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Einordnung dieser Arbeit in die mythentheoretische Parzival-Forschung

1. gesmaehet und gezieret – Parzival als ambivalente Figur

1.3 Einordnung dieser Arbeit in die mythentheoretische Parzival-Forschung

1.3 Einordnung dieser Arbeit in die mythentheoretische

renzierendes Verbrechen (den Muttertod) durch ein anderes (den Verwandtenmord). Hier soll-te die von Kiening vorgeschlagene Methode fruchtbar gemacht werden, besonders die im Vergleich zusammenhängender Texte entstehenden Bruch- und Anschlussstellen ins Auge zu fassen: "Was sie [die mythische Erzählung Anm.d.Verf.] nicht zu erklären und zu begründen brauchte, rückt in den Supplementen ins Zentrum. Die Eigenart der mythischen Erzählung wird sichtbar in ihrer Umschrift."103 Diese Umschrift kann wiederum entmythisierende Erklä-rungsmuster mythischer Phänomene - im Sinne von göttlicher Unverfügbarkeit und Allmacht - transportieren, ist aber, wie Kiening zeigt, häufig selbst aufgezäumt auf ein mythisches Er-zählmodell und ersetzt ein mythisches Element bei der Beseitigung durch ein anderes. Das Augenmerk ist also einerseits auf die – wie schon angedeutet wurde – komplexen und nicht dichotom zu fassenden Durchdringungen von mythischen und christlichen Kategorien zu rich-ten. Zum anderen – und damit verbunden – eröffnet sich ein weiteres Spielfeld, auf welchem sich genealogische Modelle gegenüberstehen. Der Roman entwirft einerseits die exklusive Sippe des Gralsgeschlechts, die sich gegen Ende des Romans in ein unauffindbares Dunkel verliert:

vil liut liez dô verderben nâch dem grâle gewerbes list,

dâ von er noch verborgen ist (786.10-12)

Andererseits stehen daneben die ausgedehnten Verflechtungen der Verwandtschaft und zugleich die im neunten Buch entworfenen, auf die Bibel rekurrierenden Ausführungen Trev-rizents zur Menschheitsverwandtschaft und der Adamsabstammung.104 Auch hier ist bereits ein Konfliktpotential zwischen genealogischer Exklusivität und einer allgemeinmenschlichen Abstammung vom Urvater Adam angelegt.105 Hier sind ebenfalls komplexere Verbindungen zwischen christlichen und mythischen Modellen zu erwarten, die sich nicht einfach exklusiv und gegensätzlich gegenüberstehen.

103 Kiening, 2004, 40

104 Kiening, 2004, 56 hat gezeigt, wie stark sich in mittelalterlichen Texten mythische und kerygmatische Strö-mungen durchdringen: Dass Erzählungen, die einen oftmals auch mythischen Bibeltext ins christliche Welt-bild zu integrieren versuchen, sich dabei aber auch wiederum mythischer Bilder bedienen.

105 Zum Problem der Genealogie siehe u.a. Kellner, 2004, 136. Kellner illustriert hier, dass "die große, universale Geschichte vom Ursprung der Welt und der Menschheit konfligiert mit den partikularen Erzählungen vom Ursprung einzelner Gruppen."

Desweiteren wird auch die – in zahlreichen Interpretationen oppositionell gefasste – Bezie-hung von Mythos und Literatur106 eine nicht unwesentliche Rolle spielen. Der Parzivâl Wolf-rams steht als Text zum einen in Beziehung zu seiner Quelle Chrétien, mit der er sich poeto-logisch auseinandersetzt, zum anderen entwirft er durch zahlreiche intertextuelle Verweise eine Verbindung zu anderen literarischen Werken des Mittelalters, insbesondere den Artus-romanen. Auch hier ist zu untersuchen, wie dort möglicherweise eingeschriebene mythische Muster107 in der von Kiening beschriebenen Art und Weise durch den Parzivalroman aufge-griffen und modifiziert werden. Auf diesen Komplex soll insbesondere in Kapitel 3. Gawan-handlung, näher eingegangen werden. Auch für die Beziehung zwischen Mythos und Litera-tur zeichnet sich daher keine strenge Differenz ab, sondern eine Verflechtung literarischer mit mythischen Kategorien.

