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Geographische Aspekte der gesamtgesellschaftlichen Lebensweise

Geographische Perspektiven

3 Entwicklung und Nachhaltigkeit in der Geographie

3.4 Nachhaltige Entwicklung aus geographischer Perspektive

3.4.2 Geographische Aspekte der gesamtgesellschaftlichen Lebensweise

Das Zusammenspiel gesellschaftlicher Institutionen und Akteure ist schon in der Regulations-theorie (vgl. S. 27 f) zur Beschreibung von Phasen der Industrialisierung im Hinblick auf den klassischen Entwicklungsbegriff herangezogen worden. Hierbei berücksichtigt sie nicht allein den Markt und den Staat, sondern auch die Organisationsformen der Arbeitskräfte, die allgemeinen soziokulturellen Einstellungsmuster der Gesellschaft und den Raum als maßgebliche Determinan-ten des Produktionsprozesses.

Die Regulationstheorie bezieht sich von ihrem Grundsatz auf die Struktur des Produktions- und Verteilungssystems von Industriegesellschaften, weniger auf den Naturraum. Diesbezüglich sind eigene Strömungen im Entstehen, wie die Industrieökologie (Industrial Ecology), die anstrebt,

das industrielle System in seinen Wechselwirkungen mit den ihr umgebenden Systemen zu sehen.

Der Ansatz soll hier beispielhaft herangezogen werden, um die Rolle der Geographie im Rahmen der Nachhaltigkeitsdiskussion näher zu bestimmen.

„Industrieökologie ist das Mittel, durch das die Menschheit überlegt und rational eine wünschenswerte Tragfähigkeit bei gegebener fortlaufender ökonomischer, kultureller und technologischer Evolution erreichen und aufrecht erhalten kann.“ (HILEMAN 1995, zit.

n. KLEIN 1996, S. 9243). Die wesentlichen Elemente sind dabei nach KLEIN (1996, S. 92/93):

1. Die systemische Betrachtungsweise in Analogie zu natürlichen Ökosystemen 2. Die Positionierung der Industrieökologie im Überschneidungsbereich von

Techno-logie und Umwelt bzw. von Sozial- und Naturwissenschaft

3. Der Lebenszyklus eines Produkts von der Herstellung der Materialien und der Ent-stehung über den Gebrauch bis hin zur Deponierung als Abfall bzw. der Wiederver-wertung der Materialien (von der „Wiege bis zur Bahre“)

4. Die stofflichen Transformationen und Flüsse innerhalb eines Systems

5. Die Zielsetzung auf die Reduzierung von Strömen auf ein für die Existenz des Sys-tems notwendiges Minimum als wesentliche Voraussetzung für die Lebensfähigkeit heutiger und zukünftiger menschlicher und natürlicher Ökosysteme.

Aus diesen Angaben wird der klare Bezug zu den Ansätzen der Ökologischen Ökonomie (vgl.

S. 51 f) und den Forderungen nach der Entmaterialisierung des Umweltverbrauchs (MIPS-Konzept, vgl. S. 68 f) deutlich. Hierbei werden Stoffströme nicht nur im quantitativen Sinne, sondern auch als Materialbewegungen im Raum aufgefasst. Die Industrieökologie ist also ein Ansatz, um das anthropogeographische Aktionssystem Industrie in ein Gleichgewicht mit den mit ihr in Wechselwirkungen befindlichen physischen Aktionssystemen zu bringen.

In Bezug auf das Verhalten der Unternehmer werden beabsichtigte wie unbeabsichtigte Aktivitä-ten und Folgen im gesellschaftlichen Kontext vor dem handlungstheoretischen Hintergrund ana-lysiert (zu handlungstheoretischen Perspektiven siehe SCHWEMMER 1987, WERLEN 1988 u. a.). Im Rahmen dieser Arbeit kann nicht vertieft auf die Handlungstheorie eingegangen wer-den. Entscheidend ist, dass Handlungen durch physische und soziale Komponenten wie Natur-gesetze und kulturelle Regeln (Regulationstheorie) und insbesondere auch räumliche Strukturen beeinflusst werden. Letztere sind Standortfaktoren, die sowohl physio- als auch anthropogeo-graphischer Natur sein können. Es sind aber gesellschaftliche Strukturen, die die räumliche Ent-wicklung u. a. über Standortfaktoren maßgeblich steuern, sei es z. B. formell durch staatliche

43 Eigene Übersetzung, Original: „Industrial ecology is the means by which humanity can deliberatly and rationally approach and maintain a desirable carrying capacity, give continued economic, cultural and technological evolution“

Infrastruktur-Maßnahmen, informell durch Absatzmärkte in bestimmten Zielgruppen der Bevöl-kerung oder der Mobilitätsbereitschaft der Arbeitnehmer etc. Individuen, im genannten Beispiel die Unternehmer, treffen ihrerseits Entscheidungen im Rahmen der von der Gesellschaft ermög-lichten Spiel- bzw. Freiräume.

