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2. Parzivalhandlung

2.1 Schönheit und tumpheit

2.1.2 Formen mythischer Entdifferenzierung II – Zeichen

2.1.2.3. Das Epitafum

Wirft man einen Blick auf die symbolische Ordnung der Gralsgesellschaft, dann müsste das kommunikative Missverhältnis zwischen der Figur Parzivals und der Gralsgesellschaft eigent-lich verwundern. Denn gerade die Gralsgesellschaft besitzt mit dem Gral einen Gegenstand der symbolischen und göttlichen Präsenz. Aber offensichtlich ist auch die symbolische Ord-nung der Gralsgesellschaft gestört. Bis zu dem Moment, in dem Anfortas das Gebot übertritt, funktioniert die symbolische Ordnung des Grals tadellos. Die kommunikative Andersartigkeit als Merkmal einer Teilhaftigkeit an einem nicht-differentiellen und daher als numinos erfah-renen Denken wird nun von der Gralsgemeinschaft, die aus diesem Stadium herausgefallen ist, ebenso divinisiert wie dämonisiert. Während der Gral im unversehrten Zustand der Ge-meinschaft ebenfalls einen Raum der Anwesenheit Gottes und der heilvollen Entdifferenzie-rung hergestellt hat, befindet sich die Gralsgesellschaft nun im Zustand des Chaos. Sie ist aus dem Paradies herausgefallen, das Wirken Gottes dringt nur noch als Gewalt und willkürliche Unverfügbarkeit zu ihr. Die Rede Gottes wirkt offenbar auf Anfortas nicht unmittelbar, son-dern lässt den Spielraum des planenden, freien Handelns, der Distanzierung vom Gotteswort.

Das ist insofern ungewöhnlich und bemerkenswert, als in zahlreichen Erzählungen des Mit-telalters das Gotteswort in Rede und Schrift auf den Hörer oder Leser ereignishafte Auswir-kungen hat167 und ein Raum für Differenzierung und Deutung überhaupt nicht bleibt. Hier hat es offenbar seine mythische Qualität verloren. Das Epitafum ist eine Offenbarungs-"Schrift", welche nach dem Lesen, welches eher ein Hören ist, sogleich zergeht, also internalisiert wer-den muss und nicht zur Auslegung fixiert bleibt. Als Gotteswort besitzt die Schrift hier abso-luten und wahren Verkündigungscharakter. Auch wenn es sich rein optisch um Schrift han-delt, welche in unserem epistemischen Verständnis ein aktives und konstruktives Lesen mit anschließender Bedeutungszuweisung impliziert, gelten diese Bedingungen für die Grals-schrift gerade nicht, denn die Schrift verschwindet und besitzt damit die Flüchtigkeit der Re-de.

Während die Hofgesellschaft offensichtlich über eine ausgeprägte Kultur der Schriftlichkeit verfügt – sie besitzt mindestens vier Schreiber, welche hinter den Servierwagen herschreiten

167 Eine Sammlung von auratisch und magisch wirkenden Schriften hat Ulrich Ernst zusammengestellt. Vgl.

Ulrich Ernst: Sprachmagie in fiktionaler Literatur. Textstrukturen – Zeichenfelder – Theoriesegmente. In : Arcadia 30 (1995). S. 113-185. Eine genauere Beschreibung des Phänomens von auratischer Schrift findet sich bei Peter Strohschneider: Reden und Schreiben. Interpretationen zu Konrad von Heimesfurt im Problem-feld vormoderner Textualität. In.: ZfdPh 124 (2005), Sonderheft: Retextualisierung in der mittelalterlichen Literatur. S. 309-344

und Inventarlisten über den Bestand an Geschirr führen (237.28) – sieht man Parzival, anders als Gawan, niemals schreiben. Mit der Schrift besteht die Möglichkeit, Bedeutung von den Körpern und Dingen abzulösen. Parzivals Verständnis hingegen ruht noch ganz im Bewusst-sein der Einheit von Bedeutungsträger und Bedeutung.

Christoph Jamme hat sich ebenfalls genauer mit den symboltheoretischen Besonderheiten des Mythischen befasst und kommt zu dem Schluss, dass die Erfindung der Schrift eine gravie-rende Veränderung für das mythische Denken bedeutet hat:

“Mit der Geschichte beginnt die Schrift, andererseits beginnt mit der Schrift die Geschichte, und mit der Entstehung eines geschichtlichen Bewusstseins endet die schriftlose Vorgeschich-te, endet – zwar nicht der Mythos, aber das Mythische.“168 Die Opposition, welche hier eröff-net wird, ist die zwischen dem gesprochenen und dem geschriebenen Wort und einer zykli-schen im Gegensatz zu einer teleologizykli-schen Zeitauffassung. Jamme beschreibt unter diesem Aspekt die unterschiedlichen Formen der Symbolisierung als historischen Prozess:

Mit der Entstehung der Schrift und der Möglichkeit der Fixierung bricht zunächst ein ge-schichtliches Zeitalter an, welches in der Geschichtsschreibung eine Alternative zur Memori-alfunktion des Mythos bietet. Neben dem linearen, teleologischen Geschichtsbewusstsein, welches durch die Schrift ermöglicht wird und die Einmaligkeit, aber auch Relativität von Ereignissen festschreibt sowie in ein klares Vorher und Nachher unterscheidet, bewahrt der Mythos auch in der zeitlichen Achse eine Form der Wahrnehmung, die auf Partizipation, identische Wiederholung eines einstmaligen Geschehnisses in der Gegenwart angelegt ist.

Auch die zuvor mündlich weitergereichten Mythen können nun verschriftlicht werden. Damit besteht nun die Möglichkeit ihrer Relativierbarkeit durch ein konkurrierendes Zeitwahrneh-mungssystem. Eine Folge der in Schrift fixierten Mythen ist sicher die Entstehung eines re-flektierten Bewusstseins von den Strukturen des Mythischen durch die hermeneutische Aus-einandersetzung damit. Daraus erst kann eine Aneignung der Stoffe und Formen entstehen, die mythologisch zu nennen ist, nämlich als literarisches und sehr reflektiertes Spiel mit un-terschiedlichen Formen der Symbolisierung.

Doch die Begegnung von Mythischem und Schrift ist ein wechselseitiges Verhältnis: Zum einen wird der mythische Stoff übersichtlich gemacht und dadurch relativierbar – hier nimmt die Schrift Einfluss auf das Mythische. Zum anderen aber färbt das Mythische wiederum auf die Schrift ab. Auch die Schrift erlebt im mythischen Bewusstsein eine eigenwillige Form der Aneignung in Form von magischen Präsenzphänomenen. Auch sie ist ein System von

168 Jamme, 1991, 192

len, welches an den Dingen teilhaftig werden kann. So kann die Schrift zum einem in ihrer Materialität mythisch sein, indem sie wirkmächtig erscheint. In diesem Fall wird eine in den Graphemen gespeicherte Bedeutung nicht durch einen aktiven Akt eines Lesers erst konstitu-iert, sondern drängt sich diesem förmlich auf, ohne dass es zu einem zeitlichen Ablauf aus erst Lesen, dann Verstehen käme169. Gleichermaßen kann aber auch die materielle Schrift selbst ausgeblendet werden, wodurch dann der Referent plötzlich zu etwas Anwesendem wer-den kann. Das verschriftete Wort und sein Signifikat sind auf beschwörende Art und Weise identisch, aneinander teilhaftig und austauschbar. Das Lesen steht hier nicht als Akt, durch welchen die im Text gespeicherten, notwendigerweise vergangenen Geschehnisse von der Gegenwart des Lesens selbst getrennt werden. Solch ein Text inszeniert sich als Rede und impliziert dann Aktualität. Mit der Entstehung der Schrift beginnt, so Jamme, die Hermeneu-tik. Das ist sicher richtig, gilt doch aber nicht ausschließlich. Ist es einerseits nicht möglich, dass gerade in den Anfängen der Schrift diese als etwas so außergewöhnliches verstanden wurde, dass Phänomene der Sakralisierung und Mythisierung von Schrift deren Sonderstatus untermalten? Warum sollte andererseits das mythische Bewusstsein, welches zur Entgrenzung neigt, nicht auch die Schranke der Zeichendifferenz überschreiten können? Ein Beispiel für Entdifferenzierungsphänome zwischen Schrift und Rede, Zeichen und Bezeichnetem zeigt sich auch am Gral.

Die Unterscheidung von Rede und Schrift ist für das Medium des Grals ungültig. Die Schrift auf dem Gral inszeniert sich als Rede und wird auch eher gehört als gelesen. Die "Schrift" auf dem Gral ist ein Beispiel für die Zeichenform des Menetekeltyps. Zeichen, die eben nicht fest sind, sondern flüchtig wie Rede und die nicht diskursiv und prozessual über Hermeneutikver-fahren mit Bedeutung versehen werden, sondern sich in ihrer materiellen Präsenz und numi-nosen Substanz förmlich dem Betrachter aufdrängen. Das Modell, welches hier aufgerufen wird, scheint aber beschädigt zu sein. Daher lohnt sich ein genauerer Blick auf die unter-schiedlichen Epitafien.