Bisher hat sich nur eine begrenze Anzahl von Arbeiten auf eine mythentheoretische Analyse des Parzival eingelassen, welche anhand der drei – oft dualistisch verstandenen - Paare von Mythos und Genealogie (hier dominierte lange Zeit die ethnologische Methode des Struktura-lismus nach Lévi-Strauss, mit deren Hilfe im Roman die Verhandlung bestimmter Verwandt-schaftsstrukturen bestimmt wurde108), Mythos und Christentum109 sowie Mythos und Litera-tur110 versuchten, Re- oder Entmythisierungstendenzen des Textes zu bestimmen. Auf die einzelnen Interpretationen soll zu gegebener Zeit ausführlicher eingegangen werden.

106 So z.B. Haug, 2002 (vgl. Fußnote 10) und Haug, 1989a. Vgl.: Walter Haug: Zum Verhältnis von Mythos und Literatur. Methoden und Denkmodelle anhand einer Beispielreihe von Njodr und Skadi über Nala und Da-mayanti zu Amphitrion und Alkmene. (1979) In: Strukturen als Schlüssel zur Welt. Kleine Schriften zur Er-zählliteratur des Mittelalters. Tübingen: Max Niemeyer Verlag, 1989. S. 21-36

107 Den Artusromanen wird in der mediävistischen Mythenforschung mythisches Potential in unterschiedlichster Qualität zugeschrieben. Hier variieren die Ansichten stark. Mal wird betont, dass der Artusroman anhand seiner künstlichen Doppelstruktur einen einfachen, mythisch gedachten Initiationsweg überwindet und myt-hische Denkmuster untergräbt. (Haug, 2002, 247-267). Dann wiederum wird für den Artushof das Konzept einer mythischen Zeitauffassung nach Eliade bemüht und der Artuswelt Mythizität attestiert (vgl. Alfred E-benbauer und Ulrich Wyss: Der mythologische Entwurf der höfischen Gesellschaft im Artusroman. In: Höfi-sche Literatur. Hofgesellschaft. HöfiHöfi-sche Lebensformen um 1200. Hg.: Gert Kaiser und Jan-Dirk Müller.

Düsseldorf: Droste Verlag, 1986. S. 513-539. Unbestritten ist, dass es in den Artusromanen eingekapselte mythische Substrate gibt.

108 Lévi-Strauss, 1985; Wyss, 1979; Bertau, 1983; Schmid, 1986 (vgl. Fußnote 10)

109 Hugo Kuhn: Parzival. Ein Versuch über Mythos, Glaube und Dichtung im Mittelalter. In: Dichtung und Welt im Mittelalter. Stuttgart: J.B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung, 1959. S. 151-180

110 Hans Fromm: Aufklärung und neuer Mythos im Hohen Mittelalter. In: Arbeiten zur deutschen Literatur des

Das Zugrundeliegen einer eigenen narrativen, mythischen Struktur der Parzivalhandlung ist dagegen für den Roman bisher noch nicht untersucht worden. Die Arbeitshypothese für das weitere Vorgehen lautet aufgrund dieser Lücke, ausgehend vom Indiz der Dämonisierung und Sakralisierung der Parzivalfigur: Hinter der Erzählstruktur des Parzival verbirgt sich das mythische Muster eines versöhnenden Opfers, eines Sündenbocks, der zum Vorbild für eine neue Gesellschaftsordnung und deren Gesetze und Rituale werden wird111.

Es gilt nun zu fragen, welche Aspekte der Lektüre sich im Gegensatz zur traditionellen Lesart (und natürlich auch zu den bisher entstandenen mythentheoretischen Studien) verändern, wenn man den Text unter eine mythentheoretische Linse nach Girard legt. Es erscheint für das weitere Vorgehen sachdienlich, dem narrativen Ablauf des Parzivalromans zu folgen, um nicht in die Versuchung einer deduktiv-anachronistischen Verbiegung des Textes zu kommen.

