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5. Reflexion

5.2. Poetik

er sie sieht) und der geglückten, ebenfalls oberflächlichen Erlösungsfrage durch Parzival am Ende liegt ein Zeitraum, in welchem der Symbolcharakter ein anderer ist. Für die zeitlich ebenfalls verzögerte Enträtselung der Geschichte durch Kyot, der Bedeutsamwerdung der zuvor rein materiellen Schrift, scheint der Zeitfaktor keine Rolle zu spielen. Hier wird eine Bedeutung unterhalb der Schrift konserviert und erst später freigesetzt. Im Falle der Prophe-zeiung des Erlösers und der Erlösungsfrage gelingt genau das zuerst nicht. Die eigentlich er-eignishafte Schrift auf dem Gral spricht selbst von einem Wortereignis, welches dann zuerst nicht eintritt, und dekonstruiert damit ihre eigene Ereignishaftigkeit. (Das gilt auch für den Verstoß des Anfortas gegen das Verbot der Minne. Die Gottesworte, welche die Minne des Gralskönig reglementieren sollen, haben auf Anfortas offensichtlich keine auratische Wir-kung). Nun darf das prophetische Gotteswort aber nicht unwahr sein, daher wird es nur weiter aufgeschoben, nicht aufgehoben. Auch das Erlöserwort als bereits angekündigtes Geschehen wird also, wie die Freisetzung der Bedeutung des Grals, zeitlich nach hinten versetzt. Epita-fum und Frage sind hier aneinander gebunden. Beide besitzen einen mythischen Zeichenstatus und sind notwendig wahr.

Die tumpheit Parzivals wird auch in kommunikativer Hinsicht von der Gralsgesellschaft mit beiden Zuständen der Entdifferenzierung, der heiligen und der krisenhaften, in Verbindung gebracht. Sein Schweigen entspricht zum einen der gestörten Kommunikation zwischen Got-teswort auf dem Gral und der davon nicht entflammten und gefesselten Gemeinschaft.

Zugleich ist Parzival, das erfährt die Gemeinschaft in der Episode mit dem Hofnarren, eine Person, die an einem nicht-differentiellen Bewusstsein teilhat, und damit auch wieder an das funktionierende Gotteswort im Epitafum als auratischer Rede erinnert. Daraus resultieren zu-nächst die Vorwürfe der Schuld und der Sünde, welche zur Ausstoßung des Sündenbocks führen. Am Ende aber führt die mythische171 Kommunikation des Helden zur Erlösung und zeichnet ihn wiederum als sakralisierten Gründer der neuen Gesellschaftsordnung aus, welche seine kommunikative Andersartigkeit mythisierend imitiert, indem sie Fragen verbietet. Das Ausschlusskriterium wird zum Einschlusskriterium.

171 Zu Erscheinungsformen mythischer Textualität gibt es, bis auf wenige Ausnahmen, kaum Studien. Andeu-tungsweise beschrieben werden magische Sprechakte und magische Schriften von Ernst, 1995, 113-185. Ent-täuschend wenig Aufmerksamkeit hat die spezielle Konfiguration und Mechanik der Erlösungsfrage im Par-zival auf sich gezogen. Hierzu Christian Gellinek: Die Erlösungsfrage in Wolframs von Eschenbach `Parzi-val´. (Buch XVI 794,24-796,16). In: Sagen mit Sinne. Festschrift für Marie-Luise Dittrich zum 65. Ge-burtstag. Hg.: Helmut Rücker und Kurt Otto Seidel. Göppingen: Verlag Alfred Kümmerle, 1976. S. 157-167.

Wegweisend ist hier die Studie von Strohschneider, 2006 (vgl. Fußnote 169)

Zusammenfassend gesagt: Die Darstellung der Parzivalfigur fällt zum einen durch den Aus-nahmenstatus seiner körperlichen Erscheinung auf, insofern als in ihr die Grenze zwischen den Kategorien des Heiligen und Erotischen verschwimmt, zum anderen in kommunikativer und sozialer Hinsicht durch die besondere Konfiguration seiner Wahrnehmung und seines Zeichenverständnisses, das im vorausgegangenen Kapitel als nicht-differentiell identifiziert wurde. Die Figur Parzivals kann somit in zweierlei Hinsicht als Außenseiter gelten, der aber zugleich an einem Zustand mythischer Unmittelbarkeit und Differenzlosigkeit teilhat.

