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Forschungsinteresse und Fragestellung der Untersuchung

1 Einleitung

1.3 Forschungsinteresse und Fragestellung der Untersuchung

1.3.1 Grundlagen der Untersuchung

Patientenbeteiligung und Bürgerbeteiligung im Gesundheitswesen stehen im Mittelpunkt der Untersuchung dieser Arbeit – Patientenbeteiligung, weil es dort zunächst um den Kranken, den Patienten im engeren Sinne geht, und Bürgerbeteiligung deshalb, weil dieser Patient hier vor allem als Bürger mit besonderen Rechten betrachtet werden soll: Bürger sind potentielle Patienten, Patienten sind immer auch Bürger.64 Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Beteiligung von „Patienten“ (als Kranke) eine partikularistische Perspektive auf das Gesundheitswesen unterstreicht, während die Beteiligung von „Bürgern“ einen universalistischen Blickwinkel impliziert. Patienten- und Bürgerbeteiligung, d.h. zwei Rollenaspekte zugleich werden aber auch deshalb thematisiert, um die unterschiedlichen Schwerpunkte von Beteiligung, ihrer Formen und Ziele, in verschiedenen Gesundheitssystemen aufzeigen zu können. Das ist auch der Grund, weshalb hier Patienten und Bürger sowohl als Gruppe als auch als einzelne Individuen betrachtet werden. Dazu mehr bei der Vorstellung der forschungsleitenden Annahmen.

Beteiligung wird daher für diese Arbeit umfassend verstanden als individuelle und kollektive Einflussnahme bzw. Einwirkung von Patienten und Bürgern auf Entscheidungs- und Handlungsprozesse in der Krankenversorgung und in der Gesundheitspolitik, z.B. auf den Umfang und die Ausgestaltung der medizinischen Leistungen. Beteiligt werden soll(t)en Patienten und Bürger vor allem an Allokationsentscheidungen. Beteiligung kann ermöglicht werden als indirekte Beteiligung (repräsentative Beteiligung über Wahlen), direkte Beteiligung (Verfahrens-, Beratungs- und Entscheidungsbeteiligung), als Umfragebeteiligung, oder über Auswahl- und Abwanderungsmöglichkeiten (choice und exit).

Entscheidungsprozesse in der Gesundheitspolitik und Handlungsprozesse in der Krankenversorgung betreffen zum einen strukturierte, politische und administrative65 Verfahren der Politikformulierung und Entscheidungsfindung wie auch der Implementation

64 Francke/Hart 2001, S. 30.

65 Im weitesten Sinne – darunter fallen auch Entscheidungen der Sozialversicherung.

von Entscheidungen und zum anderen medizinisch beeinflusstes Entscheiden und Handeln in der konkreten Versorgungssituation.

1.3.2 Verortung der Untersuchung

Patienten- und Bürgerbeteiligung bewirkt eine Stärkung der Position von Patienten und Bürgern als eigenständige Akteure und in Beziehung zu anderen Akteuren im Gesundheitswesen. Beteiligung ist – zumindest in den in dieser Arbeit zu untersuchenden Ländern – nicht von Patienten und Bürgern errungen oder erkämpft worden, sondern sie wird politisch gewährt. Beteiligung bildet somit ein politisches Programm (und zugleich ein staatliches Steuerungsinstrument im Politikfeld Gesundheit). Fragen nach den Umsetzungs- bzw. Ausdrucksformen und den politischen Zielen von Beteiligung betreffen die Inhalte des Beteiligungsprogramms – insofern geht es in dieser Arbeit um Policy-Aspekte. Beteiligung vollzieht sich in institutionalisierten Entscheidungsprozessen, weshalb sich das Augenmerk der Untersuchung auf Strukturen solcher Prozesse richtet – insofern werden in dieser Arbeit auch Polity- und Politics-Aspekte angesprochen. Verglichen werden in verschiedenen Gesundheitssystemen Beteiligungsprogramme und solche Strukturen von Entscheidungsprozessen, in denen Beteiligung verankert geplant und realisiert wird. Damit ist wiederum eine Makroperspektive auf System- bzw. systemische Zusammenhänge verbunden.

