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Geographische Parameter für Nachhaltigkeit

Geographische Perspektiven

3 Entwicklung und Nachhaltigkeit in der Geographie

3.4 Nachhaltige Entwicklung aus geographischer Perspektive

3.4.5 Geographische Parameter für Nachhaltigkeit

Auf den Seite 72 und 99 wurde bereits auf die Schwierigkeiten bei der Formulierung von Indikatoren als konkrete Messgrößen für nachhaltige Entwicklung hingewiesen. Bedingt durch die kulturelle und ökologische Heterogenität im Raum lassen sie sich nur bedingt anwenden.

Nach einem Jahrzehnt um Bemühungen um verallgemeinerbare Nachhaltigkeitsindikatoren wer-den Forderungen nach der spezifischen Anpassung im jeweiligen regionalen Kontext laut.

In dieser Arbeit soll ein anderer Weg versucht werden. Ausgehend von der schematischen Ge-genüberstellung nachhaltiger traditioneller mit nicht nachhaltigen modernen Gesellschaften wur-den die räumlichen Konsequenzen der jeweiligen gesellschaftlichen Werte- und Wirtschaftssy-steme herausgearbeitet. Der konkrete geographische Raum kann gewissermaßen als „Spiegel“

für die gesellschaftliche Lebensweise bzw. für anthropogeographische Aktionssysteme dienen.

Geographische Phänomene weisen daher auf die Nachhaltigkeit einer Gesellschaftsform hin.

Sollten Defizite bestehen, können gesellschaftliche Regulationssysteme jeglicher Art systemisch über ihre Raumnutzungskonzeptionen reagieren.

Basierend auf diesen Überlegungen erfolgt die Ableitung von sieben allgemein übertragbaren geographischen Nachhaltigkeitsparametern (vgl. nachfolgende Ausführungen und Tabelle 6).

Unter Bezug der in Kapitel 2 geschilderten Ansätze und Konzepte werden ihnen Kriterien zuge-ordnet, um nachhaltige oder nicht nachhaltige Entwicklungstendenzen in ihrer dynamischen Raum-wirksamkeit zu bewerten. Als Eckpunkte für die Überprüfung von bestehenden und geplanten raumwirksamen Aktivitäten dienen sie als Hilfestellung bei der Interpretation von Datenerhebungen in einer problemorientierten Regionalanalyse, wie dies anhand der Fallstudie von zertifizierten Holzunternehmen in Amazonien gezeigt werden soll.

Bedingt durch den systemischen Ansatz hängen die hier vorgeschlagenen Determinanten von einander ab und/oder überschneiden sich. Eine endgültige Aussage über die Nachhaltigkeit einer Maßnahme lässt sich in der Regel erst formulieren, wenn die Wechselwirkungen mit den mit ihr in Beziehung stehenden anthropogeographischen Aktionssystemen bekannt sind (siehe dazu auch die Anmerkungen zum methodischen Vorgehen in Abschnitt 3.5).

Naturnähe von Nutzungssystemen

Dieser Parameter bezieht sich auf die Bewahrung der Biodiversität. Auswirkungen von anthro-pogenen Raumnutzungsformen können nach ihrem Charakter der Transformation beurteilt wer-den. Hierzu bietet sich die Bewertung der Flächenqualität im Hinblick auf ihre Naturnähe an, die GIEGRICH/STURM (1999) vorgelegt haben. Die Autoren entwickelten detaillierte Kriterien für die Klassifizierung von natürlichen Zuständen von Waldökosystemen bishin zur vollständigen Transformation in künstliche Landnutzungsformen.

Für die Festlegung von absoluten Kriterien stellt sich allerdings immer das Problem der Subjek-tivität und der unterschiedlichen Ausgangslage in verschiedenen Erdregionen, die kaum vergleichbar

sind. Daher kommen zur Abschätzung der nachhaltigen Entwicklung in dieser Arbeit nur Para-meter zum Einsatz, die unter Berücksichtigung der andauernden Veränderungen im geographi-schen Raum die „Entwicklungsrichtung“ bezüglich der Nachhaltigkeitsziele erlauben. Die Natur-nähe wird in die Klassen natürlich, naturnah, halbnatürlich und die nicht nachhaltigen Klassen naturfern und künstlich eingeteilt (vgl. Tabelle 6).

Reproduktionsfähigkeit von Mensch-Umweltsystemen

Entsprechend dem Nachhaltigkeitsaspekt bezüglich der Bewahrung der Regenerationsfähigkeit von Ökosystemen beschreibt dieser Parameter die dauerhafte Tragfähigkeit des jeweiligen Mensch-Umweltsystems. Ein anthropogeographisches Aktionssystem ist demnach nachhaltig, wenn die gesellschaftlichen Bedürfnisse „autosuffizient“ aus der jeweils zur Verfügung stehenden Fläche erfüllt werden können bzw. „dependent“, wenn andere geographische Objekt- und Aktions-systeme in Anspruch genommen werden müssen. Die Bedürfnisse sind in hohem Masse abhän-gig von gesellschaftlichen Grundwerten.