Ebenso wie die räumlichen Bedingungen den Unternehmer und die Ausgestaltung seiner Firmen-struktur beeinflussen, bestimmt die räumliche Organisation in gewisser Weise die Lebensweise aller Mitglieder einer Gesellschaft. Die ‚gesamtgesellschaftliche Lebensweise‘ ist die:

...Form der Produktion, Konsumption, politischen Regulation und kulturellen Deu-tung der Verhältnisse von Individuen und Gesellschaft zur Natur. Die Lebensweise der modernen, kapitalistisch geprägten Gesellschaften der ersten Welt ist charakte-risiert durch hohen Stoff-, Produkt- und Energiedurchsatz, enorme und z. T. toxi-sche Emissionsmengen, durch Wachstums- und Konsumorientierung, durch weit-verbreitete Gleichsetzung von wirtschaftlichem Wachstum und individueller Ressourcenvermehrung mit Fortschritt, Wohlstand und Wohlbefinden. (REUSSWIG 1994, zit. n. BOGUN 1997, S. 213)

Aufbauend auf den Überlegungen HÄGERSTRANDs 1970 (zit. n. HARVEY 1989, S. 195 f) kann sich aus geographischer Sicht dem Problem der gesamtgesellschaftlichen Lebensweise an-genähert werden. Er bezieht sich auf Lebenswege in Raum und Zeit, die das Individuum und seine sozialen Transaktionen bestimmen. Die begrenzten raumzeitlichen Ressourcen und die ‚Rei-bung der Distanzen‘ (gemessen in der notwendigen Zeit und Aufwand, um diese zu überwinden) schränken den täglichen Aktionsradius ein. Es ist notwendig, Zeit zum Essen, Schlafen etc. zu finden. Sozialkontakte treffen immer auch auf Hemmnisse, die es erforderlich machen, das zwei oder mehrere Individuen Überschneidungspunkte in ihrer raumzeitlichen Lebenswegen finden, um eine soziale Transaktion durchführen zu können. Die Transaktionen sind an vorhandene geo-graphische ‚Stationen‘ gebunden, in denen bestimmte Tätigkeiten wie Arbeiten, Einkaufen, Bil-dung usw. stattfinden.

Es ist offensichtlich, dass die individuellen Lebenswege in verschiedenen Räumen und gesell-schaftlichen Organisationsformen völlig unterschiedlich ausfallen. In ruralen Räumen werden z.

B. die täglich benötigten Nahrungsmittel aus der unmittelbaren Umgebung des Wohnortes ge-wonnen, gleichzeitig ist die Nahrungsmittelproduktion persönlich an die täglich geleistete Arbeit gebunden. In urbanen Räumen moderner Gesellschaften haben viele Individuen keine direkte Verbindung zur Nahrungsmittelproduktion. Sie müssen an Stationen der Verteilung (z. B. in ei-nem Supermarkt) erworben werden. Hierfür ist eine Erwerbsarbeit notwendig, die meistens nichts mit der Nahrungsmittelproduktion zu tun hat.

Gemeinsam ist Individuen in allen Gesellschaften, dass der Tagesablauf so organisiert werden muss, dass alle notwendigen Grundfunktionen gesichert werden. Da aber die Arbeitsteilung in modernen Gesellschaften zu einer Expansion der räumlichen Basis der Gesellschaftsstruktur führte, sind einer individuellen nachhaltigen Lebensführung Grenzen gesetzt. Das Individuum ist zur

Si-cherung seiner Grunddaseinsfunktionen auf zahlreiche Vermittler (Händler) und spezialisierte Pro-duzenten bzw. Standorte, Transportwege etc. angewiesen, die heute über Netze globalen Aus-maßes agieren (z. B. brasilianisches Soja zur Schweinemast in Europa).

Die Forderung nach einer nachhaltigen Lebensführung in einer derart raumzeitlich gestalteten Gesellschaftsstruktur stellt Individuen vor nahezu nicht zu bewältigende Herausforderungen so-wohl im Hinblick auf Informationsbeschaffung als auch in Organisationsfragen, seien es Verbrau-cher oder Schlüsselpersonen wie Unternehmer, von denen ganze ‚Netze‘ abhängen. Individuen müssen sozusagen den ‚Lebensweg‘ eines jeden Produkts nicht nur im Herstellungsprozess, sondern auch über alle geographischen Wege bis zu seinem Ursprung zurückverfolgen und die ökologischen und sozialen Auswirkungen kennen.

Zudem sind viele ‚ökologisch korrekte‘ Produkte nur schwer im individuellen Netz alltäglicher Lebenswege zu finden, was bedeutet, dass das Individuum einen höheren Zeitaufwand und wei-tere räumliche Distanzen zu überwinden hat. Der ökologische Gewinn beim Kauf des Produkts wird durch ökologische Verluste bei der Beschaffung wieder aufgebraucht.

Die Ursachen für die oft beklagte Diskrepanz zwischen umweltpolitischem Anspruch und tat-sächlichem Verhalten von Individuen wird so aus der ‚gesellschaftlichen Lebensweise‘ heraus erklärbar. Hinzu kommt ein weiteres Hindernis, das auf den ‚ökologisch korrekten‘ Verbraucher zu kommt. Nicht nachhaltige Produktionsweisen sind unter den derzeitigen Regulationsformen moderner kapitalistischer Gesellschaften kostengünstiger. Insofern wird dem Verbraucher zuge-mutet, den höheren Preis für nachhaltigere Produktionsweisen zu bezahlen. Hier steht ein ethi-scher Anspruch vollkommen im Gegensatz zur Grundphilosophie der ökonomischen Basis der kapitalistischen Gesellschaftsform, die auf dem Prinzip der Maximierung des individuellen (öko-nomischen) Nutzens beruht.

Die Aufgabe der Geographie ist es nicht, alle Aspekte der Ursachen und Wirkungen zu analysie-ren, die die gesamtgesellschaftliche Lebensweise ausmachen. Wie bereits erwähnt, stellt aber die Struktur des genutzten Raums ein Abbild der gesamtgesellschaftlichen Lebensweise dar. Über räumliche Aspekte kann also der Stand der Nachhaltigkeit einer Gesellschaft überprüft und über die Raumentwicklungsplanung beeinflusst werden.

Dazu ist eine anzustrebende „Vision“ für die räumliche Organisation von Gesellschaften erforder-lich. Die Frage stellt sich nun nach den raumrelevanten Konsequenzen innerhalb des Entwick-lungsprozesses, die zur heutigen nicht nachhaltigen Situation führen.