• Keine Ergebnisse gefunden

Hassemers Thesen zur Flexibilisierung des Strafrechts

1. Die Kennzeichen des klassischen Strafrechts

Im Prinzip basiert das Strafrecht auf den verschiedenen Grundsätzen der Rechtsstaatlichkeit. Das bedeutet, dass es prinzipiell an Rechtsstaatsprinzipien wie dem Be-stimmtheitsgrundsatz, dem Schuld- und dem Subsidiari-tätsprinzip sowie den Prinzipien „in dubio pro reo“ und

„in dubio pro libertate“ ausgerichtet ist. Das diesen Grundsätzen folgende Strafrecht wird im Allgemeinen als

„das klassische 65 Strafrecht“ bezeichnet. 66

65.Dieser Ausdruck „klassisch“ ist kein bestimmter, objektiver und absoluter Begriff, sondern ein subjektiver, relativer.

Deswegen kann man den Sinn des Ausdrucks „klassisch“ unter-schiedlich verstehen. Ebenso der Ausdruck „klassisches Strafrecht“ ähnlich wie „modernes Strafrecht“. Vgl. zum Ausdruck „modernes Strafrecht“, in Kap.1 V. So zieht Hasse-mer den Begriff „klassisch“ aus der politischen Philosophie der Aufklärung. Dass Hassemer den Begriff „klassisch“ mit dem Strafrecht verbindet, geschieht meiner Ansicht nach, um den Begriff „modern“ im modernen Strafrecht hervorzuheben.

Eingehend dazu Hassemer, ZRP 1992, S. 379 f.; ders., Pro-duktverantwortung, 1994, S. 3 ff.

66.Ähnlich Park, a.a.O. (Fn. 64), 1997, S. 23. Er hat den Be-griff des klassischen Strafrechts vom RStGB im 19. Jahrhun-dert abgeleitet (ders., ebd., S. 121 ff.).

chend taucht auch der Begriff „rechtsstaatliches Straf-recht“67 auf.68 Kennzeichen des rechtsstaatlichen Straf-rechts sind folgende:

(a) Es ist gesetzlich.

(b) Es schützt keine Rechtsgüter der Allgemeinheit, sondern nur die des Einzelnen.

(c) Es existieren nur eindeutig dargestellte und be-schriebene Straftatbestände.

(d) Durch die Bestrafung soll der Verbrecher nicht be-kämpft werden.69

(e) Ziele sind Machtbegrenzung (Sicherung der Humani-tät), gleichzeitig aber auch eine Machterhöhung (Effektivität des Strafrechts.70

Den Ausdruck „klassisches Strafrecht“ entnimmt Hassemer dem sogenannten Sozialvertrag. 71 Für Hassemer richtet sich der Begriff „klassisch“ im Strafrecht nicht nach einer bestimmten Zeit oder Anzahl von Objekten, sondern

67.Allerdings ist der Begriff „rechtsstaatliches Strafrecht“

nicht unveränderlich, sondern kann „weiterentwickelt wer-den“. Dazu Naucke, a.a.O. (Fn. 64), S. 259.

68.Vgl. zu den Grundlinien eines rechtsstaatlichen Strafrechts Hassemer, ARSP 1991, S. 137.

69.Ausfürlich dazu Naucke, a.a.O. (Fn. 64), S. 244 ff., ins-bes. 246-249.

70.Näher dazu Naucke, a.a.O. (Fn. 64), S. 254 ff. Hierbei wird weiter ausgeführt, dass sich Humanität im modernen Straf-recht als „schwach, biegbar, vernichtbar“ herausstellt und die Machterhöhung stärker wird.

71.Hassemer, ZRP 1992, S. 379; ders., Produktverantwortung, 1994, S. 7 ff.

bedeutet nur so etwas wie ein „Ideal“.72 An den angespro-chenen Sozialvertrag anlehnend stellt er die Beziehung zwischen Staat, Strafrecht und Bürger wie folgt dar:

Nach dem Sozialvertrag funktioniert der Staat durch die Bürger. Das Strafrecht muss die Grenzen der bürgerlichen Freiheit markieren und sichern. Auf der anderen Seite muss aber auch das Strafrecht wiederum vom Bürger kon-trolliert werden.

Davon ausgehend beschreibt Hassemer die Aufgaben und Grenzen des Strafrechts sowie die Kennzeichen des klas-sischen Strafrechts folgendermaßen:73

(a) Als strafrechtlich relevant sollte nur die Verlet-zung personaler Rechtsgüter74 und sozialvertraglich gesicherter Freiheiten gelten.

(b) Selbst bei einem sozialvertraglichen Freiheitsver-zicht sollten dessen Grenzen verdeutlicht werden.

(c) Da das Strafrecht eine von den Rechten des Indivi-duums abgeleitete Institution ist, müssen die auf der Rechtsstaatlichkeit basierenden Prinzipien des Strafrechts befolgt werden: z.B. der „in dubio pro reo Grundsatz“, das Prinzip der Subsidiarität oder der Verhältnismäßigkeit.

72.Hassemer, Produktverantwortung, 1994, S. 3 ff.

73.Hassemer, ZRP 1992, S. 379 f.; ders., ebd. (Fn. 72), S. 5.

