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5.2 V ERGLEICH MIT DEM AKTUELLEN F ORSCHUNGSSTAND

5.2.3 Hemmende Faktoren

Wie in Kapitel 2.3.4 gezeigt wird, verfügt der Kanton Schaffhausen über aktuelle Merkblätter und Weisungen zum Nachteilsausgleich. Die Vorgaben des Kantons beinhalten verbindliche Hinweise für die Umsetzung der Massnahmen in der Praxis, für welche die Schule die Verantwortung trägt. (Kanton Schaffhausen, Dienststelle Primar- und Sekundarstufe 2015b; 2018b; Kanton Schaffhausen.

Dienststelle Primar- und Sekundarstufe I, Abteilung Schulische Abklärung und Beratung, 2015c).

Die Umsetzung von Nachteilsausgleichsmassnahmen bei der Diagnose ADHS ist im Kanton Schaffhausen relativ neu, wie die Zahlen in Kapitel 2.3.4 zeigen.

Von Davier (2017) verweist auf die Herausforderungen bei der Umsetzung der Nachteilsausgleichsmassnahmen im Schulalltag: Trotz der kantonalen Wegleitungen scheint die Umsetzung nicht immer einfach.

Auch die Autorinnen finden in den Befragungen Hinweise darauf, in welchen Bereichen Verbesserungen zur Herstellung von Chancengerechtigkeit anzustreben sind. Dazu gehört neben einer konsequenten Einhaltung der kantonalen Vorgaben die Verbreitung des Konzepts auf allen Ebenen.

Diese Forderung findet sich auch bei Schnyder und Jost (2013, S. 10 ff.):

Vielen Fachpersonen aus der Bildung ist die Existenz des Nachteilsausgleichs bzw. der gesetzliche Anspruch darauf unbekannt. Eine klare Information müsste durch eine Einführung in die Thematik während der Grundausbildung sowohl der Schulischen Heilpädagogen als insbesondere auch der Regellehrpersonen stattfinden, da der Nachteilsausgleich zum Bereich Regelschule gehört.

(Schnyder & Jost, 2013, S.10).

Die genannten hemmenden Faktoren sind eng miteinander verflochten und beeinflussen sich gegenseitig, wie die nachfolgenden Ausführungen zeigen. Auch gibt es Überschneidungen mit dem Bereich Kommunikation, welcher vorgängig in Kapitel 5.2.2 diskutiert wird.

Implementierung in der Praxis

Die Autorinnen sind erstaunt darüber, dass weder Lernende noch Eltern oder die Lehrperson die fallspezifischen, individuell festgelegten Massnahmen vollständig benennen können. Diese Aussagen legen den Schluss nahe, dass die Umsetzung der Massnahmen im Schulalltag wenig implementiert ist.

Gemäss den Fachpersonen der Schulpsychologie fehlt es an Erfahrung mit Nachteilsausgleichsmassnahmen bei ADHS. Diese Einschätzung korreliert mit der geringen Anzahl an Fällen im Kanton: Gemäss SAB gab es 2016/17 erst einen Fall, im Schuljahr 2018/19 sind es acht Lernende mit einem Nachteilsausgleich aufgrund einer ADHS-Diagnose. (siehe Abbildung 2). Dies dürfte erklären, weshalb Nachteilsausgleichsmassnahmen in der Praxis noch wenig erprobt sind.

Aus Sicht der Eltern werden Mängel in der Umsetzung vorgebracht. Die Autorinnen vermuten Zusammenhänge mit den Absprachen innerhalb der Schule, welche in den Befragungen mehrfach negativ gewertet wurden. Demnach finden die Absprachen zwischen den an der Umsetzung beteiligten Lehrpersonen nicht oder nur beschränkt statt, was sich hemmend auf die Umsetzung im Schulalltag auswirken dürfte.

Es wird darauf hingewiesen, dass bei einem Ausfall der Lehrperson die Massnahmen nicht mehr umgesetzt werden. Auch hier dürfte mangelnder Informationsfluss eine Rolle spielen. Die Kommunikation zwischen den Beteiligten rund um den Nachteilsausgleich wird in Kapitel 5.2.2 diskutiert und theoretisch eingebettet.

