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Geschlechtsspezifische und andere Wirklichkeiten im Seminar

Seminaren: Geschlechterverhältnisse in der Bildungsar- Bildungsar-beit der IG Metall

3. Fragen zum Geschlechterverhältnis 1 Forschungsfragen

3.3 Geschlechtsspezifische und andere Wirklichkeiten im Seminar

Unsere Beobachtungen zeigen, daß die verschiedenen Wirklichkeiten vornehmlich narrativ, in Form von Geschichten ins Seminar kommen. Dafür muß ihnen aber Platz gelassen werden. Auf diesem Weg können sie auch zum Lerngegenstand werden, wenn ihnen zugehört wird. Elkes Geschichte, mit der sie erläutert, warum sie gewerkschaftliches Engagement begonnen hat, habe ich erst im Interview, nicht im Seminar erfahren. Dort hat sie ihre Geschichte nicht erzählt. Ihre Geschichte enthält

einen geschlechtsspezifischen Aspekt, und sie selber ist eine Frau. Sind das auch die Gründe dafür, daß Elke nicht zum Zuge kam? Möglicherweise erschien ihr diese Geschichte irrelevant, vielleicht hat sie sich nicht getraut, keine Gelegenheit gefun-den, vielleicht hat sie diese genauso wie andere Geschichten nicht erzählt, weil sie im Seminar eher zu den Schweigsamen gehörte – wie einige andere Teilnehmer und Teilnehmerinnen auch. Alle diese möglichen Gründe können geschlechtsspezifische Aspekte haben. Im Kontext des Seminars, den ich hier nicht weiter ausführen will, spricht einiges dafür, anderes dagegen. Im Einzelfall ist hier für das forschende Verstehen-Wollen eine Grenze erreicht.

Verstehbarer werden die Unterschiedlichkeit männlicher und weiblicher Wirklichkeit und das Problem ihrer Sichtbarkeit im Seminar im folgenden Einzelfall.

An Elkes Seminar nahmen neben ihr elf Männer und drei Frauen teil, darunter auch Rita. Rita ist Sekretärin in einem metallverarbeitenden Großbetrieb und Vertrauens-frau von Verwaltungsangestellten. Folgendes berichtet sie im Seminar: Unter den Angestellten findet sie kaum Interesse für ihre Arbeit, geschweige denn MitstreiterIn-nen. Den Betriebsrat, von dem sie Unterstützung erwartet, erfährt sie als ignorant und ausgrenzend gegenüber den Problemen der Angestellten. Darüber hinaus fühlt sich Rita in den Interessenvertretungsgremien auch unwohl, weil dort proletarische Sprach-, Umgangs- und Politikstile dominieren, die ihr fremd sind; zudem ist sie dort fast die einzige Frau. Eines Tages empören sich die Angestellten, die sich sonst wenig um die Betriebsratsarbeit kümmern, über ein Flugblatt des Betriebsrates. Darin werden für die ArbeiterInnen höhere Anfangslöhne gefordert; deren gegenwärtiges Anfangsentgelt erreichen viele der Angestellten jedoch noch nicht einmal nach mehreren Jahren. Über Angestellte wird jedoch in dem Flugblatt nicht gesprochen; es wurde dennoch unter den Angestellten verteilt, weil es für sie keine besondere Öffentlichkeitsarbeit gab und die Angestellten das Anliegen der Arbeiter unterstützen sollen. Rita freut sich, daß einige Kolleginnen initiativ werden, und nutzt die Empö-rung, um den Betriebsrat mit einer halböffentlichen Aktion unter Druck zu setzen.

Unmittelbar danach wird sie zum Betriebsratsvorsitzenden zitiert: Ihr werden spalterische Absichten vorgeworfen. Im Streit gerät der Betriebsrat immer mehr in Rage und beschimpft Rita schließlich, die Angestellten säßen ja doch nur den ganzen Tag auf dem Hintern und würden Kaffee kochen.

Handelt es sich hier um einen Geschlechterkonflikt oder einen Konflikt, der den Status und die Arbeitsteilung zwischen ArbeiterInnen und Angestellten betrifft? Beide Trennlinien überlagern sich in diesem Konflikt. Rita ist Frau und Angestellte, und beides verbindet sich in ihrer Berufstätigkeit als Sekretärin. Sie ist Angestellte; das trennt sie von den Arbeitern wie den Arbeiterinnen, in bezug auf die Arbeitserfah-rungen, den betrieblichen Status, den Habitus, die in der betrieblichen Interessenver-tretung, in der Gewerkschaft, in dem Seminar hegemonial sind. Wäre Rita leitende Angestellte, wäre die Distanz sicherlich auch groß, aber sie würde doch vermutlich in ihrer Leistung anerkannt. Aber leitende Angestellte sind in der Regel Männer. Wäre Rita technische Angestellte, wäre die Distanz geringer, die Wirklichkeiten ähnlicher;