74.Nach Hassemer liegt der Wert des Rechtsgutsbegriffs nicht in der Möglichkeit rechtlicher Ableitungen more geometrico, sondern im Schutz einer bestimmten Argumentationsrichtung in rechtlichen Auseinandersetzungen. Er betont, der Rechts-gutsbegriff müsse für eine Ermessensentscheidung des Straf-gesetzgebers offen sein. Ausführlich hierzu Hassemer, in:

FS für Arth. Kaufmann, 1989, S. 91.

Hassemer hat die Kennzeichen des klassischen Strafrechts überwiegend von persönlichen Rechtsgütern abgleitet. Die Begründung und Begrenzung der Strafbarkeit im Rahmen des klassischen Strafrechts dient also dem Rechtsgüter-schutz. Dies bedeutet im Endeffekt eine Aufforderung zur Entkriminalisierung. Es sollte nur dann bestraft werden, wenn anerkannte Rechtsgüter durch ein ganz bestimmtes Verhalten „wirklich“ bedroht sind.75 Dies wiederum bedeu-tet, dass zur Rechtfertigung eines strafrechtlichen Rechtsgüterschutzes einzelne Schutzgüter konkret und klar erfasst werden müssen.

Deswegen ist für Hassemer der Rechtsgüterschutz auf das Interesse der Person an Leben, Gesundheit, Freiheit und Eigentum, d.h. auf Individualrechtsgüter, beschränkt. 76 Ob auch Universalrechtsgüter strafrechtlich schutzbe-dürftig sind, soll seiner Ansicht nach vom Vorliegen bzw. Nichtvorliegen von konkreten und berechtigten In-teressen einzelner Personen abhängig gemacht werden. 77 Der Grund dafür liegt darin, dass die Rechtsgutslehre zu dem aus der Aufklärung stammenden Subsidiaritätsprinzip (Strafrecht als ultima ratio) in enger Verbindung steht.

Dabei darf nicht übersehen werden, dass Hassemer mit seinen Ansichten zum Rechtsgüterschutz nicht blind für eine Entkriminalisierung plädiert. 78 Er beharrt jedoch darauf, dass das Strafrecht kein Instrument der Sozial-politik sein sollte, sondern letztes Mittel des Rechts-güterschutzes, wenn alle anderen Mittel nicht mehr taug-lich erscheinen.

75.Hassemer, ebd., S. 87

76.AK-Hassemer, 1990, Vor § 1, Rn. 287; ders., in: Simon (Hrsg.), 1994, S. 282 f.

77.Ausführlich dazu Hassemer, a.a.O. (Fn. 74), S. 92 f.:

ders., in: Simon (Hrsg.), 1994, S. 284.

2. Die Kennzeichen des modernen Strafrechts

Der grundsätzlich ganz unterschiedlich deutbare Begriff des „modernen“ Strafrechts läßt sich wie folgt verste-hen: „Gemeint ist nicht ein Strafrecht, das insofern

`modern´ ist, als es rechtsstaatlich, freiheitlich, al-lein dem Rechtsgüterschutz dienend und in seiner Ziel-setzung konstruktiv ist“.79 Stattdessen soll ein anderes Begriffsverständnis zugrunde gelegt: „Es wird die kriti-sche Frage aufgeworfen, ob gegenwärtig eine kriminalpo-litische Entwicklungstendenz erkennbar ist, bei der die Strafverfolgung durch einen immer weiter gehenden Ver-lust an rechtsstaatlichen Konturen gekennzeichnet ist.“80 Mit dem Begriff „modernes Strafrecht“ ist im Allgemeinen die „Modernisierung“ des bestehenden Strafrechts ge-meint. Hassemer bezeichnet dies auch als „Dialektik der Moderne“, worunter man das Phänomen eines Strafrechts versteht, das sich einer neuen und gewandelten Epoche anpasst.81 Für Hassemer bedeutet dieses Phänomen die Ab-wendung von metaphysischen Konzepten bei gleichzeitiger Neigung zu einer empirischen Methodologie. Letztere zei-ge sich vor allem in der Folzei-genorientierung und Vorliebe für präventive Konzepte. Dazu erwähnt Hassemer, dass

„diese modernen Entwicklungen im Strafrecht mit den strafrechtlichen Traditionen wieder synthetisiert wer-den“.82 Hassemer charakterisiert die Modernisierung des

78.Eingehend hierzu Hassemer, a.a.O. (Fn. 74), S. 87 f.

79.Park, a.a.O. (Fn. 64), S. 21.

80.Ebd.

81.Hassemer, a.a.O. (Fn. 72), S. 1 ff.

82.Hassemer, a.a.O. (Fn. 72), S. 2.

Strafrechts (oder auch „Dialektik der Moderne“ 83 ) mit Hilfe der Begriffe „symbolisches Strafrecht“84 und „funk-tionales Strafrecht“.85 Dies hat er vor allem anhand der drei Hauptziele des Strafrechts, also dem Rechtsgüter-schutz, der Prävention und der Folgenorientierung, dar-gestellt.86 Im folgenden soll erörtert werden, wie sich das symbolische und funktionale Strafrecht in diesen drei Gebieten entfaltet haben.