Damit weicht Parzival zum einen ganz generell von der restlichen Gesellschaft ab: Er ist ein Ausgezeichneter. Ein Fremder, der auffällt. Zum anderen aber erkennt die Gralsgesellschaft in seiner Person und seinem kommunikativen Verhalten ihre Krise, welche aus der Konfrontati-on der Erotik und des Heiligen entstanden ist, wieder. Die Gralsgemeinschaft, die ihre Krise aber als göttliche Strafe versteht, entdeckt in der Figur Parzivals neben ihren irritierenden und störenden Qualitäten auch und zugleich eine mythisch-numinose Aura. Damit besitzt die Par-zivalfigur die Rezeptoren für die ihm durch die Gemeinschaft vorgeworfenen Verbrechen, welche im Folgenden näher untersucht werden sollen. Diese Beobachtung muss zwangsläufig zu einer Revision der Frage nach Schuldhaftigkeit und Sünde des Helden führen.

Für die traditionelle Forschung175 insbesondere der 50er Jahre lag der Schwerpunkt des Interesses hier auf einer angenommenen, hinter dem Text steckenden theologischen Intention und Ethik des Autors, die einlud, etwa aufgrund des Begriffs des zwîvels, auf die augustini-sche Sündenlehre, gnostiaugustini-sche Züge oder eine religiöse Laienbewegung zu schließen176. Nach-dem die Ergebnisse der geistesgeschichtlich inspirierten Interpretationen aber so stark vonein-ander abwichen, ist man mittlerweile dazu übergegangen, auf eine synthetisierende Gesamtin-terpretation zu verzichten und stattdessen von einer bewusst im Text angelegten Mehrdeutig-keit auszugehen. Der Erzähler bediene sich gezielt widersprüchlicher Diskurse und erzähleri-scher Traditionen: Der Fokus verschob sich daher auf poetologische Fragen nach der struktu-rellen Vernetzung dieser einzelnen, heterogenen Elemente und vom Erzählten auf den Erzäh-ler und seine Rollen und Strategien177. Das Interesse galt nun den im Text angelegten Span-nungen und der Technik des Hybridisierens178 anstelle des Versuchs einer harmonisierenden Gesamtinterpretation.

Die Aspekte von Schuld und Sünde haben nach dieser Trendwende etwas an Interesse verlo-ren. Sie tauchen nun eher unter dem Gesichtspunkt auf, wie die in diesem Punkt voneinander abweichenden Stimmen der Figuren und des Erzählers miteinander auf Erzählebene vermittelt sind. Dabei hat man festgestellt, dass insbesondere Wolfram im Gegensatz zu Chrétien durch das Mittel des Perspektivenwechsels zwischen den einzelnen Figuren und der Erzählerper-spektive eine eindeutige Bewertung der Geschehnisse vermeidet.179

175 Es kann und soll hier, bedingt durch das spezifische mythentheoretische Erkenntnisinteresse dieser Arbeit nicht die gesamte Forschungsliteratur zu diesem Thema ausführlich erläutert werden. Von stärkerem Interes-se sind hier die näher zu sichtenden Interpretationen mythentheoretischer Prägung. Eine Übersicht zu den einzelnen Forschungspositionen zum Schuld- und Sündebegriff kann man unter anderem bei Schu, 2002, 252, und Bumke, 2004, 126ff. nachlesen.

176 Wapnewski, 1955, fasst diese religiös orientierten Untersuchungen der 50er Jahre zusammen und zeigt ihre Widersprüchlichkeit und Begrenztheit.

177 Hierzu besonders Konstantin Pratelidis: Tafelrunde und Gral. Die Artuswelt und ihr Verhältnis zur Gralswelt im `Parzival´ Wolframs von Eschenbach. Würzburg: Königshausen und Neumann, 1994, S. 227. Desgleichen Schu, 2002 und Draesner, 1993.

