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Exkurs zur Diachronie der Artikel im Deutschen

Schicht 5: Vorherige Kenntnis des Lokalisationsstatus (Kotext und Kontext)

6.5. Lokalisationsdefaults und Artikelgebrauch im Deutschen - eine kontrastive Studie

6.5.1. Exkurs zur Diachronie der Artikel im Deutschen

beleuchte ich die Ubersetzungspendants der Lexeme des Kombinatoriktests.

Ob es tatsächlich eine Korrelation zwischen Lokalisationsverhalten und dem Artikelgebrauch im Deutschen gibt, muß die statistische Auswertung des ASKO-Tests zeigen.

Beginnen wir mit einem Exkurs zur historischen Entwicklung der beiden Artikel der!ein.*

Lo k a l i s a t i o n s d e f a u l t s u n d Ar t i k e l 141

6.5.1. Exkurs zur Diachronie der Artikel im Deutschen

Während der Beginn der Herausbildung des bestimmten Artikels nicht gesichert festzusetzen ist, läßt sich die Entwicklung des später entstandenen unbestimmten Artikels in den vorhandenen Schriftwerken genauestens nachverfolgen. Ersterer hat sich bereits gegen Ende des 9. Jahrhunderts mehr oder weniger durchgesetzt, letzterer verbreitet sich in der Zeit vom 10. bis 12.

Jahrhundert. Die Tatsache, daß die älteste germanische Literatursprache, das Gotische, ebensowenig über Artikel verfügte wie andere klassische indo- europäischen Schriftsprachen (Latein und Sanskrit) deutet darauf hin, daß die indoeuropäische Ursprache artikellos gewesen sein muß. Der bestimmte

Die verwendeten sprachlichen Daten stammen aus Behaghel (1923), Bell (1907), Heinrichs ( 1954), und Hodler ( 1954)

De r a s s o z i a t i v e k o m b i n a t o r i k t e s t

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Artikel der geht auf das rekonstruierte indoeuropäische Demonstrativum

*solto zurück. In den ersten Schriftdenkmälern des Deutschen (z.B. Isidor 790) finden wir der seiner Herkunft entsprechend in rein anaphorischer Funktion; es kann lediglich auf identisch vorerwähnte konkrete Nomen verweisen (spezifisch referierend). Der circa 40 Jahre später entstandene Tatian (um 830) weist bereits Verwendungsweisen auf, die für das Demonstrativum untypisch sind: der begleitet häufig Nomen, die nicht explizit, sondern nur indirekt vorerwähnt sind. Von hier aus erobert der bestimmte Artikel den Nominalbereich. Diese Entwicklung betrifft jedoch nicht alle semantischen Nominalgruppen und syntaktischen Positionen gleichermaßen, sondern beschränkt sich vorerst auf Objektiva in präpo- sitionslosen Konstruktionen. Im Mittelhochdeutschen steht der Artikel bei Objektiva bereits obligatorisch, bei Abstrakta taucht er jedoch nur vereinzelt auf.1 Zusammen mit den Eigennamen gehören Abstrakta zu dem Bereich der Nominallexik, der ganz zum Schluß vom bestimmten Artikel erfaßt wird. Ein weiterer Bereich, in dem der bestimmte Artikel bis jetzt z.T. weggelassen werden kann, sind Präpositionalkonstruktionen, in denen ja bekannterweise der Artikel häufig fehlt oder mit der Präposition verschmilzt (a u f Kredit, im Haus). Bei den artikellosen Präpositionalkonstruktionen des Typs a u f Kredit oder in Arbeit handelt es sich immer um einen allgemein referierenden Gebrauch des Nomens. Es ergibt sich eine diachrone Stufung der Kategorie Artikel in Zentrum und Peripherien, die auch im synchronen Sprachzustand nachzuweisen ist:

D iachrone Entw icklung des bestim m ten A rtikels

Gewisse Parallelen zeigen sich bei der Herausbildung des unbestimmten Artikels. Dieser geht als gemeingermanisches Wort auf das indogermanische

Nähere Angaben s. Hansen (1995a)

Lo k a l i s a t i o n s d e f a u l t s u n d Ar t i k e l 143

Numerale *oinos zurück. Als Artikel beginnt es sich erst in mittelhoch- deutscher Zeit durchzusetzen. Zu Beginn erscheint es obligatorisch bei der Einführung relevanter Referenten in den Diskurs (spezifisch referierend);

relevant heißt, daß der Sprecher im folgenden noch weiter über den genannten Referenten reden wird. Von hier aus breitet sich der unbestimmte Artikel über die Bezeichnung eines irrelevanten Referenten (auch spezifisch referierend) zu allgemeinreferierenden Kontexten aus. Bei Abstrakta taucht der unbestimmte Artikel bis heute nur unregelmäßig auf. Man benötigt schon einen sehr speziellen Kontext, um Konstruktionen des Typs eine Wahrheit oder eine Ehre zu verwenden. Die Herausbildung des unbestimmten Artikels sehen wir in folgender Abbildung:

D iachrone E ntw icklung des unbestim m ten A rtikels

Einführung eines

relevanten 'Referenten >

f beliebigerRefererrt, allgemeinreferierend

Im abstrakten Bereich finden wir bis zum heutigen Tage eine weit verbreitete Artikellosigkeit, was um so mehr erstaunt, wenn man berücksichtigt, wie der bestimmte Artikel den Nominalbereich ״erobert“ hat. Selbst inhärent definite Eigennamen werden vor allem in der Umgangssprache des süddeutschen Sprachraums häufig mit Artikel verwendet, vgl.: Ich hin der Martin, nä.

