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Funktionalität – Autonomie – Interpretation

Im Dokument Joseph Lanner (Seite 104-110)

„Im Ländler-Vortrage steht Lanner ganz eigenthümlich da, bizarr, hinreißend …“ 259

Tanzmusik ist funktional, doch instinktiv hatten Lanners Zeitgenossen begriffen, dass eine neue Ära ange-brochen war. Wurde eine Novität angekündigt, so hielt man ein, das Gespräch verstummte, andächtig hörte man der Uraufführung zu, um sodann zu den gleichen Klängen, die man gerade konzertant dargeboten bekommen hatte, zu tanzen. Niemals zuvor, und nirgendwo sonst prallten diese beiden Welten so unmittel-bar aufeinander: das physische Bedürfnis nach Rhythmus, nach Bewegung, und die ästhetische Sehnsucht nach Überhöhung, das Streben nach dem Wahren, Guten, Schönen. Tanz war immer mehr als nur Sport, war körperlicher Ausdruck von Emotionen, wurde angeregt durch die Musik und regte ihrerseits Musik an.

Tanzsuitesätze verselbständigten sich, das Menuett fand Eingang in die Sinfonie, lud ein zum bewussten Zuhören einer Musik, die bis dahin als stimulierend, aber nie als autonomes Kunstwerk rezipiert worden war.

Lanner verkörperte all das: er gab den Tanzenden ihre Tänze, er gab ihnen in der Musik Leidenschaft und Schmachten, prickelnde Erotik und keusche Zurückhaltung, Ekstase und Idylle. Mit jedem neuen Werk schuf er zugleich neue Ansprüche: dass ein Walzer in einer einzigen Nacht drei, vier, sogar zwölf Mal gespielt wurde, hatte nicht nur mit der ökonomischen Ausbeutung einer langen Veranstaltung, die mit Musik zu füllen es galt, zu tun, sondern mit jener inneren Notwendigkeit, die Mozart, Beethoven und noch Brahms das Wiederholungszeichen am Ende der Exposition setzen ließ: seht her, welch ein Reichtum, der sich nur durch mehrmaliges Spielen euch erschließen wird.

Äußere Zeichen gab es zuhauf: Lanner reduzierte die Anzahl der Walzerteile, schuf zum Ausgleich Fi-nali, welche Melodien von zuvor aufnahmen und aus dem unverbindlichen Hintereinander ein bezie-hungsreiches Gleichzeitiges machte. Thematische Arbeit blieb rudimentär, aber in der Disposition einer Gesamtanlage stand Lanner Beethoven in nichts nach: „Per aspera ad astra“ könnte über den meisten großen Walzerketten stehen. Kontrastierende Abschnitte erhalten die Spannung, unterstützt durch eine Instrumentierung, die sinfonische Klangwirkungen in einen dem Konzertanten abholden Raum ein-bringt: kein einziger seiner Walzer wurde in einem „Konzertsaal“ uraufgeführt, dennoch laden sie ein zu aufmerksamem und andächtigem Zuhören.

259 Theaterzeitung 25. 2. 1837.

Das Lancieren der Novität und ihre Präsentation wurde Vorbild von Generationen von Rock- und Pop-stars zweihundert Jahre danach. Man lässt eine Vorband spielen (Lanner war nie am Beginn der Tanz-veranstaltung persönlich bereits anwesend, seine Kapelle unter Leitung seines vertrauten Ersten Geigers Raab ließ das Publikum „warm“ werden), der Auftritt der Starband (diesfalls Lanners) wird zelebriert, zur Einstimmung spielt man vertrautes Repertoire, ehe auf dem Spannungshöhepunkt die Uraufführung erfolgt: Schlag Mitternacht (Geburt eines neues Tages), in tiefster „Finsternis“ (aus der heraus der neue Walzer zur Dämmerung des anbrechenden Morgens führen wird), zuvor in Bulletins breit angekündigt, spontan beklatscht und sofort in Herz und Beine geschlossen. Um vier Uhr Früh, nach der zehnten Wie-derholung, begrüßte man als alten Bekannten, was gestern noch ungeboren war.

Lanners ungeheure Popularität, seine Erfolge auf Werbegeschrei und Massenhysterie zu reduzieren, heißt übersehen, dass es für ihn wie für Johann Strauß Vater keinerlei Konzerttraditionen gab, auf denen sie aufbauen hätten können. Zeitungen konnten Stimmungslagen nur verstärken, Verlage hilfreich zur Seite stehen, ohne die Wirkung von Werk wie Interpret wäre Lanner einer unter Hunderten geblieben.