Dabei sollen bestimmte Einzelszenen, welche bereits in der kurzen Verortung der mythischen Stereotypen als Kettenglieder einer narrativen Struktur bestimmt worden sind, genauer unter die Lupe genommen werden. Auf literaturwissenschaftlicher Seite hat diese Lesart, sofern sie sich als schlüssig erweisen sollte, die Veränderung bestimmter Sichtweisen zur Folge. Zum einen ist es der erneute Versuch einer etwas aus der Mode gekommen Gesamtinterpretation des Parzival, vorgezeichnet durch eine Mythostheorie, welche sich als Analyse einer über-greifenden Erzählstruktur versteht. Da nach Girard alle Mythen dem selben stereotypen Mus-ter folgen, besteht die erste Aufgabe dieser InMus-terpretation in der Ausleuchtung derjenigen Textstellen, welche die Knotenpunkte des mythentheoretischen Musters ausmachen. Es sind dies die fünf Stereotypen der Verfolgung: Die entdifferenzierende Krise der Gesellschaft (1), die kollektive Anschuldigung eines Einzelnen als Verantwortlichen der Krise (2), welcher physische und soziale Zeichen trägt, die ihn als Opfer markieren (3), und seine gewaltsame Ausstoßung (4). In den Mythen folgt schließlich – stärker ausgeprägt als in den historischen Verfolgungstexten – die Katharsis der Gemeinschaft und die Sakralisierung des Opfers mit anschließender Neuordnung der Gesellschaft (5). Umgelegt auf die philologische Betrachtung bedeutet dies eine Neubeschreibung des gesamten theologischen Komplexes, der

111 Ohne sich auf die Theorie Girards zu beziehen, bemerkt auch Hasty einen solchen Mechanismus, allerdings begrenzt auf die Tötung Ithers durch Parzival und vor dem Hintergrund seiner These, dass Parzival die Ar-tusgesellschaft von einer Krise befreit: "The armor also binds Ither and Parzival together , in the common i-dentity of the Red Knight, as two expendable outsiders who can be sacrificed for the benefit of the court.

[..]Parzival, sacrificed by the court when sent out to face Ither, ultimately becomes the savior of the court in Ither`s armor. The Red Knight dies for the sins of court society, only to arise again and eliminate these sins in adventure." (58) Vgl.: Will Hasty: Adventure as Social Performance. A Study of the German Court Epic.

Tübingen: Max Niemeyer Verlag, 1990

schaft, der Figur Parzivals, seiner vermeintlichen "Schuld" oder gar seiner "Sünden", seiner tumpheit, seines Verschwindens und seiner Inthronisation, verbunden mit den Fragen nach Gnade, Buße, Demut und innerer Umkehr. Aus der Verbindung dieser Knotenpunkte als ent-scheidende Weichen der Handlungsführung ergibt sich folglich auch eine neue Perspektive auf die gesamte Erzählbewegung als strukturelles Muster als Alternative zum doppelten Handlungskreislauf als Strickmuster der Artusromane, welches sich für den Parzival als nicht mehr passend erwiesen hat112. Daneben gibt es auf einer weiteren Ebene neuen Raum für Fra-gen nach der Poetik Wolframs. Wie bereits kurz angedeutet und von der Forschung als

"Mehrdeutigkeit"113 beschrieben, gibt es im Roman neben der mythischen Erzählstruktur des Sündenbocks auch noch den intertextuellen Verweis auf die literarische Tradition des Artus-romans, der durch die âventiuren Gawans als Vertreters der Artushofs in den Text einbezogen wird. Durch den Vergleich hinsichtlich ihrer jeweiligen Mythizität von beiden Erzählstruktu-ren114, die von jeweils einem Handlungsträger repräsentiert werden, lassen sich wiederum Rückschlüsse auf möglicherweise poetologisch bewusst einbezogene Strategien der Auratisie-rung von Texten ziehen.

