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Experteninterviews als empirische Grundlage

6 Empirie

6.2 Qualitative Sozialforschung

6.2.1 Experteninterviews als empirische Grundlage

Das Forschungsdesign dieser Arbeit stützt sich vorrangig auf 24 Experteninterviews, die im Rahmen des DFG-Forschungsprojekts InterRISK entstanden sind. Folgt man der Definition von Gläser und Laudel, so sind Experten „Menschen, die ein besonderes Wissen über soziale Sachverhalte besitzen“ und Experteninterviews „eine Methode, dieses Wissen zu erschließen“ (Gläser & Laudel 2004: 10). Im Kontext der hier vorliegenden systemtheoretischen Arbeit muss diese Definition erweitert werden, weil eine reine Fokussierung auf die inhaltliche Ebene nicht zielführend ist. Das

„besondere Wissen“ eines Experten besteht in unserem Fall bereits in der

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Fähigkeit für das System, dem der Experte angehört, typische Unterscheidungen zu treffen. Experten sind nach dieser Auffassung immer Vertreter eines Systems. Interviews ermöglichen, typische Unterscheidungen und Eigenlogiken zu beobachten. Die eigene Brille des Wissenschaftssystems ist dabei durchaus hilfreich, denn durch die eigene Andersartigkeit wird die

„Normalität“ anderer Systeme sichtbar. Entsprechend schwierig wird es, gleichfalls das System Wissenschaft zu beobachten. Neben diesem allgemeinen Verständnis von Experten existiert weiterhin das Bild des Experten als Fachspezialisten.28

Die Auswahl der Interviewpartner erfolgte in Anlehnung an das Forschungs-design dergestalt, dass von verschiedenen Funktionssystemen einzelne Repräsentanten befragt wurden. Einen Überblick gibt die folgende Tabelle:

Organisationen Funktionssystem(e) Ingenieur- und Architekturbüros29 Wirtschaft

Zeitungen & Radiosender Massenmedien

Planungsverbände Politisch-administratives System Gemeindeverwaltungen und

Stadtwerke

Politisch-administratives System, Wirtschaft

Infrastrukturbetreiber Politisch-administratives System, Wirtschaft Forstverwaltungen und

-forschungseinrichtungen30

Politisch-administratives System, Wissenschaft

Ministerien und Landesämter Politisch-administratives System, Wissenschaft

Bei dieser Darstellung wird ersichtlich, dass in einer Organisation unter-schiedliche Funktionssysteme zum Tragen kommen können, was konkret dazu

28 Vergleiche hierzu auch die Rolle von Experten im Rechtssystem in Kapitel 7.2.2.

29 Ingenieur- und Architekturbüros eignen sich besonders für die Repräsentation des Wirtschaftssystems im Rahmen eines Naturgefahrenmanagements für Hangrutschungen, weil sie bei individuellen Bauaktivitäten auf der Schwäbischen Alb häufig involviert sind und damit einen großen Einfluss auf den Prozess haben.

30 Die Interviews mit Forstverwaltungen und -forschungseinrichtungen dienten primär dem Zweck das Teilprojekt InterRISK-Analysis mit Informationen zu versorgen. Die Auswertung der Interviews erfolgt daher nicht im Rahmen dieser Arbeit, da der inhaltliche Fokus ein anderer war.

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führen kann, dass während eines Interviews die Unterscheidungen und damit auch die Eigenlogiken wechseln können. Diese Multi-Referenz (vgl. Seite 43) stellt für die Analyse eine besondere Herausforderung dar. Eine detaillierte Übersicht der Interviewpartner findet sich auf Seite 199.

Das bislang noch nicht aufgeführte Funktionssystem Recht wird in erster Linie über schriftliche Quellen, genauer über die Analyse von Gesetzen und Urteilen, analysiert. Das Funktionssystem Massenmedien wird durch die Auswertung von Zeitungsartikeln ergänzend untersucht (siehe Kapitel 6.2.2).