Rezensionen über diverse Werke, Reflexionen über Lanners Arbeit als geachteter Komponist und En-sembleleiter erschienen in Tagesabständen. Ein einzelner soll (gekürzt) hier zitiert werden, weil er 1841 – also über fünfzehn Jahre öffentliches Wirken überblickend – versucht, dem Phänomen Lanner aus unterschiedlichsten Blickwinkeln sich zu nähern:

„Alles was echt und wahrhaft populär zu werden verdient, wird es gewiß. So ist Lanners Muse auf un-glaublich schnelle und wirksame Weise ins Leben des Volkes gedrungen. Der Name des talentvollen Compositeurs, dem die Natur bei seinem Geburtstagsfeste eine Fülle der schmeichelndsten Melodien als Wiegenangebinde mitgegeben zu haben scheint, wird täglich verbreiteter, europäischer; der Walzer ist durch ihn zur Höhe eines selbständig interessanten Musikstückes emporgehoben, und veredelt worden.

Denn Lanner arbeitet nicht bloß für die Füsse; sein Zweck reicht weiter, als eine beschleunigte Blutcircu-lation im hüpfenden Rhythmus hervorzubringen; er hat den Tanz in seinem poetischen Kern aufgefasst, und, indem er seine sämmtlichen Leistungen nach diesem höheren Maßstabe entwarf, auch eine sehr werthvolle Bereicherung des Musikfaches erzielt. Man rechnet im Allgemeinen den Lannerschen Walzern ihre Melodie zum Vorzuge an. Ich glaube jedoch, daß man noch das Charakteristische derselben hinzu-rechnen müsse. Es ist nicht eine unbestimmte Weichheit flüchtig entschwindender Tongebilde, welche uns darin entzückt; sondern das ewig holde Princip der Zärtlichkeit, das kosend und neckend, wie ein Engelhaupt, hinter diesen Dreiviertelthaktecken hervorguckt … Nun denke man sich eine Bevölkerung wie die von Wien, lebenslustig, munter, gewissermaßen alle Poren ihres Wesens dem Einzug der Freude öffnend. Ist es nicht natürlich, daß ein Zauberer, wie Lanner, welcher den Wiener so durch und durch kennt, und in den Eigenthümlichkeiten seiner Lebenslust approsondirt hat, eine unglaubliche Wirkung auf denselben hervorbringt? Ein Talent kann oft jahrelang, mühsam, ohne Frucht und Lohn arbeiten, wenn es keine Sympathien zu erregen weis … Das Volk liebt in der Kunst die Notabilitäten nicht, welche in den Etagen einer höheren Bildung über seinen Köpfen herum gehen, und nie unter seine Scharen sich mengen, zu seiner Fassungskraft, und zu dem Niveau seiner geistigen Bedürfnisse niemals sich herablas-sen. Desto enthusiastischer feiert und ehrt es jene auserwählten Lieblinge, welche verständlich zu seinem Sinne und Herzen reden, seine poetischen Instinkte mächtig aufregen, und in Formen sich bewegen, welche seinem Geschmacke am liebsten zusagen … Lanner ist so eine Erscheinung … Es ist interessant zu sehen, mit welch lebhafter Theilnahme sein Wirken allenthalben, wo er öffentlich auftritt, gefeiert wird, wie man sich in seine Nähe drängt, um an der Quelle seiner bezaubernden Töne zu stehen, wie schallend … die Bravos im Saale herumfliegen …, wenn seine Geige den ersten Ton angibt … Man halte diesen Ausspruch für keine Lobhudelei … Es ist nur verdientes Lob, und jenes Maß von Gerechtigkeit, welches dem genialen Componisten mit Rechte gebührt. Gold bleibt ewig Gold.“260

260 Theaterzeitung 17. 5. 1841.

Lanners bleibendes Verdienst war, den „ … Walzer … zur Höhe eines selbständig interessanten Musik-stückes emporgehoben … “ zu haben (siehe oben). Diesen Befund finden wir schon Jahre zuvor: „ … der [gemeint ist Johann Strauß Vater, Anm. d. V.] mit Lanner einen neuen Geist in die Tanz-Compositionen hauchte und ein sonst gering geschätztes Genre zu Ehren brachte.“261 Über Lanner hieß es nahezu gleich-lautend: „Er [Lanner] war es, der zuerst in [sic] dieser früher so untergeordneten Gattung poetische Be-deutsamkeit, und somit einen höheren Standpunct verlieh.“262