178 Rainer Warning: Heterogenität des Erzählten – Homogenität des Erzählens. Zur Konstitution des höfischen Romans bei Chrétien des Troyes. In WS V (1979). S.79-95. Warning verschiebt hier den Versuch einer Syn-these von der Ebene des Inhalts auf die Ebene der Erzählhaltung: Der Erzähler Chrétien hybridisiere zwar gegensätzliche Diskurse, ironisiere sie und sich als Erzähler aber gleichermaßen (S.93). Für Wolfram wie-derholt Warning, 2004, 20ff. diese Deutung in einer mythentheoretischen Untersuchung zum Parzival.

179 So auch Schu, 2002, 197, die das Schuldigwerden allerdings als poetologische Funktion sieht. Die

Gattungs-Von den Begriffen Schuld oder Sünde selbst hat aber auch diese moderatere Form der Be-trachtung nicht gänzlich Abstand genommen, man spricht nun von einer Verschiebung der Frage nach der Schuld zur Frage nach der Gültigkeit der Perspektiven in der Bewertung dieser Schuld.

Der hier vorgetragene Ansatz stellt nun den Begriff der Schuld oder Sünde mit Girard zur Disposition und versucht zu zeigen, dass in einer mythischen Erzählstruktur diese Kategorien Teile eines Stereotyps der Verkennung sind, welches beide Ebenen der Erzählung, die des Erzählten und die des Erzählens, betrifft: "Die Beziehung zwischen potentiellem Opfer und tatsächlichem Opfer soll nicht in Begriffen von Schuld und Unschuld dargestellt werden. Es gibt nichts zu `sühnen´. Die Gesellschaft bemüht sich, eine Gewalt, die ihre eigenen, um jeden Preis zu schützenden Mitglieder treffen könnte, auf ein relativ wertfreies, `opferfähiges´ Opfer zu leiten."180

Die Schuldzuweisungen dienen in einem Sündenbocksmechanismus lediglich der Kanalisie-rung der Gewalt. "Opferfähig" heißt in diesem Zusammenhang das Fehlen von verwandt-schaftlichen und gemeinverwandt-schaftlichen Bindungen des Opfers an seine Verfolger zur Vermei-dung eines Rachekreislaufs sowie auf der anderen Seite das Vorhandensein von Anknüp-fungspunkten zwischen stellvertretendem Opfer und Gemeinschaft, über welche mittels einer kontaguösen181 Ähnlichkeitsrelation die Gewalt auf den Sündenbock übertragen werden kann.

Die zuvor abstrakt erfahrenen Störungen der Gemeinschaft werden materialisiert und am Körper des vermeintlich Schuldigen befestigt, der wiederum die Gesellschaft substantiell182 mit bestimmten Eigenschaften infiziert. Die daraus entstehende mythische Erzählung führt die Verkennung dieses Zusammenhangs für gewöhnlich fort. Wie sich der Erzähler des Parzival zu diesem Stereotyp verhält, soll dann in Kapitel 5. Reflexion näher betrachtet werden.

mas schuldig wird im Legendenschema: "Die Referenzpluralisierung durch zwei unterschiedliche Gattungs-kontexte bewirkt damit eine Mehrdeutigkeit des Aufbruchs und macht den zukünftigen Weg des Protagonis-ten unvorhersagbar; zudem erschwert sie eine eindeutige Bewertung seiner Handlungen."

180 Girard, 1987, 13

181 Zur Unterscheidung zwischen naturwissenschaftlicher und mythischer Kausalität und dem mythischen Prin-zip der Kontiguität und Konkreszenz siehe Cassirer, 2002, 54 ff.

182 Zum Mechanismus der Verdinglichung und Ansteckung siehe Cassirer, 2002, 66ff. und Girard, 1987, 49 zur wesenhaften Gewalt. Ebenso: Girard, 1988, 53: Die Verfolger unterscheiden nicht zwischen physischer und moralischer Monstrosität: "In zahlreichen Mythen genügt die Nähe des Unglücklichen, um seine ganze Um-gebung anzustecken." (S.57) Der Kausalzusammenhang zwischen der Krise und den Anschuldigungen ist kein naturwissenschaftlicher kausaler, sondern ein mythischer, weil substantialisierter und kontaguöser.