1.3.3 Forschungsleitende Annahmen und Fragestellung

Untersucht werden in dieser Arbeit die in Gesundheitssystemen verschiedener Länder in der Umsetzung befindlichen politisch-administrativen Programme von Patienten- und Bürgerbeteiligung. Von Interesse sind dabei insbesondere Fragen nach der Art und Weise von Beteiligung und nach ihren Zielen – im Kontext von spezifischen institutionellen Strukturen im Gesundheitswesen bzw. Akteurskonstellationen in der Gesundheitspolitik. Das heißt: In welcher Weise können Patienten und Bürger infolge solcher Beteiligungsprogramme Einfluss auf für sie relevante Entscheidungen im Gesundheitswesen ausüben, wie sind sie in Entscheidungsprozesse eingebunden? Und: Welche Ziele verfolgen die gesundheitspolitischen Akteure (bzw. der Staat) mit der Einführung oder Erweiterung von Beteiligung, wozu soll Beteiligung dienen? Die Frage nach den politischen Zielen von Beteiligung wird dabei in erster Linie unmittelbar gegenstandsbezogen und programmatisch (Beteiligungszweck) verstanden, auch wenn Akteurs und Polititikpolitikfeld bezogene bzw.

steuerungspolitische Absichten nicht außer acht gelassen werden sollen.

Zur Beantwortung dieser Fragen können zunächst einige Grundannahmen gemacht werden, und zwar bezüglich:

• eines Zusammenhangs zwischen Formen und Zielen von Beteiligung: Es wird vermutet, dass mit der Einbindung von Patienten und Bürgern unterschiedliche gesundheitspolitische Ziele und Strategien verfolgt werden, das heißt, dass verschiedene Einbindungsformen von Patienten und Bürgern unterschiedliche Funktionen erfüllen sollen.

• eines Zusammenhangs zwischen Formen und Zielen von Beteiligung und Systemstrukturen: Es ist außerdem davon auszugehen, dass Formen und Ziele von Patienten- und Bürgereinbindung im Gesundheitswesen von dessen institutionellen Strukturen bzw. institutionalisierten Akteurskonstellationen, von Leitprinzipien des Sicherungssystems und der Gesundheitspolitik abhängen.

Anknüpfend an diese Grundannahmen und über sie werden in dieser Arbeit folgende Thesen untersucht:

• Gesundheitssystemspezifische Beteiligungsstrukturen: Es gibt Vermutungen, dass bestimmte Finanzierungsmodelle und durch diese geprägte Gesundheitssysteme verknüpft seien mit bestimmten Rollenperspektiven und der Betonung bestimmter Rollenaspekte von Patienten und Bürgern, mit vorherrschenden Verantwortlichkeiten und Schwerpunktebenen der Patienten- bzw. Bürgereinbindung.66 „Makrofundierten“

öffentlichen Gesundheitsdiensten, die die kollektive Einbindung der Patienten und Bürger in Entscheidungen auf Meso- und Makroebene herausstellten, stünden dann

„mikrofundierte“ Sozialversicherungssysteme gegenüber, in der die Wahl des Leistungserbringers und die Einbindung des einzelnen Patienten in ärztliche Therapieentscheidungen eine überragende Rolle spiele. Erstere verfolgten zudem einen universalistischen, gemeinwohlorientierten Ansatz der Bürgerbeteiligung, letztere dagegen einen partikularistischen, auf spezifische Interessen, z.B. Krankheiten, bezogenen Ansatz. Ob diese Überlegungen tatsächlich so zutreffen, bleibt zu prüfen.

• Gesundheitssystemspezifische Beteiligungsziele bzw. Beteiligungsfunktionen: Auf den ersten Blick offenbaren sich zwei Ziele bzw. Funktionen von Beteiligung, wobei Mischformen möglich sind.67 So begegnen sich die Ziele einer demokratischen Durchdringung des Gesundheitssystems und einer Verbesserung der Funktionalität (Wirksamkeit, Qualität, Wirtschaftlichkeit) des Versorgungssystems und der Gesundheitsversorgung; oder anders formuliert: ein ideelles oder auch finales Ziel steht einem eher technischen bzw. instrumentellen Ziel von Beteiligung gegenüber. Dahinter

66 Vgl. Vienonen 2000, S. 61.

sind Vorstellungen zu vermuten wie die, dass Betroffene um ihrer selbst willen oder im Hinblick auf eine Erhaltung oder Verbesserung des Systems eingebunden werden können, aber auch, dass sie effektiv oder nur scheinbar beteiligt werden können bzw. sollen. Dem oben erörterten Muster entsprechend ist zu vermuten, dass öffentliche Gesundheitssysteme eher normative Ziele von Beteiligung und Sozialversicherungssysteme funktionale Beteiligungsziele verfolgen. Es bleibt zu prüfen, ob Beteiligung der Demokratisierung oder der Funktionalitätsverbesserung des Gesundheitswesens dient, oder ob mit Beteiligung eine spezifische Kombination dieser beiden Aspekte verfolgt wird.