Wie immer man das „Charakteristische“ fassen will, das den Walzer auszeichnete (und nicht nur diesen, aber bei ihm kommen Lanners und Strauß’ Qualitäten am deutlichsten zum Ausdruck), es sicherte ihm sein Überleben abseits der Ballsäle und Faschingsredouten. Die Sorgfalt, mit der Gesamtanlage, thema-tische Arbeit und Orchesterbehandlung bedacht wurden, hob sich nicht nur von der Massenware der Zeitgenossen ab, sondern überholte selbst Opern und Sinfonien des frühen 19. Jahrhunderts. Lanner und Strauß wussten um die Grenzen ihrer Möglichkeiten – Ausflüge ins Theater hatten ihnen beiden nicht gut getan –, dafür ernteten sie Anerkennung auf ihrem ureigensten Gebiet. „ … dies weist ihm [gemeint ist Strauß, doch das Gesagte gilt sinngemäß auch für Lanner, Anm. d. V.] auch im Kreise der Kunst eine Stelle an, und zwar um so mehr, als er sich immer in den Grenzen seiner Sphäre haltend, niemals in die Gerechtsfame höherer Gattungen anmaßliche Eingriffe that, somit an dem jetzigen Verfalle der Kunst keinen Antheil hat. In einer Zeit, wo die Oper einerseits ein prahlhaft, aufgedunsenes, hohläugiges Nichts, andererseits einen ungenießbaren Wirrwarr geschraubter Combinationen bietet, durch die man uns glauben machen will, daß Abwesenheit und Bannung aller Melodie dramatischer Charakter sey, wo die Symphonie die äußerer Gliederung und den Figurenbau des großen Todten [gemeint ist Beethoven, Anm. d. Verf.] plündernd, winzige Gedanken mit behaglicher Breite und geleckten, zerflossenen Farben pinselt, wo die meisten Arten der Kammermusik sich die Imbecillität des Salongeschwätzes mundbar ge-macht haben, wo man im strengen Satze sich nicht schämt, die Tändeleien der modernen Oper anklingen zu lassen, in einer solchen Zeit müsste es eine neue, überraschende, vom nachhallenden Jubel der prosa-ischen Menge begrüßte Wirkung seyn, wenn die gesammte Musik in einen Rinnsaal tänzelnder Weisen geleitet, jeder Zweig derselben mit Walzerfirniß lackiert würde, wenn die Welt der Töne in einen großen Hopstanz zusammenschrumpfte.“263

Dennoch wäre es ungerecht, Lanner lediglich als geschickten Lückenfüller zu sehen. Wie Haydn, konnte er jahrelang mit einem eingeschworenen Ensemble ausprobieren, anders als jener musste er sich tagtäglich vor einem kritischen und volatilen Publikum bewähren. Das Ausloten von Grenzen, die Variation des Vorhandenen ist zu einem guten Teil dem Zwang geschuldet, permanent innerhalb eines enggefassten Genres Routine oder gar Langeweile nicht aufkommen lassen zu dürfen. Wie viel an Anregung Lanner von seinen engsten Mitstreitern in gemeinsamem Musizieren erfahren hat, lässt sich nicht abmessen. Er war gut beraten, wenn er dafür aufnahmefähig war.

Lanner stand an der Schwelle zu einer neuen Zeit, in der der Interpret gleichberechtigt neben den Kom-ponisten trat. Am Ende des 19. Jahrhunderts wird jener diesen überholt haben. Mozart erschuf als Pianist seine Klavierkonzerte im Moment des Spiels, der Dirigent Beethoven konnte seinen eigenen Werken mehr schaden als nützen. Post mortem erhielt der Sinfoniker Schubert den Rang, der ihm heute neidlos zugestanden wird. Über Rezensionen wird noch zu sprechen sein, vorweg sei festgehalten, dass der Inter-pret Lanner einen mindestens so großen, wenn nicht den überragenden Anteil am Erfolg des Komponis-ten Lanner hatte.