Abstrakta in allgemeinen Aussagen werden jedoch überwiegend artikellos verwandt; z.B.:

Zeit ist Geld.

Fernsehen macht dumm.

Arbeit schändet nicht.

Die aufgezählten Lexeme können durchaus von Artikeln begleitet werden. In diesem Fall haben wir es mit einer anderen Bedeutungsnuance zu tun, d.h. es liegt eine andere Monosemierung vor. Von Artikeln determinierte Abstrakta können andere, konkretere Entitäten bezeichnen und erhalten dadurch die Möglichkeit, spezifisch zu referieren bzw. gemeinsam mit episodischen

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Verben aufzutreten. Der Artikel tritt somit als expliziter Referenzmarker auf, welcher den semantisch vorgegebenen Default aufhebt. Dies ist aus der Etymologie des Wortes erklärbar, das nicht nur im Deutschen, sondern universell auf ein Demonstrativpronomen zurückgeht. Letztere gehören, wie in der Liste der Lokalisationsfaktoren gezeigt, zu den dominanten Referenz- markem. Das gleiche gilt für den unbestimmten Artikel, welcher, wie gezeigt, ursprünglich nur spezifische Referenz anzeigen konnte. Vgl. folgende Fälle spezifischen Gebrauchs der oben genannten Lexeme:

Er hat die Zeit gut genutzt.

Sie arbeitet beim Fernsehen.

Endlich hat er eine Arbeit gefunden.

In dieser Hinsicht verhalten sich Nomen dieses Typs in jedem Falle anders als Objektiva, die die oben genannte Variation von Artikelsetzung und Artikellosigkeit nicht oder in ausgesprochen beschränktem Umfang zulassen.

Während diese grundsätzlich den Artikel erfordern (z.B. *Er legt Buch a u f Tisch.), kann eine kleine Gruppe von funktionalen Personenbezeichnungen (s.o. Šmelev, 3.3.2.) im Prädikat artikellos verwendet werden; z.B.:

Sein Vater ist Bildhauer, vs.

Sein Vater ist ein Riese.

Eine weitere semantische Nominalgruppe, die uns im Russischen beschäftigt hat, sind die Kontinuativa, die in Leont'evs Assoziationen wie die Abstrakta eine gewisse Tendenz zum allgemeinreferierenden Default aufwiesen (БУМАГА > все стерпит - "PAPIER > ist geduldig"). Interessanterweise bilden gerade die Kontinuativa die zweite Klasse von Nomen, die artikellos auftreten können, wenn die Klasse als solche gemeint ist. In dieser Verwen- dung ist im weitergehenden Diskurs keine referenzidentische Wiederaufnahme der genannten Referenten mit Hilfe des bestimmten Artikels möglich. Es handelt sich um ein isoliertes Auftreten im Diskurs.

Volkmar trinkt am liebsten Rotwein.

Dieter verkauft geräucherten Aal.

Möchten wir hingegen etwas über einen relevanten, spezifischen Referenten mitteilen, i.e. einen Vertreter der genannten Klasse, müssen wir obligatorisch den Artikel verwenden.

Der Wein, den wir gestern getrunken haben, war ausgezeichnet.

Der Aal, den Aal-Dieter uns angedreht hat, war alt.

Wie ein kurzer Blick in andere Artikelsprachen zeigt, liegt hier eine ähnliche Situation vor. Abstrakta und Kontinuativa bilden ebenfalls eine Nominal- gruppe, die am ehesten Artikellosigkeit zuläßt bzw. in der diachronen Entwicklung erst sehr spät vom Artikel erfaßt wird. Dies gilt es aber noch

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näher zu untersuchen, da sich Artikelsprachen gerade in diesem Bereich relativ stark voneinander unterscheiden. Während diese Sprachen sich in der zentralen Funktion des bestimmten Artikels, der Wiederaufnahme vorer- wähnter Referenten, weitgehend decken, weichen sie im peripheren Bereich allgemeinreferierender Kontexte stärker voneinander ab. Zur Illustration zwei Beispiele aus dem Deutschen und Englischen:

Claudia ist Lehrerin, vs. Claudia is a teacher.

Der Mensch ist sterblich, vs. Man is mortal.

Artikellose Sprachen, die über gewisse Äquivalente des bestimmten Artikels verfügen, setzen diese vorwiegend in der eben genannten zentralen Funktion des Artikels ein. In allgemeinreferierenden Kontexten hingegen findet der Artikel in diesen Sprachen keinen formalen Reflex (s. Textauszählung des Deutschen und Türkischen in Hansen 1995a).

Aus dem Gesagten könnte man die folgende Hypothese ableiten: Die nominalen Merkmale der Perzeptualität und Diskretheit, die im Russischen Lokalisationsdefaults implizieren, verfügen in Artikelsprachen über einen formalen Ausdruck. Ob hier tatsächlich eine Korrelation vorliegt, wird bei der Auswertung meines Assoziationstests zur Lokalisation überprüft.