Um Kinder mit Behinderung vor Diskriminierung zu schützen, müssen Nachteilsausgleichsmassnahmen im definierten Geltungsbereich von allen Beteiligten konsequent umgesetzt werden. Die Verantwortung der Umsetzung liegt bei den Schulen. Die Autorinnen verweisen auf die Aufsichtspflicht der vorgesetzten Stellen: Diese müssen sicherstellen, dass Nachteilsmassnahmen angemessen umgesetzt werden. Dieser ist zwar nicht im kantonalen Schulgesetz (Kanton Schaffhausen, 1997) verankert, ergibt sich jedoch aus übergeordnetem Recht, wie im Kapitel 2.3.3 dargestellt wird.

Eine Überprüfung der Umsetzung ergibt sich durch die fallführende Fachperson SAB im Rahmen des jährlichen SSG. (vgl. Kapitel 5.2.2).

Die Qualitätssicherung im Schulbereich und die Überwachung der Einhaltung gesetzlicher Vorschriften gehören zu den Aufgaben der Schulbehörde und der Schulaufsicht. Die Aufgaben der Schulinspektorinnen und Schulinspektoren sind beschrieben im Schaffhauser Rechtsbuch (Kanton Schaffhausen, 1997).

Die Aufsicht über die Primarschule liegt bei der Schulbehörde bzw. Schulleitung. «Die Schulbehörde stellt den Schulbetrieb sicher und nimmt ihre Verantwortung im Rahmen der gesetzlichen Bestimmungen wahr.» (Kanton Schaffhausen, Dienststelle Primar- und Sekundarstufe I, Abteilung Schulentwicklung und Aufsicht, 2012, S. 14). Die Schulbehörde wird auch als Anlaufstelle für Eltern genannt. Entsprechend sind die genannten Stellen ebenfalls am Rande involviert. Ihre Rolle wurde nicht näher untersucht.

Wissensstand, Aus- und Weiterbildung

Blaser et al. (2018, S. 93) weisen fehlendes Fachwissen als hemmenden Faktor bei der Umsetzung des Nachteilsausgleichs nach. Gemäss Müller (2015) führen Unklarheiten und ein Mangel an Wissen bei Fachpersonen dazu, dass Eltern und Betroffene nicht adäquat informiert werden. Die Autorinnen befürchten deshalb, dass sich vor allem gut informierte Eltern für Nachteilsausgleichsmassnahmen zugunsten ihrer Kinder einsetzen. Im Umkehrschluss sind Lernende mit Behinderungen aus bildungsfernen Familien mutmasslich stärker von Ungerechtigkeit betroffen. So verweisen Blaser et al.

(2018, S. 88ff.) auf den direkten Zusammenhang von sozioökonomischem Status der Eltern und dem Knowhow über schulische Angebote, was dazu führt, dass vor allem Eltern mit höherem sozioökonomischen Status Unterstützungsmassnahmen für ihre Kinder einfordern können. In den vorliegenden Fällen wurde der Nachteilsausgleich von Seiten der Schule initiiert.

Schnyder und Jost (2013, S. 10 ff.) kritisieren, dass es Fachpersonen im Bereich Bildung an Wissen über den Nachteilsausgleich und den Anspruch darauf fehlt. Sie fordern eine Verbreitung dieses Wissens etwa über die Grundausbildung von LP und SHP sowie die verstärkte Koordination des Konzepts, namentlich zwischen den Kantonen, aber auch zwischen den verschiedenen Bildungsbereichen, etwa der Primar-und Sekundarstufe.

Von Davier (2017, S. 12) verweist auf die Ausbildung von Lehrpersonen der Regelklasse, welche weder sonderpädagogisches Fachwissen noch vertieftes Wissen über den Nachteilsausgleich vermittelt.

Dies bestätigt die Übersicht über die Modulinhalte der PHSH (2019) sowie ein Blick in das aktuelle Weiterbildungsangebot für Lehrpersonen des Kantons. (PHSH, 2020): Der Nachteilsausgleich stellt in der Aus- und Weiterbildung von Schaffhauser Lehrpersonen kaum ein Thema dar. Eine Bedarfsanalyse der PHSH zum Thema Weiterbildung und Dienstleistungen hat in ihrem Abschlussbericht 2015 (PHSH, 2015, S. 12) das Thema ADHS aufgenommen. Dieses wurde jedoch nur als Einzelnennung aufgeführt.