Auch die Gahmuret-Feirefiz-Rahmenhandlung als eigener Textbaustein kann in ein neues Verhältnis zur Parzival- und Gawanhandlung gesetzt werden und spielt für die Neubeantwor-tung der Frage nach den Bewegungen der Mythisierung oder auch Entmythisierung des Tex-tes eine entscheidende Rolle. In diesem Punkt kann dann vermutlich der Blick nicht mehr auf die zwischen Mythos und Literatur verhandelten Bewegungen von Re- oder Entmythisierung beschränkt bleiben. Die Ausweitung des Textes auf eine außerliterarische Realität wirft neue Fragen auf, welche Strategien ein potentiell mythischer Text damit verfolgt. Es ist sicher nicht zu leugnen, dass der Roman durch seinen eigens entworfenen weltgeschichtlichen und orien-talischen Rahmen vermutlich nicht nur eine literarische Unterhaltungsfunktion besitzt.

Wie aus diesem kurzen Ausblick bereits zu erkennen ist, gibt es kaum einen Aspekt des Ro-mans, der nicht von der angesetzten neuen Lesart betroffen ist. Das verdankt sich der

112 Vgl. Haug, 1989, 483-521; Simon, 1990, 76; Draesner, 1993, 295 und Schu, 2002, 199 (vgl. Fußnote 28)

113 U.a. Bumke, 2004, 125

114 Auch die Gawanhandlung spielt sich nicht mehr im Rahmen eines doppelten Kursus ab, dennoch wird vom Autor Wolfram in den Eingangsversen des XII. Buchs deutlich auf die literarische Tradition der Artusromae verwiesen, in welcher die Gawanfigur steht. Mit Erzählstruktur ist an dieser Stelle nicht der zitierte, aber e-ben unausgeführte Doppelweg gemeint, sondern lediglich ein bestimmter, häufig wiederkehrender Teil dieser Struktur, der allerdings älteren Ursprungs ist: Der Besuch des Vertreters der Artuswelt in einer externen An-derwelt.

che, dass es sich bei der Theorie Girards um einen gesamtinterpretatorischen Ansatz handelt, der sowohl inhaltliche wie formale und pragmatische Ebenen umfasst.

Hier kann verständlicherweise an bestimmten Stellen nur ein Ausblick gegeben werden, der sich als Fragestellung für weitere und intensivere Forschung versteht. Das Hauptgewicht der Untersuchung liegt auf der Herausarbeitung eines narrativen Musters und der Neubestimmung der Handlungsweges der Parzivalfigur nicht als Weg der Sünde und Buße, der Erkenntnis oder der Initiation, sondern als Irrfahrt eines Vertrieben, der Opfer einer gesellschaftlichen Verstoßung im Moment der Krise geworden ist, zu deren Bereinigung er so beiträgt.

Die beiden anderen Handlungsstränge, die in den Kapiteln 3 und 4 beobachtet werden, kön-nen dann in ein Verhältnis zur angenommen mythischen Struktur der Parzivalhandlung ge-setzt werden. Von besonderem Interesse ist hierbei das Verhältnis, in welches diese narrative Struktur zum alternativen Erzählmuster des Artusromans tritt, der in den Text selbst als Refe-renz eingekapselt ist – ebenso, wie sich der Autor dazu in reflektierenden Erzählerkommenta-ren positioniert. Naturgemäß kommt diesen Beobachtungen ein Stellenwert spielerischen Er-probens zu, da sich Gawan- und Rahmenhandlung nicht mehr in das von Girard konstruierte Modell integrieren lassen und die vermeintliche Absicht des Autors hinter dieser Kombinati-on unterschiedlicher Erzählmuster eine rein hypothetische Annahme bleiben muß. Dennoch soll versucht werden, dass Girardsche Konzept konsequent zu Ende zu denken, wobei die Komplexität des Parzival dann auch die Grenzen der Girardschen Theorie aufzeigen kann.