member of the Faith. The need to preserve identity is especially felt when one group is threatened by assimilation into a larger or more powerful group.”72

Konkret realisieren sich solche Identitätsbekundungen durch Regeln der Tischgemeinschaft, Speiseregeln, Art der Zubereitung, sowie Verbote und Tabus. Gerade wenn der innere Zusammenhalt einer religiösen Gruppe bedroht ist, beispielsweise durch Assimilationsdruck, besteht die Tendenz, die bereits bestehenden Vorschriften zu übertreiben oder sogar neue zu schaffen, die der Abgrenzung dienen. Daher kommt gerade in Zeiten von Identitätskonflikten der ethnisch-religiösen Dimension von Nahrung eine zentrale Rolle zu.

Inwiefern die Kodierung kollektiver Identität und Alterität unter anderem auch durch alimentäre Codes erfolgt, soll anhand der zur Debatte stehenden Texte erläutert werden.

72 ebd. S. 122

3 IDENTITÄT UND ALTERITÄT IN DER SPANISCHEN