Laut Frölich et al. (2014, S. 86) ist für Lehrpersonen die kontinuierliche Weiterbildung zum Störungsbild ADHS unumgänglich. Es wird bemängelt, dass zwar viele Empfehlungen für die pädagogische Arbeit mit betroffenen Kindern und Jugendlichen gemacht würden, ohne dass diese jedoch überprüft bzw.

evaluiert würde. (ebd.)

Diese Einschätzung wird bekräftigt: Gemäss von Davier (2017, S. 12 ff.) braucht die Lehrperson Fachwissen zur Behinderung und deren Auswirkung auf den Unterricht.

Gemäss Schnyder und Jost (2013, S. 11) sind letztendlich finanzielle und personelle Ressourcen notwendig, um die Sensibilisierung der Fachpersonen und die Koordination des Nachteilsausgleichs voranzutreiben.

Wirksamkeit der Massnahmen

In den Interviews finden sich Aussagen, welche andeuten, dass die Lernenden mit ADHS ihr Potenzial trotz dem Nachteilsausgleich nicht angemessen zeigen können. Nachteilsausgleichsmassnahmen dienen der Herstellung von Chancengerechtigkeit. Sie werden anhand von Leitplanken erstellt. Diese werden in Kapitel 2.3.1 ausführlich besprochen. Das Prinzip der Fairness ist gegeben, wenn Lernende dank dem Nachteilsausgleich die behinderungsbedingten Einschränkungen kompensieren können.

(Glockengiesser et al. 2012, S. 27 ff.; Henrich et al., 2012, S. 6; Interkantonale Hochschule für

Heilpädagogik, 2012, S.5; Lienhard-Tuggener, 2014; Kanton Schaffhausen, Dienststelle Primar- und Sekundarstufe 2018b, S. 2).

Gemäss Interpretation der Autorinnen können Massnahmen des Nachteilsausgleichs nur dann als wirksam bezeichnet werden, wenn sie den behinderungsbedingten Nachteil auszugleichen vermögen, also fair sind, gemäss den kantonalen Vorgaben.

Schwere (2010, S. 23) verweist auf die Schwierigkeit, die sich bei der Festlegung der Massnahmen ergeben:

«

Dabei wird meistens klar, dass der durch die Behinderung entstandene Nachteil niemals voll ausgeglichen werden kann.»

Das Prinzip der Fairness kann demnach zwar als Leitplanke für Nachteilsausgleichsmassnahmen dienen. Die Frage, ob Lernende dadurch ihr wahres Potential zeigen können, ist aus Sicht der Autorinnen nicht zu beantworten.

Ressourcen für die Umsetzung der Massnahmen

Die Befragungen ergeben, dass die für die Umsetzung von Massnahmen zur Verfügung stehenden Ressourcen sehr unterschiedlich sind. Gemäss dem Merkblatt des Kantons werden Lernende mit Nachteilsausgleich zusätzlich von Fachpersonen spezifisch unterstützt. (Kanton Schaffhausen, Dienststelle Primar- und Sekundarstufe I, 2018b, S. 3).

Gemäss den Richtlinien (Kanton Schaffhausen, 2007b, S. 17) erfüllen Fachpersonen der Schulischen Heilpädagogik folgende Aufgaben:

- Unterstützung im Unterricht - Beratung und Zusammenarbeit

- Organisation, Koordination und Administration

Die Unterstützung durch die SHP erfolgt «im Rahmen der Poolressourcen oder der Integrativen Sonderschulung.» (Kanton Schaffhausen, Dienststelle Primar- und Sekundarstufe I, 2018b, S. 3). Es werden also bei einem Nachteilsausgleich keine zusätzlichen Stunden gesprochen, welche die SHP für Lernende mit Nachteilsausgleich aufwenden könnte.