Es gibt zu dieser Frage nach der Schuld oder Unschuld des Helden auch den Versuch mythen-theoretischer Interpretation. Dabei spaltet sich an dieser Stelle die mythentheoretische For-schung in zwei gegenläufige Positionen: Die des ethnologischen Strukturalismus und die der philosophischen Mythentheorie.

Die strukturalistische Richtung war von einem impliziten, mythischen Muster auf Ebene der Erzählung in Form einer Verwandlung der Verwandtschaftsbeziehungen überzeugt. Die Schuld ist in den Augen dieser Untersuchungen der strukturelle Angelpunkt für die Störung verwandtschaftlicher und sexueller Beziehungen und wird daher selten moraltheologisch als Sünde gedeutet, sondern als ursprüngliches mythisches Sexualvergehen. Die unter Einfluss der Theorie Lévi-Strauss` entstandenen Interpretationen richteten ihr Augenmerk verstärkt auf die Komplexe der genealogischen Versippung, die gesellschaftliche Ordnung der Gralsgesell-schaft, ihre Heiratsregeln und das Minneverbot183. Man ist zu dem Schluss gekommen, dass die Heiratspolitik des Romans von einer mythischen Struktur getragen wird, die durch geziel-te Strageziel-tegien einerseits den Fortbestand des Gralsgeschlechts sichern, andererseits eine exgeziel-ten- exten-sive Linienbildung verhindern soll.184 Dahinter steht eine Vorstellung des Mythos als System der Etablierung und Befestigung bestimmter Familiengruppen durch Inzestverbote und Hei-ratsregeln.

Diese Theorie bietet allerdings nur für die in der Gralsgesellschaft möglicherweise eingekap-selte mythische Grundstruktur eine Deutung an, für die gerade bei Wolfram universal ausge-dehnte Linienbildung durch die Rahmenhandlung und den dort ebenfalls entwickelten Gedan-ken der Menschheitsverwandtschaft greift sie jedoch deutlich zu kurz. Dem Erzähler wird dabei ein Bewusstsein von den Verwandtschaftsstrukturen unterstellt, welche er zu manipulie-ren wisse, etwa in Form einer Veränderung der Heiratsregeln von einem patrilineamanipulie-ren zu ei-nem matrilinearen System185.

Die Interpretationen des Parzival mit Hilfe der ethnologischen Mythentheorie interessieren sich ebenfalls nicht dafür, dass es sich bei der Konstruktion der Gralsgesellschaft um eine gleichzeitig in die erzählerische Tradition des Artusromans gestellte Parallelwelt zur Artusge-sellschaft handelt, welche Wolfram durch auffällige Parallelen miteinander verknüpft. Das

183 Wyss, 1979; Bertau, 1983; Schmid, 1986

184 Schmid, 1986, 204: "Indem die gesetzgebende Instanz die männlichen Abkömmlinge als Fremde definiert, kann sie deren Nachkommen immer wieder berufen, ohne dass diesen daraus ein Rechtsanspruch entstünde.

Der Gral hat ein für alle Mal ein Mittel gefunden, das es ihm erlaubt, die Gralsgesellschaft kontinuierlich durch Gralabkömmlinge zu besetzen, ohne dass es dabei je zu einer Ausbildung von Linien käme."

185 Schmid, 1986, 190-191

mythische Muster wird hier nur in der intertextuellen Tiefendimension zu seinen möglichen Quellen oder Varianten (also z.B. Chrétiens Conte du graal) behandelt. Dass die Aspekte des Religiösen und der Minne in einen auf Erzählebene poetisch vermittelten, paradigmatischen, intratextuellen Zusammenhang (hinsichtlich der Begegnung verschiedener erzählerischer Tra-ditionen) gebracht werden können, der Roman neben einer sozialen auch eine poetologische Reichweite besitzt, wird von diesen Interpretationen stark vernachlässigt. Das Mythische wird hier ausschließlich auf der Ebene des Erzählten, nicht (auch) auf der Ebene des Erzählens angesiedelt.