Die Durchführung der Interviews erfolgte in allen Fällen zusammen mit einem Geomorphologen als Experte für den Rutschungsprozess. Er konnte damit als

„inhaltlicher Experte“ dazu beitragen, dass auch Interviews mit stark technisch ausgerichteten Experten nicht zum Erliegen kamen. Aus empirischer Sicht bietet diese Konstellation ebenfalls den Vorteil, dass eine Beobachtung zweiter Ordnung möglich wird. Gleiches gilt für die Interviews im Rahmen des ILEWS-Projektes, die zusammen mit einem Raumplaner eine ähnlich gesprächsfördernde und beobachtbare Dimension erfahren haben.

Die Interviews wurden als problemzentrierte Interviews, das heißt als offene, teil-strukturierte Befragung (vgl. Mayring 2002: 67) durchgeführt. Der Leitfaden gestaltete sich wie folgt:

Aspekte Erläuterung

Kontakt mit Hangrutschungen Wann und wie häufig beschäftigen Sie sich mit Hangrutschungen?

Stellenwert Welchen Stellenwert hat die Arbeit mit Hangrutschungen im Vergleich zu anderen Tätigkeiten?

Wissen über Hangrutschungen Welche Rutschungen kennen Sie? Welche Prozesse finden dort statt?

Einschätzung der Situation Reichen die bisherigen Verfahren des Umgangs mit Rutschungen oder sollte Ihrer Meinung nach noch etwas verbessert werden?

Nutzung von historischem Nutzen Sie historische Karten/historische

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Aspekte Erläuterung

Wissen Schriftstücke/historische Wissen? Wenn nein, warum nicht?

Nutzung von

(Gefährdungs-)karten

Nutzen Sie (Gefährdungs-)Karten? Wenn ja, welche? Wenn nein, könnten sie von Nutzen sein?

Nutzung des digitalen Höhenmodells

Nutzen Sie ein digitales Höhenmodell? Wenn nein, könnte es für Ihre Arbeit von Nutzen sein?

Der Leitfaden diente vor allem dazu, Aspekte zu markieren, die als Aufpunkt oder Überleitung im Laufe des Gesprächs thematisiert werden konnten.

Letztendlich lag die oberste Priorität darauf, den Gesprächspartner möglichst frei kommunzieren zu lassen, damit die Unterscheidungen seines Systems offensichtlich werden. Eine zu starke Gesprächsführung birgt die Gefahr, dass sich der Interviewte teilweise auf die Unterscheidungen des Interviewers einstellt. Letztendlich verlief jedes Interview individuell auf den Gesprächs-partner zugeschnitten. Das hängt sicherlich auch damit zusammen, dass die Interviewpartner aus sehr unterschiedlichen Kontexten stammen. Sinnvolle Fragen ergaben sich meist erst im Gespräch.

Die zum Teil mehrstündigen Interviews wurden mittels eines MD-Players digital aufgezeichnet und wörtlich transkribiert. Die Transkription erfolgte mit Fokus auf die inhaltlich-thematische Ebene, das heißt es fand eine weitgehende Übertragung in normales Schriftdeutsch statt, wobei dialektale Formulierungen teilweise sowie Satzbaufehler überwiegend erhalten blieben (vgl. dazu Mayring 2002: 91). Das Weglassen von Füllwörtern stellte hierbei einen der zentralen sprachlichen Glättungsmechanismen dar. Unverständliche Textpassagen31 wurden im Text mit „[?]“ gekennzeichnet. Die Transkription der Experteninterviews wurde an ein externes Schreibbüro vergeben, um eine zeitnahe Auswertung zu gewährleisten. Diese Vergabe an Fachfremde erwies sich jedoch als nachteilig, da die Transkription für eine wissenschaftliche

31 aufgrund von Nebengeräuschen, Dialekt, zu geringer Redelautstärke oder gleichzeitiger Redebeiträge

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Analyse zu viele fehlverstandene Worte enthielt und aufwendige Nacharbeiten erforderlich machte.