Zunächst kann man die Schrift auf dem Gral in zwei Kategorien einteilen: Es werden Gesetze erlassen und Prophezeiungen verkündigt. Die beiden Gattungen des Gotteswortes unterschei-den sich dem Zeitfaktor nach. Die Gebote treten mit dem Erscheinen sogleich in Kraft und besitzen Gültigkeit. Zwischen den Worten auf dem Gral und dem Auftreten des Erlösers liegt aber eine zerdehnte Zeitspanne, ebenso wie zwischen dessen Berufung durch das Epitafum

169 Ausführlich beschrieben wird dieses Phänomen, welches auch in Texten des Mittelalters Eingang findet, von Peter Strohschneider: Sternenschrift. Textkonzepte höfischen Erzählens. In: WS IXX (2006). S. 33-58

und der finalen Erlösungsfrage. Letztere Form des Gotteswortes sieht sich mit dem Problem der Verzögerung von Ereignishaftigkeit konfrontiert. Das passt nicht zum präsentischen Cha-rakter der Zeichen. Plötzlich ist Zeit für Zweifel und kleinliches Herumdeuteln. Die Trennung zwischen Äußerung und Ereignis bietet die Möglichkeit von Aktivität auf der Seite der sonst schlicht vom Gotteswort Überwältigten. Sie schließt eben auch die Möglichkeit der warnen-den Beeinflussung des verkündeten Kandidaten und sein Scheitern mit ein. Es scheint für warnen-den Fall der frohen Botschaft vom Erlöser nicht so, als wäre es gelungen, die Ereignishaftigkeit des Wortes zu konservieren und im Moment seines Erscheinens freizusetzen, so wie das im Fall der Gralsgeschichte selbst der Fall ist, die erst nach einer Phase der Verworfenheit durch den getauften Kyot in ihrer Bedeutung und Bedeutsamkeit erschlossen wird170.

Das Erlösungswerk ist seinerseits wiederum an ein ereignishaftes Wort gebunden, welches am Ende dann auch eintritt. Mit der Frage, so verspricht die Botschaft auf dem Gral, soll sogleich alles Siechtum und Elend vom König abfallen und die Gesellschaft genesen. Auch die Frage ist hier nicht als kommunikative Äußerung gedacht, auf die eine Antwort erwartet würde, sondern als mythisch-performative Formel. Nicht die tiefere, unter der Oberfläche der Worte verborgene Bedeutung ist hier zunächst entscheidend, sondern das reine Wort. Dass die Wor-te, welche die Erlösung bewirken, als Frage formuliert sind, ist irrelevant. Dementsprechend spielt auch der genaue Wortlaut der Frage oeheim, was wirret dier?(795.29) oder hêrre, wie stêt iwer nôt?(484.27) keine Rolle. Es ist nicht der Inhalt der Worte, der hier von Bedeutung für die Genesung ist, etwa "Steh auf und Geh", sondern allein die Äußerung an sich genügt – unabhängig von der genauen Formulierung. Das gesprochene Wort bewirkt die Erlösung, nicht eine davon abgetrennte Bedeutung. Zugleich aber wird durch das Aussprechen der Erlö-sungsworte nicht lediglich etwas bezeichnet, sondern ein Ereignis selbst erst erzeugt. Die Er-lösungsworte sind damit mythisch in dem Sinne, dass Wortlaut, Bedeutung und Bedeutetes identisch und austauschbar sind. Die Ereignishaftigkeit der Gralsrede, welche zunächst schei-tert, wird zuletzt über die Erlösungsworte wieder hereingeholt und bestätigt.

Dazwischen liegt eine Phase, in welcher der sonst funktionierende, ereignishafte Symboltypus nicht gilt. Zwischen der gelingenden Entdeckung des Grals in den Sternen, welche ebenfalls allein durch die materielle Erscheinung, ihre Oberfläche auf den Heiden Flegetanis wirken (denn er kann die Bedeutung des Grals nicht verstehen, sondern die Sternenschrift lediglich visuell wahrnehmen – zugleich scheint sich in der Schrift jedoch die Herausgehobenheit des Grals auszudrücken, denn Flegetanis wird von einem Eindruck des Numinosen ergriffen, als

170 Auf die Studie von Strohschneider, 2006, die sich mit diesem Thema beschäftigt, wird in Kapitel 5.2. Poetik eingegangen werden.