Neben der ethnologischen Forschungslinie etablierte sich eine stärker philosophisch und lite-raturwissenschaftlich ausgerichtete Position, welche dem Text im Gegensatz zu ersterer eine entmythisierende Erzählbewegung unterstellte und dies auf der Ebene des Erzählens begrün-dete. Diese Interpretationen näherten sich dem Text mit Blick auf die Frage nach den christ-lich verstandenen Diskursen von Schuld und Sünde, an denen sich die Frage nach der Mythi-zität des Romans entscheide. Der Parzival Wolframs stelle entweder eine Überwindung der im Gralsreich installierten mythischen Motive186dar, oder etabliere sich in Abgrenzung ge-genüber dem als mythisch empfundenen Artusreich als christliche Welt, wobei gerade die Aspekte der Schuld und Sünde ausschlaggebend für die entmythisierende Bewegung des Tex-tes seien: "Der Mythos trägt von Anfang an die Komplikation in sich, dass der Prädestinierte nicht nur die heile Einfalt verkörpert, sondern schuldbeladen selbst erlösen muss. Damit ist der Weg vorgezeichnet, der aus der geradsinnigen Archetypik hinausführt. Diese schmilzt mit der Schuld, die zur Sünde wird, in die Ritualsymbolik der christlichen Offenbarungsreligion ein. Das bedeutet einen Endpunkt; denn das Christentum muss sich als geoffenbarte Religion in einer natürlichen Gegnerschaft zu aller Mythologie empfinden."187 Der Erzähler leistet hier für viele Interpreten "Arbeit am Mythos".

Mythos und Verfehlung des mythischen Helden passen in den Vorstellungen dieser Untersu-chungen nicht zusammen. Der Mythos wird kaum vom Märchen geschieden und als fraglos glücklich verlaufende Geschichte definiert: "Das ist, im Typ noch einmal verstärkt, die mythi-sche Bestimmung, die mythimythi-sche Bahn des Märchenhelden, die mythimythi-sche Erkennung durch die Frage, das mythische Wunsch- und Märchenglück. [...] Dann aber geht es anders aus. Der Held scheitert [...]"188. Ein Held, der versagt, hat im Mythos für die Interpreten keinen Platz.

Der Schuldkomplex ist der Punkt, an welchen im Parzival zwischen mythischen und

186 Kuhn, 1959 (vgl. Fußnote 109)

187 Fromm, 1989, 16 (vgl. Fußnote 110)

188 Kuhn, 1959, 183

chen Diskursen unterschieden wird, die Schuld eindeutig auf der christlichen Seite des Dis-kurses verortet wird.

Beide Linien der mythentheoretischen Forschung unterscheiden sich im Punkt der Schuldfra-ge nicht von den Positionen der traditionellen, theologisch Schuldfra-geprägten Forschung und Schuldfra-gehen gleichermaßen von einer – allerdings unterschiedlich definierten – Schuld des Helden aus.

In den von der philosophischen Mythentheorie geprägten Interpretationen ist die Schuld keine strukturelle Kategorie, kein Störfaktor, welcher die Erzählbewegung des mythischen Musters in Bewegung setzt, sondern ein moralischer Begriff, der den christlichen Diskurs kennzeich-net. Wolfram habe hier ein mythisches – im Sinne von märchenhaft glückendes – Schema durchbrochen durch die Einführung christlicher Motive, durch die Verwandlung des sonst gelingenden Weges des Märchenhelden in einen steilen Pfad der Buße des Sünders.

Nur wenige Untersuchungen vermerken, dass diese Diskurse dann auf Erzählebene eine hyb-ride Paarung eingehen können, wodurch die dominant christliche Stimmführung dann wie-derum relativiert wird189. Die Dichotomie zwischen Mythos und Christentum bleibt aber auch nach einer solchen Restitution des Mythischen bestehen.