Ressourcen- und Flächenverbrauch

Der Parameter lenkt den Fokus auf die gesellschaftliche Dynamik der Ressourcen- und Flächen-beanspruchung. Dabei sind zwei Ursachen zu unterscheiden:

w Bevölkerungswachstum (Erhöhung des Ressourcen- und Flächenverbrauchs zur Erfüllung der Grundbedürfnisse bzw. Reproduktion notwendig)

w Wohlstandssteigerung durch individuelle Akkumulation, entweder direkt (Grund-besitz) oder indirekt (Verbrauch von Gütern).

Die Frage des Ressourcen- und Flächenverbrauchs knüpft an die Konzepte des Umweltraums und des ökologischen Fußstapfens (vgl. S. 64/69) an, die sich auf die Verteilungsgerechtigkeit der natürlichen Ressourcen und der Forderung nach einer materiellen Entkopplung des Wohlstands-gedankens beziehen. Damit sind die Fragen der Balance von Grundbedürfnisbefriedigung und Überkonsum bzw. die Suffizienz- und Effizienzrevolution (vgl. S. 68) und der Verteilungsaspekte (Nord-Süd bzw. arm-reich Differenzen) angesprochen. Der Verbrauch ist stabil, wenn sich Flächen- und Ressourcenansprüche auf einem gewissen Niveau einpendeln. Der Parameter ist nicht unbedingt mit einer autosuffizienten Reproduktionsfähigkeit gleichzusetzen. In grund-herrschaftlichen Systemen lebten beispielsweise die Herren auf Kosten der hörigen Bauern, die für ihren Wohlstand sorgten, sie waren also im Grunde genommen dependent von dem Aktions-system der Bauern, um ihre Reproduktion aufrecht zu erhalten. Der Verbrauch der Grundherr-schaften als Aktionssystem insgesamt pendelte sich allerdings auf einem gewissen Niveau ein.

Anders dagegen kapitalistische Industriebetriebe. Im Hinblick auf Umsatzsteigerung und Kapital-akkumulation haben sie einen extrem expansiven Charakter, der sich in steigendem Ressour-cen-und Flächenverbrauch bemerkbar macht.

Räumliche Organisationsstruktur

Wie über die Konzepte HÄGERSTRANDs verdeutlicht wird (vgl. S. 101), bestimmt die räum-liche Organisation des Raumes das individuelle Verhalten. Eine stark arbeitsteilige Gesellschaft führt zu einer Flächennutzung, die auf die jeweiligen Produktionsabläufe zugeschnitten ist. Es entsteht so ein Mosaik aus spezialisierten Flächennutzungen. Da die individuellen Grundbedürf-nisse dennoch im Tagesablauf der Individuen erfüllt werden müssen, kommt es zur Urbanisie-rung, d. h. die in räumlich getrennten Flächen produzierten Güter werden in Märkten, Einkaufs-zentren usw. zusammengeführt und gelangen so in die Reichweite der Individuen. Aus geographi-scher Sicht sind dezentrale und diversifizierte Flächennutzungen mit geringen Siedlungs-konzentrationen nachhaltiger als zentralisierte, stark spezialisierte, räumliche getrennte Flächen-nutzungen mit einer hohen Bevölkerungskonzentration in urbanen Räumen.

Verkehrsinfrastruktur

Die Tendenz der räumlichen Expansion der gesellschaftlichen Raumnutzung hängt von der Ver-fügbarkeit und dem Einsatz der Verkehrsinfrastruktur ab. Waren z. B. die Distanzen zwischen den Produktionsstätten, Marktplätzen und Wohnorten im Mittelalter noch stark von der fuß-läufigen Erreichbarkeit geprägt (siehe Siedlungsgründungen an der Bergstrasse/Odenwald im Abstand von 3-5 km), so erstrecken sich die Entfernungen heute über den gesamten Erdball.

Moderne Einkaufszentren z. B. werden mit Produkten aus aller Welt beliefert und können von Individuen fast nur mit motorisierten Verkehrsmitteln erreicht werden. Die Verkehrsinfrastruktur ist also eng an den Parameter der räumlichen Organisationsstruktur gekoppelt.

Die Nachhaltigkeit der Verkehrsinfrastruktur hängt von drei Parametern ab:

1. Distanzen: die Überwindung langer Distanzen ist meist mit höherem Energieauf-wand verbunden als bei kurzen Distanzen.

2. Material/Energieeinsatz der benutzten Verkehrsmittel kann von relativ gering bela-stenden, material- und energieextensiven Verkehrsmitteln wie Fahrrädern (in Städten von Entwicklungsländern oft Hauptverkehrsmittel) und Booten (Amazoni-en, Venedig) bishin zu stark material- und energieintensiven Automobilen und Flugzeugen rangieren.

3. Ausgestaltung der Verkehrsinfrastruktur: Es lassen sich nachhaltige natürliche und halbnatürliche Verkehrswege wie Flüsse und Fußwege, die schnell wieder von der Natur zurückerobert werden und nicht nachhaltige künstliche Strukturen wie Stra-ßen, Tunnel und Kanäle, die Eingriffe in natürliche Objektsysteme erfordern, unter-scheiden.