Interpretation – als Brücke zwischen den Intentionen des Komponisten und der Aufnahme durch den Zuhörer – scheint einer wissenschaftlichen Betrachtung sich weitestgehend zu sperren. Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts war die Personalunion Komponist - Interpret eine so selbstverständliche, dass Aspekte der

261 Theaterzeitung 31. 10. 1834.

262 Theaterzeitung 22. 8. 1839.

263 Theaterzeitung 27. 6. 1839.

Wiedergabe nicht reflektiert werden mussten. Mit dem Aufkommen des autonomen Kunstwerks wurden Fragen der Interpretation verstärkt gestellt: Sulzers Forderung nach vollkommener Darstellung des Cha-rakters und Ausdrucks des Stückes konnte nur von Musikern erfüllt werden, welche auf höchstem Niveau Diener am Werk und gestaltungswillig-selbstbewußte Herren (in seltenen Fällen Damen) zugleich waren.

„Der wackere Lanner ließ seine Wundergeige tönen …“264, so und ähnlich wird Lanners Wirkung beim Publikum beschrieben. „Man muss sie hören und von ihm hören, wenn man den Enthusiasmus der Wiener begreifen will“265, hatte es einen Monat zuvor über die Uraufführung der „Amoretten-Tänze“

geheißen (gemeint sind die „Amoretten-Walzer“ op. 53).

Ob die Fama stimmt, Lanner hätte eine Stradivari-Geige aus 1724 besessen, welche seiner Tochter Katha-rina später während einer Russland-Tournee gestohlen wurde, lässt sich nicht mehr verifizieren.266 Gesi-chert ist der Besitznachweis für ein Instrument von Franz Geissenhof aus 1817.267 Lanners Fertigkeit als Violinspieler wurde bereits mehrfach erwähnt („ … durch die schnellwechselnden pikanten Stricharten, die er als geistige Nuancirung seines Spiels meisterhaft anzubringen weis.“268, „ … wo seine Leichtigkeit und Sicherheit, mit welcher er über die schwierigsten Passagen hinweggleitet, der reine Strich und das Gefühl, mit dem er derlei schwierige Piecen vorträgt, allgemeine Bewunderung erregen.“269), sein Spiel war aber nie Selbstzweck: „Wenn seine einschmeichelnden Zaubertöne bald wie zartes Liebesgeflüster erklingen, bald wie die Flügel der Windsbraut dahinstürmen, dann zertheilt sich der Nebelvorhang des düsteren Gemüthes, und ein Himmel voll Geigen lacht dem Horchenden entgegen.“270 Gleich Orpheus, der mit seinem betörenden Geigengesang Cerberus und die Furien zu besänftigen wusste, zog Lanner das Publikum in seinen Bann. Als Komponist schrieb er sich die Partien auf den Leib, als Interpret setzte er sie adäquat um. Dem Klavier gegenüber nutzte er alle klanglichen Vorteile der Geige wie des Orchesters, reizte die Bandbreite von Emotionen aus, ohne in billigen Kitsch zu verfallen. Er traf den Tonfall, der der Stimmung seiner Zuhörerschaft entsprach, mischte Heiterkeit mit Melancholie, hellte trübe Winteraben-de auf, begleitete Winteraben-den selbst bei strahlendstem Sonnenschein Misanthropen. „ … wo seine gemüthlichen, zum Tanze lockenden Melodien ertönen, da schwindet der böse Gast Mißmuth und glättet die vom Kummer gefurchte Stirn des mal-content.“271

Beklagt wird häufig, dass es für klassische und frühromantische Musik keine durchgehende Auffüh-rungstradition gäbe. Die Tanzmusik seit Lanners Zeit kann stolz darauf verweisen. Weit mehr als in Sinfonien und Opern ist der Interpret bei Lanner und Strauß gefordert: die vielfältigen Tempomodifi-kationen, das augenzwinkernde „Als ob“, das für den richtigen Vortrag charakteristisch und unerlässlich ist, das sich nicht notieren und nie erklären, sondern nur ausprobieren, spielen und spüren lässt (und da-mit regelmäßig zum Gegenstand heftiger Auseinandersetzungen um die „Richtigkeit“ der Interpretation wird), bilden nicht nur Teil der Komposition, sondern sind dessen Voraussetzung. Wie Gustav Mahler schuf Lanner kleine Kosmen, die Freude und Trauer, Werden und Vergehen, Simplizität und Komplexität der Welt auf kleinstem Raum zu versammeln wissen. „Seine [Lanners] Walzer sprechen in musikalisch-allegorischer Weise von dem Wohl und Weh‘ der ersten Liebe, vom Herzklopfen, von Treulosigkeit und Aussöhnung; seine Walzer schildern in elegischen Tönen einen ganzen modernen Roman. Man möchte dabei bald vor Lust vergehen, wenn man nicht wüsste, daß alles nur – Musik sei.“272 Wie Schubert, der in seinen Liederzyklen Lebensbilder von der Wiege bis zur Bahre skizzierte, stellte Lanner die einzelnen Walzerteile unter die übergeordnete Idee, in nicht ganz zwölf Minuten ganze Dramen an uns vorüber-ziehen zu lassen.