Bevor auf Erzählebene jedoch eine solche Feststellung getroffen werden kann, lohnt es sich, noch einmal einen Schritt zurück zu gehen und zu fragen, ob die Kategorisierungen des Myt-hischen und Christlichen, die an den Begriffen der Schuld und Sünde hauptsächlich befestigt werden und auf welchen diese Interpretationen basieren, so gültig sind. Ob sich das Mythi-sche wirklich in die Schublade "geradsinniger Archetypik" schieben lässt, ist zu bezweifeln und bereits in den vorausgegangenen Kapiteln gezeigt worden. Vielmehr zeichnet sich das Mythische nach Girard eher durch Ambivalenzen und eine Doppelnatur aus, welche auf dem Wesen der Gewalt als zerstörerische und zugleich heilende Kraft beruht. Demnach ergäbe sich die Mehrdeutigkeit des Textes nicht erst aus dem Aufeinandertreffen von christlichen und mythischen Diskursen, die der Erzähler miteinander konfrontiert, sondern läge bereits selbst in der Struktur des Mythischen als das Heilige und Verfluchte beschlossen. Bevor also auf der Ebene des Erzählens die Installation des Mythischen näher beschrieben werden kann, muss zunächst auf der Ebene der Erzählung bestimmt werden, was hier als mythische Form und Inhalt einer narrativen Struktur überhaupt verstanden wird.

Daher soll erneut der Blick auf die Aspekte von Schuld und Sünde und ihren möglicherweise mythischen Charakter als stereotype Verbrechen im nachträglich angelegten Gewand christli-cher Begrifflichkeit gelenkt werden. Unter diesen Voraussetzungen wären die Parzival

189 Kuhn, 1959 und Warning, 2004

geworfenen Sünden und Beschuldigungen dann Projektionen einer gesellschaftsinternen, ent-differenzierenden Krise. Diese Vermutung hat sich bereits an den kommunikativen und kör-perlichen Merkmalen des Helden als Spiegelfläche der gesellschaftlichen Krise angedeutet.

Damit schließt diese Interpretation methodisch zunächst an die strukturalistischen Versuche einer Verortung der "Schuld" als Kettenglied einer Erzählmechanik mit soziologischer Reichweite an, erweitert diese Kategorie jedoch auf die Ebene des Erzählens, welche für die philosophische mythentheoretische Forschungsrichtung bestimmend war. Dabei verbindet sie die beiden bisher getrennt voneinander operierenden mythentheoretischen Forschungspositio-nen. Was den an der philosophisch-literaturwissenschaftlichen Mythentheorie ausgerichteten Interpretationen an Komplexität auf der Ebene des Erzählten - hinsichtlich der Bestimmung des Mythischen - fehlt, vermisst man umgekehrt bei der strukturalistischen Methode auf der Ebene des Erzählens190 - hinsichtlich der poetologischen und intratextuellen Dimension des Romans.

Mit der Theorie Girards soll versucht werden, beide Ebenen gleichermaßen zu gewichten und zu beobachten. Nach seiner Auffassung sind für die richtige Einschätzung der Mythizität ei-nes Textes beide Stufen von gleicher Wichtigkeit, da sich zwar auf der Ebene des Dargestell-ten eine stereotypes Erzählmuster konstatieren lässt, sich die Mythizität jedoch erst auf Ebene der Darstellung entscheidet.

190 Diese Lücke beruht auf der mit der Sprachtheorie verbundenen Mythostheorie Lévi-Strauss`, der den Mythos als reinen Sinnträger bestimmt und ihm jegliche poetische oder stilistische Qualität abspricht: "Der Mythos ist Sprache; aber eine Sprache, die auf einem sehr hohen Niveau arbeitet, wo der Sinn, wenn man so sagen darf, sich vom Sprachuntergrund ablöst, auf dem er anfänglich lag." Die Formulierung selbst spielt für den Mythos demnach keinerlei Rolle. Claude Lévi-Strauss: Die Struktur der Mythen. In: Strukturale Anthropolo-gie. Übersetzt von Hans Naumann. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1967. S.228

2.2.1. Die Gralsgesellschaft und ihre Krise

Wie bereits kurz referiert, setzt sich der mythische Mechanismus des Sündenbocks aus ver-schiedenen Stereotypen zusammen: Der gesellschaftlichen Krise, den Opferzeichen, den ent-differenzierenden Verbrechen, der Ausstoßung und der Sakralisierung.