aber auch dieses Feld wird vornehmlich von Männern besetzt. Rita ist innerhalb des Spektrums der Angestelltenberufe in einem klassisch weiblichen tätig: Sie ist Sekretärin. Ein „dienender“ Beruf, wie Rita sagt, in dem sie auch Tätigkeiten zu verrichten hat, die im Rahmen der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung nur Frauen zugeschrieben werden: Kaffee kochen, das repräsentative Aushängeschild des Büros sein, den Vorgesetzen umhegen. Diese Tätigkeiten werden – auch von Arbeiterinnen, die ähnliche Arbeit in der Familie unbezahlt verrichten – kaum als wertvoll anerkannt. Nicht anerkannt werden aber auch die fachlichen Tätigkeiten der Sekretärin.

In Ritas Geschichte zeigt sich massiv geschlechtsspezifische Wirklichkeit, die sie jedoch keineswegs mit allen anderen Frauen im Seminar verbindet; genauso teilen nicht alle Teilnehmer die Wirklichkeit des Betriebsratsvorsitzenden, mit dem Rita im Streit liegt.

Im Seminar wurde ihre Wirklichkeit sichtbar: Sie erzählte ihre Geschichte, weil sie sich Ideen zur Lösung dieser Probleme erhoffte. Zum Gegenstand der Auseinanderset-zung wurde ihre Wirklichkeit jedoch nur am Rande: Die meisten Teilnehmer und Teilnehmerinnen waren an ihren Problemen nicht interessiert, und so setzte sich Ritas betriebliche Wirklichkeit im Seminar fort.

Unter den Teilnehmerinnen fand sie eine Verbündete, ebenfalls Angestellte. Zwi-schen diesen beiden und den beiden anderen Frauen – Arbeiterinnen, unter ihnen auch Elke –, die sich unter Einbeziehung einiger gleichaltriger Arbeiter ebenfalls verbündeten, entstand eine starke Abgrenzung. Die Wirklichkeiten der beiden Arbei-terinnen haben – soweit sie im Seminar relevant wurden – mehr mit den Männern gemein als mit den (weiblichen) Angestellten. Auch das Problem der Doppelbela-stung durch Erwerbs- und unbezahlte Arbeit verbindet sie nicht stark: Keine der Frauen hatte eine Familie zu versorgen (6). Sicherlich haben sie dennoch als Frauen Gemeinsames; etwa die Erfahrung oder latente Bedrohung durch sexuelle Belästi-gung, Einschränkung der Berufswahlmöglichkeiten, Mangel an Aufstiegschancen, Sexismus in der betrieblichen Interessenvertretung etc. – aber diesen Gemeinsam-keiten messen sie, soweit in dem Seminarzusammenhang erkennbar, für ihre Wirklichkeit unterschiedliche oder geringe Bedeutung bei.

Die Wirklichkeiten der Teilnehmer und der Teilnehmerinnen sind weder außerhalb des Seminars noch im Seminar bipolar nach Geschlecht voneinander zu scheiden. In dem Beispiel von Rita werden mehrere Trennlinien sichtbar, die quer dazu liegen: der betriebliche Status, Generation, Milieu und Habitus. Weitere Trennlinien sind etwa der Status in der Gewerkschaft und die Bildungserfahrung. Wollte man die Frage nach der Geschlechterwirklichkeit von diesen Kategorien trennen, bliebe sie abstrakt.

Damit unterscheiden sich auch die Wirklichkeiten der Geschlechter im Seminar;

Frauen machen unterschiedliche Diskriminierungserfahrungen, sie haben unter-schiedliche Chancen zu lernen. Einerseits relativiert sich damit die strukturierende Kraft der Kategorie Geschlecht, andererseits verlängert sie sich bis weit in andere Kategorien hinein, die ebenso abstrakt bleiben, wenn nicht nach ihren geschlechtli-chen Implikationen gefragt wird.

Ritas Wirklichkeit hat sehr viel weniger mit der hegemonialen Wirklichkeit im Seminar gemein als Elkes. „Also, es ist eben schwierig als Frau und Angestellte, in dieser Doppelfunktion. Als Arbeiterin wie Elke hast du es leichter. Du bist eine von ihnen“, sagt Rita im Interview über das Seminar. Dennoch ist es Rita und nicht Elke – die sich vielleicht eher von anderen Teilnehmern repäsentiert sieht –, die einen Platz findet, ihre Geschichte zu erzählen. Ritas eher für Angestellte typische Eloquenz, ihre Seminarerfahrung und ihr Bildungsstand waren hilfreich, sich der Hegemonisierung zu widersetzen. Gemeinsam ist ihnen und den beiden anderen Frauen jedoch, daß ihre Wirklichkeiten nicht zum Seminargegenstand wurden (7).