Die hier angewandte Analysemethode ist die Qualitative Inhaltsanalyse nach Mayring (vgl. Mayring 2003: 468-474). Bei dieser Methode, die ursprünglich aus der Quantitativen Inhaltsanalyse stammt, gibt es feste Bestandteile, die nach- und nebeneinander durchgeführt werden (angelehnt an Gläser & Laudel 2004: 191):

die Entwicklung eines Kategoriensystems vor der Analyse

die Zuweisung von Textstellen zu den Kategorien

das Anpassen des Kategoriensystems während der Analyse32

Dazu wurden aus dem Leitfaden die folgenden Kategorien/Codes abgeleitet und den Textstellen zugeordnet:

Kategorie Erläuterung

Eigenlogiken Die Eigenlogiken des Systeme werden ersichtlich alltägliche Relevanz Die Interviewten beschreiben, welche tägliche

Relevanz Hangrutschungen für ihre Arbeit haben Systemgrenzen Systemgrenzen werden durch sich verändernde

Beobachtungen in der Interaktion deutlich

Rutschung als Problem Rutschungen werden als Problem wahrgenommen Grenzen des Managements Die Grenzen des Managements werden entweder

direkt vom Interviewpartner thematisiert oder sind indirekt aus den Aussagen ableitbar Möglichkeiten des

Managements

Die Möglichkeiten des Managements werden entweder direkt vom Interviewpartner

thematisiert oder sind indirekt aus den Aussagen ableitbar

Bedarf Aussagen bezüglich eines Bedarfs an einem Naturrisikomanagement

32 Wie schon in Kapitel 6.2 thematisiert, ist die Möglichkeit, neu auftauchende, unerwartete Informationen zu prozessieren, ein großer Vorteil der qualitativen Forschung. Dem wird auch die Technik der Qualitativen Inhaltsanalyse gerecht.

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Darüber hinaus wurde der transkribierte Text den Funktionssystemen Wirtschaft, Recht, Wissenschaft, Massenmedien und politisch-administratives System zugeordnet. Dabei fiel auf, dass ein einzelner Interviewpartner teilweise in wenigen Minuten zwischen mehreren funktionssystemspezi-fischen Unterscheidungen wechselte – ein Phänomen, das typisch für Kommu-nikation von Organisationen ist, insbesondere wenn deren Vertreter eine übergreifende Funktion innerhalb der Organisation einnimmt.

Im weiteren Verlauf wurden noch weitere Kategorien in das Kategoriensystem aufgenommen, die sich in Bezug auf die Fragestellung als sinnvoll erwiesen:

Kategorie Erläuterung

Erziehungssystem Kommunikation im Erziehungssystem Begriffsverständnis Unterschiedliche Begriffsverständnisse und

semantische Unschärfen sind erkennbar Erfahrungswissen Für die tägliche Arbeit wird auf das

Erfahrungswissen der Organisation oder einzelner Mitglieder zurückgegriffen Nutzung von historischem Wissen Historische Karten oder schriftliche

Überlieferungen außerhalb des eigenen

Erfahrungsraums werden für die tägliche Arbeit genutzt

Rolle von Expertenwissen Die Rolle von Expertenwissen für Entscheidungen

Reflexion Bewusstheit von Interviewpartnern über deren eigene Perspektivität, die Kontingenz

systemeigener Unterscheidungen

Im Vergleich zu hermeneutischen Textauswertungen besteht der Vorteil der Qualitativen Inhaltsanalyse darin, dass es sehr einfach wird interviewüber-greifend zu analysieren. Bedenkt man, dass der Fokus der Arbeit auf dem Sozialen und nicht auf dem Individuum (hier gemeint als psychisches System) liegt, bietet diese Methode einen Vorteil gegenüber Ansätzen, die den Einzeltext und damit auch die personale Zuschreibung in den Vordergrund rücken.

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