Zwischen den einzelnen Stufen gibt es Schnittstellen, über welche die Gewalt aus der Gesell-schaft in eine Einzelperson abfließt. Diese Schnittstellen zeichnen sich durch das Merkmal der kontaguösen Ähnlichkeit, nicht naturwissenschaftlichen Ursächlichkeit in Bezug auf die Erfahrung der Entdifferenzierung aus.

Im ersten Abschnitt der doppelten Verkennung, der Dämonisierung des Opfers, ist die Entdif-ferenzierung ein Erlebnis des schmerzvollen Verlusts von Identität und gesellschaftlicher Ordnung. Im zweiten Abschnitt der doppelten Verkennung, der Sakralisierung des Opfers nach Befreiung von der zerstörerischen Gewalt, ist die Entdifferenzierung dann lustvolles Erlebnis der Entgrenzung und Verschmelzung im wieder abgesicherten rituellen Rahmen. Der Begriff der Entdifferenzierung, der in der Forschung vielfach einseitig verwendet wird und sich ausschließlich auf letztere Erfahrung der lustvollen Entgrenzung bezieht, bedarf an dieser Stelle dringend der Erweiterung. Der Verlust von Grenzen ist immer auch mit der Gefahr des vollständigen und dauerhaften Verlusts jeglicher Ordnung verbunden191. Die zweite Erfah-rung der EntdifferenzieErfah-rung kann erst dann wieder erlebt werden, wenn die Gewalt als Ursa-che der ersten Entdifferenzierung aus der Gesellschaft entfernt ist.

Das geschieht über die Projektion der Merkmale der Krise – des Verlusts von geschlechtli-chen (Mann-Frau, Eltern-Kinder), sozialen (Religion und Herrschaft) und natürligeschlechtli-chen (Mensch-Tier, Leben-Tod) Grenzen – auf eine Einzelperson, welche Rezeptoren für diese Projektion in Form von entdifferenzierenden Körperzeichen und vermeintlich begangenen entdifferenzierenden Verbrechen besitzt.

Für die Erfassung einer solchen potentiell in den Text eingelagerten mythischen Struktur gilt es, neben den bereits nach einem oberflächlichen Blick festgestellten Stereotypen der Krise der Gralsgesellschaft und der entdifferenzierenden Verbrechen (gegen die Mutter, den Ver-wandten, den König und Gott) genauer die Schnittstellen zwischen den beiden Stereotypen zu beschreiben und zu überprüfen, ob die vorgeworfenen Verbrechen zu den Formen der Entdif-ferenzierung in der Krise passen.

191 Deleuze/Guattari beschreiben neben Girard diesen Zustand der Auflösung von Ordnung, welcher den Mythen und Ritualen vorausgeht, bewerten ihn aber positiv als Möglichkeit der Umschreibung erstarrter Normen (vgl. Fußnote 97)

Zunächst soll daher auf Ebene des Erzählten das mythische Strukturelement der Krise be-schrieben werden, welche sich auf Munsalvaesche ausgebreitet hat. Dazu ist es nötig, erst die Gralsgemeinschaft selbst und ihre Regeln zu betrachten, um anschließend auf die Störung dieser Ordnung einzugehen. Anschließend kann dann eine Verbindung zur Figur des Sünden-bocks anhand des Stereotyps entdifferenzierender Verbrechen geknüpft werden.

Dabei ist die sich zwischen den Positionen der Gesellschaft und ihres Opfers verändernde Beziehung von Interesse: Wie kommt es zur bereits an den Merkmalen der Schönheit und tumpheit als Opferzeichen geschilderten Mechanik der Stellvertretung, basierend auf einer mythischen Ähnlichkeitsrelation, die in eine Kausalität192 umkippt? Wie werden Gesellschaft und Sündenbock über den Kanal der Gewalt verbunden, welche zunächst zur Ausstoßung, anschließend zur Sakralisierung führt?

192 Vgl. hierzu Kapitel 2.1.2.1 tumpheit und dort insbesondere Anmerkung 141 zum besonderen Verständnis der Ähnlichkeit als Kriterium der Kausalität im mythischen Denken.