269 Der Wanderer 22. 8. 1840.

270 Theaterzeitung 24. 10. 1833.

271 Der Wanderer 5. 2. 1841.

272 Der Wanderer 6. 3. 1841.

Musik ist Dialog. Mozart wäre zutiefst beleidigt gewesen, hätten seine Zuhörer nicht zwischen den Sätzen geklatscht. Beethoven dürfte nur scheinbar unempfindlich für Publikumsreaktionen gewesen sein (zu-mindest im Moment der Aufführung), seine Briefe sprechen eine andere Sprache und lassen seine Sehn-sucht nach unmittelbarer Anerkennung durchklingen. Das ritualisierte passive Hören im Konzertsaal existierte am Beginn des 19. Jahrhunderts noch lange nicht, das Abstellen des störenden Geschwätzes während der Darbietung wurde erkauft mit Verlust an Spontaneität und Anteilnahme.

Dem Interpreten steht das Publikum nie einfach als Masse gegenüber, sondern immer als Summe der anwesenden Individuen. Der Sänger, der Geiger, der Kontakt mit seiner Zuhörerschaft sucht, der den Funken über die Rampe springen lassen will, blickt in Einzelgesichter, selbst dort, wo die Bühne weit entfernt von den ersten Sesselreihen ist und das Scheinwerferlicht blendet. Kein Künstler kann unberührt bleiben, wenn Ablehnung oder – schlimmer noch – Gleichgültigkeit ihm entgegen schlägt, knisternde Spannung hingegen ihn zu Höchstleistungen anspornt, die zu erbringen er sich in seinen kühnsten Träu-men nicht hätte vorstellen können.

Zuvor Gesagtes gilt nicht nur für den Konzertdirigenten Lanner, weit mehr noch für ihn als den Leiter seiner Tanzkapelle, für den Interpreten seiner Walzer und Galoppe. Das Orchester weit über dem Tanz-boden aufzustellen, erwies sich bei Lanner als nicht ratsam: man wollte ihn nicht nur sehen, ja nicht einmal nur hören, man wollte seine physische Präsenz, seine Ausstrahlung spüren. Lanners Wirkung vor allem auf seine weiblichen Zuhörer war enorm. „Die Damen saßen in schweigsamer, beobachtender Hin-gegossenheit, schienen ganz in Gefühlsauflösung begriffen gewesen zu seyn, denn Lanner ist ein Liebling der Frauenwelt nicht minder, wie der fashionablen Männerwelt.“273 Sie entbehrte durchaus nicht einer gewissen erotischen Komponente („… sich schon in die Herzen so vieler Schönen schlich …“274). Aus der Wechselbeziehung Mann-Frau, die jeden Paartanz prägt, wurde eine – unausgesprochene – Dreiecksbe-ziehung. Bei jeder Walzerdrehung drehte sich nicht nur Lanners Musik, drehten sich nicht nur seine Ideen mit, sondern gleichsam er selbst wurde zum unsichtbaren, dafür aber umso präsenteren Tanzpartner.

Diese tiefgehende Wirkung seiner Musik – tiefgehend buchstäblich, weil nicht im Adornoschen Sinne reflektiert, sondern direkt einwirkend vom Scheitel bis in die Zehenspitzen hinein – machte Lanners Geheimnis aus, das sich formal-analytischer Betrachtung weitestgehend verschließt.

Virtuosentum

„Der ‚Virtuose‘ ist heutzutage stark in Misskredit.“

(Julius Kapp, Paganini) 275

Der Wiener begegnet dem Virtuosen mit Skepsis. Er traut ihm nicht, hält seine Kunststücke für Talmi.