Zur empirischen Prüfung dieser Thesen werden Beteiligungsmuster aus systemvergleichender Perspektive heraus betrachtet. Dabei ist nach gesundheitssystemspezifischen Formen und Zielen von Patienten- und Bürgereinbindung zu fragen.

Die offene Fragestellung, die die Arbeit zu beantworten versucht, kann schließlich wie folgt formuliert werden: Gibt es – bis zur und seit der Erweiterung von Einflussmöglichkeiten in den letzten Jahren – systemspezifische Formen68 und Ziele69 von Patienten- und Bürgereinbindung und -einwirkung in unterschiedlichen Gesundheitssystemen, d.h. in unterschiedlichen Versorgungs- und Entscheidungsstrukturen im Gesundheitswesen?

1.3.4 Operationalisierung der Fragestellung

Die Frage nach Formen, Zielen und Funktionen von Patienten- und Bürgerbeteiligung in unterschiedlichen Gesundheitssystemen lässt sich wie folgt ausdifferenzieren:

- Was zeichnet die unterschiedlichen Gesundheitssysteme systemspezifisch aus?

- Welche Formen von Patienten- und Bürgereinbindung gab es bis in die 1990er Jahre und gibt es heute in den verschiedenen Gesundheitssystemen?

- Sind diese Beteiligungsformen systemtypisch oder systemübergreifend, das heißt, sind sie durch die systemspezifischen Versorgungs- und Entscheidungsstrukturen bedingt oder vielmehr typisch für jegliches Gesundheitssystem?

- In welcher Position befanden sich bis in die 1990er Jahre und befinden sich heute Patienten und Bürger in den verschiedenen Gesundheitssystemen? Welche Rolle wird ihnen zugedacht?

67 Vgl. Mosebach 2005, der zwischen einer demokratischen und einer ökonomischen Achse unterscheidet.

68 Gemeint sind: individuelle und kollektive, indirekte und direkte Arten der Patienten- und Bürgereinbindung;

Voice, Choice und Exit-Formen.

69 Das sind: Kombinationen von Demokratisierungs- und Funktionalitätsabsichten.

- Ist ihre Position bzw. Positionszuschreibung systemtypisch oder systemübergreifend anzutreffen?

- Mit welchen Zielen und Begründungen verfolgen die Gesundheitspolitiker stärkere Patienten- und Bürgereinbindung (seit den 1990er Jahren)? Welche konzeptionellen Vorstellungen und strategischen Absichten sind hinter der Stärkung oder auch Vernachlässigung von Patienten- und Bürgerbeteiligung erkennbar?

- Sind Ziele, Begründungen und Funktionen von Beteiligung systemtypisch oder systemübergreifend?

Geleistet werden soll also in dieser Arbeit zunächst eine konzeptgeleitete Exploration der Formen und Ziele von Beteiligung in verschiedenen Gesundheitssystemen mit Hilfe eines im zweiten Kapitel zu entwickelnden heuristischen Rasters. Im Zentrum aber steht eine Untersuchung der Zusammenhänge zwischen System(struktur)en, Beteiligungsformen und gesundheitspolitischen Zielen von Beteiligung im Gesundheitswesen aus vergleichender Perspektive. Dabei ist auch die zeitliche Entwicklung sowohl von Einbindungsformen als auch von Systemstrukturen in den Blick zu nehmen, um zwischen systemimmanentem Wandel und systemexternen Einflüssen, zwischen Kontinuität und Brüchen zu differenzieren.

Das Ziel der Untersuchung ist schließlich neben der Beantwortung der konkreten Fragestellung die Illustration oder empirische Widerlegung der vorgestellten Thesen.

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