Die in Kapitel 2.3.4 beschriebenen Besonderheiten der Schulstrukturen im Kanton Schaffhausen erschweren einen Überblick über die lokal vorhandenen Ressourcen. So gibt es an Primarschulen ISF und Schulleitungen nicht flächendeckend. Im Kanton gibt es also Klassen, welche nicht von einer Fachperson SHP unterstützt werden. In der Befragung wurde geäussert, dass die Unterstützung durch die SHP nicht gewährleistet sei.

Auch Schellenberg et al. (2017, S.46) kritisieren die unterschiedlichen Umsetzungen, welche abhängig vom Wohnort sind und somit die Rechts- und Chancengleichheit einschränken.

Die Autorinnen stellen sich die Frage, in welchem Rahmen Ressourcen für die Umsetzung des Nachteilsausgleichs geltend gemacht werden können. Das Konzept des Kantons Zürich verwendet den Begriff der Verhältnismässigkeit: «Zudem muss der Aufwand, der mit dem Nachteilsausgleich verbunden ist, verhältnismässig und schulorganisatorisch zu bewältigen sein. Der zusätzliche Aufwand (personell oder finanziell) darf zwar spürbar sein, sollte sich aber in einem vernünftigen Rahmen bewegen.» (Bildungsdirektion Kanton Zürich Volksschulamt, 2007, S. 8).

Das Prinzip der Verhältnismässigkeit zwischen dem Nutzen des Nachteilsausgleichs für die Betroffenen und dem daraus resultierenden Aufwand für die Schule ist aus Sicht der Autorinnen nicht abschliessend geklärt. Für ein erweitertes Verständnis drehen die Autorinnen die Frage um: Welche Konsequenzen entstehen, wenn behinderungsbedingte Nachteile nicht ausgeglichen werden?

Im Streitfall sollte diese Verhältnismässigkeit aus Sicht der Autorinnen von einer neutralen Stelle beurteilt werden, das heisst nicht von der betroffenen Schule, da ihr daraus Kosten entstehen könnten, welche sie zu vermeiden sucht. Gemäss Inclusion Handicap (2017) stellt auch der finanzielle Druck auf die Gemeinden einen hemmenden Faktor dar bei der Umsetzung eines inklusiven Bildungssystems.

Gemäss BehiG (Bundesversammlung der Schweizerischen Eidgenossenschaft, 2002, Art. 2, Abs. 5a) kommt es einer Benachteiligung gleich, wenn Betroffenen unverzichtbare Hilfsmittel verwehrt werden oder sie die Unterstützung einer benötigten Assistenz nicht erhalten.

Dies würde einer direkten Diskriminierung entsprechen. «Von einer direkten Diskriminierung wird gesprochen, wenn die Schlechterstellung direkt an das Merkmal der Behinderung anknüpft.»

(Glockengiesser, 2014, S. 18).

Inwiefern sich die Verfügbarkeit von Schulleitungen auf die Umsetzung auswirkt, ist nicht geklärt. Blaser et al. (2018, S. 94f) konnten in ihrer Untersuchung zum Nachteilsausgleich in der Schulpraxis nachweisen, dass professionelle Handlungskompetenz ein zentraler Effekt bei der erfolgreichen Umsetzung des Nachteilsausgleichs darstellt. Für die Stärkung dieser Handlungskompetenz werden Schulleitungen als Hauptverantwortliche genannt. Deren Haltung gegenüber integrativen Prozessen scheint zentral zu sein: «Das massgebliche Kriterium für eine erfolgreiche Umsetzung des Nachteilsausgleichs im Entwicklungsbereich Schule und Leitung ist die Grundhaltung der Schulleitenden gegenüber integrativen Prozessen.» (ebd. S. 39).

Eine vom Kanton Schaffhausen in Auftrag gegebene und von der HfH durchgeführte Evaluation, welche ISF mit anderen Förderformen vergleicht, kommt zum Schluss, dass für Schulentwicklungsprozesse Schulleitungen von Vorteil sind: «Systematische Schulentwicklung kann nur an Schulen stattfinden, die eine Schulleitung haben – dies zeigt ganz klar unsere Erfahrung.» (Aellig & Elmiger, 2017, S. 52). «Hohe Qualität in der pädagogischen Arbeit ist das Ergebnis einer gelungenen Schulentwicklung.» (ebd., S.

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