Seine größten Erfolge erzielte Nestroy mit Parodien, in denen er Übermenschliches, Unfassbares herunter brach auf die Vorstellungswelt der kleinen Leute aus der Vorstadt. Wie die Griechen höchst intimen Um-gang mit ihren Göttern pflegten, so lädt der Wiener seinen Herrgott (und, wenn es dienlich scheint, auch den Teufel) auf ein Glas Wein ein zum Heurigen und reduziert ihn, die „Reblaus“ auf den Lippen, bis zur Erträglichkeit.

In der Beurteilung des „Virtuosentums“ überwiegt in der Musikwissenschaft Vorsicht: Riemann be-lässt es bei einem eher allgemein gehaltenen „Meister der Technik“, zählt die wichtigsten Perioden auf, ohne sich auf Wertungen einzulassen.276 H. Loos erwähnt durchaus die negativen Begleiterscheinun-gen (inklusive Schumanns „Virtuosengeklimper“), sieht in Paganini und Liszt aber einen „glänzenden

273 Der Wanderer 6. 3. 1841.

274 Der Wanderer 22. 8. 1840.

275 Julius Kapp, Paganini, Berlin 1913.

276 Riemann, a.a.O. Artikel „Virtuose“ S. 1203, Spalte 1.

Höhepunkt“, die beiden hätten „noch einmal das Ideal des ausübenden und schöpferischen Künstlers“

verkörpert.277

Das Gesangsvirtuosentum der italienischen Oper des 18. Jahrhunderts war zum Selbstzweck verkommen, gegen den Gluck engagiert ankämpfte. In den Rossinischen, Bellinischen und Donizettischen Opern feierten Koloratur und Spitzentöne letzte Triumphe, vom Wiener Publikum begeistert beklatscht, wäh-rend Beethoven dieser Art Oper nur Unverständnis und Verachtung entgegenbrachte. Lanners zahlreiche Bearbeitungen der italienischen Novitäten sind Spiegel des Enthusiasmus, mit denen die Wiener Erstauf-führungen aufgenommen wurden.

Instrumentales Virtuosentum zeigte sich in unterschiedlichsten Facetten: das durch Europa ziehende Wunderkind, möglichst jung (und hübsch ausstaffiert) hinterließ Spuren bis weit in das 19. Jahrhundert, das Publikumsinteresse erlahmte rasch. Geiger wie Tartini hatten immerhin der Entwicklung der Technik bedeutende Dienste erwiesen, die sich fruchtbar auch in Kompositionen niederschlugen. Liszt tat Glei-ches für das Klavier.

Die negativen Auswüchse ergaben sich in erster Linie durch das Auftrittsverhalten und die rund um die Konzerte angesiedelten Reklame- und Verwertungsgeschäfte.278 Dass Paganini und Liszt ihre Instrumente perfekt beherrschten, hätte lange nicht ausgereicht, um das Publikum über einen längeren Zeitraum zu fesseln. Paganinis Konzertreisen quer durch Europa (seine Karriere dauerte nur wenige Jahre) wurden von der Presse aufmerksam beobachtet, jede noch so kleine Begebenheit (und sei es nur der Verlust einer Geldbörse) war den Journalisten einen Artikel wert.

1828 gab Paganini eine Reihe von Konzerten in Wien, welche nachhaltig Spuren bei Publikum, Rezen-senten, vor allem aber auch bei allen im weiteren Umkreis mit Musik Beschäftigten hinterließ. Nicht von ungefähr hatte Paganini Wien als erste Stadt außerhalb Italiens für Gastspiele auserkoren – und nicht zufällig blieb es bei diesem Einzelereignis. Insgesamt vierzehn Konzerte spielte er zwischen März und Juli im Redoutensaal, im Burgtheater und im Kärntnerthortheater. Sein Spiel erregte Bewunde-rung, die ganze Stadt war angesteckt von einer Hysterie, die bis ins Alltagsleben hineinreichte, aus Alltagsgegenständen Devotionalien „à la Paganini“ machte und aus Paganini selbst mehr Teufel als Mensch. Seine technischen Fähigkeiten waren unbestritten, seine künstlerischen hingegen umso mehr.

Zwischen Furcht und Belustigung schwankten die Wiener in ihren Reaktionen, den romantischen

Zwischen Furcht und Belustigung schwankten die Wiener in ihren Reaktionen, den romantischen

Im Dokument Joseph Lanner (Seite 104-110)