er sie sieht) und der geglückten, ebenfalls oberflächlichen Erlösungsfrage durch Parzival am Ende liegt ein Zeitraum, in welchem der Symbolcharakter ein anderer ist. Für die zeitlich ebenfalls verzögerte Enträtselung der Geschichte durch Kyot, der Bedeutsamwerdung der zuvor rein materiellen Schrift, scheint der Zeitfaktor keine Rolle zu spielen. Hier wird eine Bedeutung unterhalb der Schrift konserviert und erst später freigesetzt. Im Falle der Prophe-zeiung des Erlösers und der Erlösungsfrage gelingt genau das zuerst nicht. Die eigentlich er-eignishafte Schrift auf dem Gral spricht selbst von einem Wortereignis, welches dann zuerst nicht eintritt, und dekonstruiert damit ihre eigene Ereignishaftigkeit. (Das gilt auch für den Verstoß des Anfortas gegen das Verbot der Minne. Die Gottesworte, welche die Minne des Gralskönig reglementieren sollen, haben auf Anfortas offensichtlich keine auratische Wir-kung). Nun darf das prophetische Gotteswort aber nicht unwahr sein, daher wird es nur weiter aufgeschoben, nicht aufgehoben. Auch das Erlöserwort als bereits angekündigtes Geschehen wird also, wie die Freisetzung der Bedeutung des Grals, zeitlich nach hinten versetzt. Epita-fum und Frage sind hier aneinander gebunden. Beide besitzen einen mythischen Zeichenstatus und sind notwendig wahr.

Die tumpheit Parzivals wird auch in kommunikativer Hinsicht von der Gralsgesellschaft mit beiden Zuständen der Entdifferenzierung, der heiligen und der krisenhaften, in Verbindung gebracht. Sein Schweigen entspricht zum einen der gestörten Kommunikation zwischen Got-teswort auf dem Gral und der davon nicht entflammten und gefesselten Gemeinschaft.

Zugleich ist Parzival, das erfährt die Gemeinschaft in der Episode mit dem Hofnarren, eine Person, die an einem nicht-differentiellen Bewusstsein teilhat, und damit auch wieder an das funktionierende Gotteswort im Epitafum als auratischer Rede erinnert. Daraus resultieren zu-nächst die Vorwürfe der Schuld und der Sünde, welche zur Ausstoßung des Sündenbocks führen. Am Ende aber führt die mythische171 Kommunikation des Helden zur Erlösung und zeichnet ihn wiederum als sakralisierten Gründer der neuen Gesellschaftsordnung aus, welche seine kommunikative Andersartigkeit mythisierend imitiert, indem sie Fragen verbietet. Das Ausschlusskriterium wird zum Einschlusskriterium.

171 Zu Erscheinungsformen mythischer Textualität gibt es, bis auf wenige Ausnahmen, kaum Studien. Andeu-tungsweise beschrieben werden magische Sprechakte und magische Schriften von Ernst, 1995, 113-185. Ent-täuschend wenig Aufmerksamkeit hat die spezielle Konfiguration und Mechanik der Erlösungsfrage im Par-zival auf sich gezogen. Hierzu Christian Gellinek: Die Erlösungsfrage in Wolframs von Eschenbach `Parzi-val´. (Buch XVI 794,24-796,16). In: Sagen mit Sinne. Festschrift für Marie-Luise Dittrich zum 65. Ge-burtstag. Hg.: Helmut Rücker und Kurt Otto Seidel. Göppingen: Verlag Alfred Kümmerle, 1976. S. 157-167.

Wegweisend ist hier die Studie von Strohschneider, 2006 (vgl. Fußnote 169)

Zusammenfassend gesagt: Die Darstellung der Parzivalfigur fällt zum einen durch den Aus-nahmenstatus seiner körperlichen Erscheinung auf, insofern als in ihr die Grenze zwischen den Kategorien des Heiligen und Erotischen verschwimmt, zum anderen in kommunikativer und sozialer Hinsicht durch die besondere Konfiguration seiner Wahrnehmung und seines Zeichenverständnisses, das im vorausgegangenen Kapitel als nicht-differentiell identifiziert wurde. Die Figur Parzivals kann somit in zweierlei Hinsicht als Außenseiter gelten, der aber zugleich an einem Zustand mythischer Unmittelbarkeit und Differenzlosigkeit teilhat.

Damit weicht Parzival zum einen ganz generell von der restlichen Gesellschaft ab: Er ist ein Ausgezeichneter. Ein Fremder, der auffällt. Zum anderen aber erkennt die Gralsgesellschaft in seiner Person und seinem kommunikativen Verhalten ihre Krise, welche aus der Konfrontati-on der Erotik und des Heiligen entstanden ist, wieder. Die Gralsgemeinschaft, die ihre Krise aber als göttliche Strafe versteht, entdeckt in der Figur Parzivals neben ihren irritierenden und störenden Qualitäten auch und zugleich eine mythisch-numinose Aura. Damit besitzt die Par-zivalfigur die Rezeptoren für die ihm durch die Gemeinschaft vorgeworfenen Verbrechen, welche im Folgenden näher untersucht werden sollen. Diese Beobachtung muss zwangsläufig zu einer Revision der Frage nach Schuldhaftigkeit und Sünde des Helden führen.