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Beteiligungsdiskussionen und Argumentationsmuster im Vergleich

5 Vorstellungen von Patienten- und Bürgerbeteiligung in der politischen Diskussion 161

5.4 Beteiligungsdiskussionen und Argumentationsmuster im Vergleich

Ein Vergleich der vorgestellten Diskussionen zur Patienten- und Bürgerbeteiligung in den drei Fällen zeigt Folgendes:

Direkte Bürgerbeteiligung in gesundheitspolitischen Entscheidungsprozessen wird nur eingeschränkt unterstützt. Die bisherige Art politischer Entscheidungsfindung auf der Makroebene durch Abgeordnete im Rahmen einer repräsentativen Demokratie wird in keinem Land in Frage gestellt.

In der Diskussion um Verwaltungsbeteiligung in Finnland und in den aktuellen Plänen zur Entwicklung der Bürgergesellschaft in Polen wird – ergänzend – explizit auch eine stärkere Einbindung von Bürger- und Patientenorganisationen in Gesetzesvorbereitungsprozesse im Gesundheitsministerium angestrebt. Eine solche Absicht stand in Deutschland unter anderem

hinter dem Vorschlag der Einsetzung einer Patientenbeauftragten durch die Regierung, die den Kontakt zu Patientenorganisationen halten soll.

Problematisiert wird in der finnischen Beteiligungsdebatte das Verhältnis von indirekter und direkter Demokratie (vor allem) auf Kommunalebene, auf der die relevanten Entscheidungen über Organisation und Finanzierung der Gesundheitsdienste gefällt werden. Diese Demokratie-Problematik wird in der deutschen Beteiligungsdebatte kaum angesprochen, zumal im deutschen Gesundheitswesen versorgungsrelevante Entscheidungen getrennt von der staatlichen Verwaltung, nämlich vorwiegend in der – funktionalen – Selbstverwaltung getroffen werden.

In allen Fällen wird der Einzelne im Gesundheitswesen nunmehr als Nachfrager betrachtet, in Finnland ist er zum betreuten Kunden öffentlicher Dienstleistungsunternehmen geworden, in Deutschland zum Verbraucher in einem Gesundheitsmarkt. In Polen wechselt die Rollenzuschreibung zwischen versorgungsbedürftigem Kranken und entscheidungsfähigem Klienten von Gesundheitseinrichtungen. Diese Sichtweise spiegelt den seit Ende der 1980er Jahren wirksamen Einfluss von marktökonomischen Ideen, die sich in Finnland im New Public Management-Ansatz der Verwaltungsmodernisierung niederschlagen, in Deutschland dagegen im Ein- und Ausbau von Wettbewerbselementen bei der Finanzierung und Leistungserbringung. Hierin wird deutlich, dass ursprünglich systemferne, aber nicht systemfremde, Ideen systemspezifische strukturelle und ideelle Anknüpfungspunkte und Ausgestaltungen finden. Schließlich ist sich in Deutschland der sozial Versicherte stets auch der Beitragshöhe seiner Versicherung bewusst gewesen; und auch der Patient konnte seine Zufriedenheit mit der Behandlung schon immer in der Arztwahl zum Ausdruck bringen. In Finnland hegte der Einwohner einer versorgenden Gemeinde bestimmte Erwartungen an Gemeindeleistungen als Gegenwert zu seinen Steuerbeiträgen und an die persönliche Behandlung als Anerkennung seines Bürgerstatus. In Polen dominiert dagegen der noch aus sozialistischen Zeit stammende und erneut rechtlich fixierte Versorgungsanspruch der Bürger gegenüber dem Staat, allerdings richten die Bürger und Patienten als beitragszahlende Versicherte inzwischen mehr Qualitätsansprüche an die Versorgung, die mittlerweise auch von privaten Ärzten und Gesundheitszentren angeboten wird.

Der einzelne Kranke, der wirkliche Patient, bleibt oftmals jedoch – quasi als Relikt überkommenener Gesundheitsversorgungsstrukturen – Objekt der Versorgung, auch wenn er durch mehr Informations- und Mitspracherechte in der Behandlung und durch mehr Förderung zum eigenverantwortlichen Umgang mit der Gesundheit „zum Subjekt aktiviert“

werden soll.

Beteiligung zielt in den Diskussionen in Finnland und Deutschland auf die Sicherung und Stabilisierung des Gesundheitssystems mit unterschiedlichen Ansätzen und aufgrund unterschiedlicher Krisenperzeptionen.