Umweltverschmutzung:

Schadstoffausstoß und Abfälle werden zwischen gering und hoch eingestuft. Geographisch relevant sind die jeweiligen Quellen (Emittenten) und die räumliche Verbreitung der Verschmut-zungen. Ferner verursachen lange Transportwege mit energieintensiven Verkehrsmitteln nicht nur Umweltbelastungen und Flächenverbrauch, sondern erfordern auch aufwendigere Verpackungs-materialien, die das Abfallproblem verschärfen. Insofern hängt Umweltverschmutzung nicht allein von Vermeidungs- und Recyclingtechnologien ab, sondern ist eng an verschiedene Parameter, wie z. B. dem Ressourcen- und Flächenverbrauch, der räumliche Organisationsstruktur und die Verkehrsinfrastrukturen gebunden, die raumplanerisch zu berücksichtigen sind.

Verteilungsgerechtigkeit

In anthropogeographischen Aktionssystemen hängt die soziale Ausgewogenheit bei der Ver-teilung von Gütern und dem Zugang zu Ressourcen und Flächen von der Organisation des Han-dels (Märkten), der gesellschaftlichen Instanzen und der räumlichen Struktur ab. Dem „Markt“

als Verteilungsmechanismus kommt sowohl in der politischen als auch in der wissenschaftlichen Debatte durch die Zweige der Umweltökonomie (vgl. S. 47 f) und der ökologischen Ökonomie (vgl. S. 51 f) die höchste Aufmerksamkeit zu. Wichtig ist zwischen verschiedenen Märkten und Marktformen zu unterscheiden, die vom einfachen direkten Austausch von Gütern und Dienst-leistungen bishin zu komplexen monetären Finanzaktionen und Aktienhandel in globalen Märkten reichen können. In letzteren steht nicht mehr der Wert eines Produktes oder einer Dienstleistung im Vordergrund, sondern die Einschätzung der Fähigkeit zur Kapitalakkumulation von bestimm-ten Marktakteuren, die letzbestimm-tendlich den Wert der Aktien und so das Pobestimm-tential zur weiteren Kapital-akkumulation bestimmen.

Die Verteilungsgerechtigkeit über Marktstrukturen hängt dabei von den jeweiligen gesellschaftli-chen Regulationssystemen ab. Über bestimmte Formen der Wirtschaftsförderung, sei es durch spezielle Vergünstigungen oder durch Schaffung von Infrastruktur-Maßnahmen, nehmen gesell-schaftliche Instanzen Einfluss. Zudem ist das gesellgesell-schaftliche Regulationssystem für die Befähi-gung der Individuen zur Teilhabe am Marktgeschehen verantwortlich, in dem es z. B. ein Mini-mum an Kaufkraft garantiert (Sozialhilfe) oder über Bildungsinitiativen allen Gesellschaftsmitgliedern Chancen ermöglicht, am Marktgeschehen als Akteure mitzuwirken. Es sind also letztendlich die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die über das „Wirken“ von Märkten im Hinblick auf Verteilungsgerechtigkeit entscheiden.

Gesellschaftliche Regelmechanismen wirken aber auch außerhalb von Märkten auf den Zugang von Flächen, Gütern und Dienstleistungen von Individuen ein. Neben den viel diskutierten öffent-lichen Gütern (Public Goods) können dies auch gewisse gemeinschaftliche Tätigkeiten und Nut-zungen zum Wohle aller sein. So ist es in vielen Gesellschaften üblich, dass Wohnstätten gemein-schaftlich errichtet oder Wege und öffentliche Plätze etc. kollektiv gebaut und gepflegt werden.

Quelle: Eigener Entwurf, 2002 (vgl. Erläuterungen im Text)

Tabelle 6: Beispiele für Parameter der Nachhaltigkeit geographischer Aktionssysteme In arbeitsteiligen Gesellschaften übernehmen spezielle Institutionen die öffentlichen Aufgaben, finanziert über Steuern und Abgaben der Individuen.

Mit dem Aufruf an alle gesellschaftlichen Akteure, an notwendigen Veränderungsprozessen zur nachhaltigen Entwicklung mitzuwirken, soll der Gemeinschaftssinn wieder gefördert werden.

Wichtig sind hierbei z. B. Initiativen zur Nachbarschaftshilfe und zum Austausch diverser Dienst-leistungen und Güter über Tauschringe.

Entscheidend für alle Regelmechanismen in Bezug auf die Verteilungsgerechtigkeit sind auch räum-liche Strukturen. Gerade in zentralisierten Organisationsformen sind Menschen im ländräum-lichen

Raum von vielen Dienstleistungen und Gütern ausgeschlossen. Raumstrukturelle Aspekte der Verteilungsgerechtigkeit werden in der Ökonomie stark vernachlässigt, obwohl z. B. gerade der globale Boom der Zentralisierung des Marktgeschehens in Shopping-Zentren einen Ausschluss-faktor für ärmere, nicht motorisierte Bevölkerungsschichten darstellt. Ähnliches gilt für zentrali-sierte Bildungs-, Verwaltungs-, Gesundheitseinrichtungen usw.