In Deutschland wird die Bedrohung des Systems in der Finanzierungsgrundlage gesehen und auch vorwiegend zu ökonomischen Gegenmitteln gegriffen. Mehr Wettbewerb zwischen den Krankenkassen und den Leistungserbringern um Versicherte und Patienten, aber auch mehr Kostenübernahme durch Leistungserbringer und Patienten sollen seit den 1990er Jahren die Finanzierung der Ausgaben in der Gesundheitsversorgung sichern. Mehr Eigenverantwortung und mehr Mitsprache für die Patienten meint daher in erster Linie mehr Wahlmöglichkeiten.

Erst mit sinkenden Akzeptanzwerten für die Gesundheitspolitik und mit der zunehmenden Unzufriedenheit der Patienten und Bürger mit steigenden Zuzahlungen wird auch die demokratische Legitimität der Gesundheitspolitik in den Blick genommen. Mitsprache meint daher in zweiter Linie seit kurzer Zeit auch die Einsetzung einer Patientenbeauftragten bei der Regierung. Die Verbindung von Rationalisierungszielen (Effizienz der Leistungserbringung, Effektivität der Versorgung) und die Sorge um den Erhalt der Qualität infolge von Einsparungen mit dem Ziel, die Akzeptanz des Versicherungssystems zu erhalten, schlägt sich schließlich in einer dritten Form von Mitsprache nieder: der Verfahrens- oder auch der Beratungsbeteiligung von Patientengruppenvertretern in der funktionalen Selbstverwaltung.

Kritische Anzeichen sind im finnischen Gesundheitssystem vielfältig; sie werden unter anderem gesehen im Einstellungswandel der Patienten und Bürger gegenüber der Bevormundung durch Ärzte oder gegenüber einer bürgerfernen Verwaltung und einer Politik hinter verschlossenen Türen, aber auch im Einspardruck, den die Rezession Mitte der 1990er Jahre auf die öffentlichen Haushalte ausgeübt hat. Als Gegenmittel gegen einen drohenden Akzeptanzverlust des politisch-administrativen Systems wird Kundenorientierung angepriesen; mehr Mitsprache und Beteiligung bezieht sich dabei vor allem auf Dialog, Informationsaustausch und Umfragebeteiligung auf allen Ebenen des Gesundheitssystems.

Zielt man in der deutschen Beteiligungsdebatte auf den Erhalt eines solidarischen Kerns des beizubehaltenden und (finanziell) anzupassenden Versicherungssystems, geht es in der finnischen Beteiligungsdiskussion um den Erhalt der demokratischen und egalitären Grundlagen des beizubehaltenden und qualitativ zu verbessernden Versorgungssystems.

Die Diskussion in Polen steht noch ganz im Kontext und unter dem Eindruck des postsozialistischen Wandels des Gesundheitssystems und des politischen und administrativen Systems. Patienten- und Bürgerbeteiligung ist daher sowohl funktional als auch demokratisch

konzipiert – mit dem Ziel einer Verbesserung sowohl der Systeme und ihrer Leistungsfähigkeit als auch der Position von Patienten und Bürgern darin.

In allen Fällen sind normative und funktionale Ziele von Patienten- und Bürgerbeteiligung miteinander verknüpft, wobei sich Unterschiede in den Prioritäten und bei den Schwerpunkten des funktionalen Einsatzes von Beteiligung ergeben. In Finnland und in Polen dominiert die normative Zielsetzung vor der funktionalen; und auch der funktionale Einsatz von Patienten- und Bürgerbeteiligung („Dialog“) zur Anpassung der öffentlichen Verwaltung und des Versorgungssystems geschieht im Hinblick auf die Zufriedenheit der Bürger. In Deutschland richtet sich die dominierende funktionale und auch partikularistische Patienten- und Bürgerbeteiligung auf das Gesundheitsversorgungssystem und sein Funktionieren; auf das Gemeinwohl bzw. das Wohl aller wird in der Diskussion um Gesundheitsreformen hauptsächlich als Slogan ohne reale Basis („Der Patient steht im Mittelpunkt“) verwiesen. Die Positionen in Finnland und Polen könnten daher als funktional-universalistisch bezeichnet werden, der Ansatz in Deutschland als funktional-partikularistisch.

Letztendlich spiegeln die doppelt akzentuierten und in sich widerprüchlichen Beteiligungskonzepte, die in den verschiedenen Gesundheitssystemen diskutiert und realisiert werden, die Suche nach Antworten auf die allen gemeinsame Kernfrage wider, wie nämlich Zugänglichkeit zur und Bedarfsgerechtigkeit in der Gesundheitsversorgung mit Ausgabenkontrolle, Leistungseffizienz und Versorgungsqualität miteinander vereinbart werden können.

6 Patienten- und Bürgerbeteiligung in unterschiedlichen

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