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Blutstropfenszene und blutende Lanze

2. Parzivalhandlung

2.2. Schuld und Sünde?

2.2.3. Verbrechen des Sündenbocks

2.2.3.2. Blutstropfenszene und blutende Lanze

Das Gift ist dabei lediglich ein Phänomen der sonst überall vorherrschenden Gewalt in der Gralsgesellschaft. Neben dem Gift ist es auch das Blut, welches die Gesellschaft in der Krise und ihr versöhnendes Opfer als Schleuse der kathartischen Gewalt miteinander verbindet.

Gewalt wird hier erneut sichtbar gemacht durch das Blut des Anfortas, welches wie auch die Vergiftung Folge der ursprünglichen Kommunikationsstörung zwischen Anfortas und Gott ist. Das Blut aus der Hodenwunde des Gralskönigs wird im Verlauf der Erzählung strukturell durch das Blut Parzivals und seine damit verbundene Kommunikationsstörung ersetzt.

Bereits beim Eintritt in die Burg markiert sich Parzival als Träger von Gewalt, als ihm beim Ballen der Fäuste gegen den Hofnarren, den er nicht versteht, das Blut unter den Nägeln her-vorspritzt. Auch hier gehen kommunikative Fehlleistung und Blut eine Fusion ein. Auch hier wird ein zuvor prozessual und kausal getrennter Zusammenhang (die Kommunikationsstö-rung zwischen Anfortas und dem Gotteswort führt zur Verwundung, Lanzenoperation und Lanzenschauspiel) konkreszent zusammengebracht: Das Ballen der Fäuste und das spritzende Blut sind Ausdruck der nicht gelingenden Kommunikation.

Girard zeigt neben der Vergiftungsthematik auch an Blutritualen und Blut-Tabus, wie der Substitutionsmechanismus des einen durch ein anderes Opfer, der gefährlichen durch die hei-lende Gewalt umgesetzt wird. Die nur abstrakte Größe der Gewalt wird symbolisch fassbar in der Gestalt des Blutes. Fließendes Blut verweist immer auf die Anwesenheit von Gewalt:

"Sobald die Gewalt ausbricht, wird Blut sichtbar."246

Häufig wird bei der Opferung das zuvor unreine Blut durch reines Blut ersetzt: "Es ist klar, dass das Blut das ganze Handlungsspektrum der Gewalt veranschaulicht. Wir haben bereits von versehentlich oder böswillig vergossenem Blut gesprochen; es ist dieses Blut, das noch am Opfer trocknet, seine Klarheit verliert, trüb und schmutzig wird, Krusten bildet und sich schichtenweise ablöst; das Blut, das an Ort und Stelle alt wird, und das unreine Blut von Ge-walt, Krankheit und Tod sind eins. Diesem bösen Blut stellt sich das frische Blut der eben dargebrachten Opfer entgegen, das immer flüssig und rot bleibt, weil es im Ritual erst im Au-genblick des Vergießens gebraucht wird und gleich wieder weggewischt wird."247 Girard un-tersucht in diesem Zusammenhang verschiedene rituelle Regeln, welche um das Verbergen von fließendem Blut kreisen, und stellt dabei fest, dass es sich in zahlreichen Fällen um Tabus

246 Girard, 1987, 55

247 Girard, 1987, 59

handelt, welche die Sexualität betreffen248. Die Frage nach den Gründen für die Unreinheit des Blutes in geschlechtlichen Dingen beantwortet Girard mit der engen Verbindung von Se-xualität und Gewalt. Grund dieser Verbindung ist das hohe Konfliktpotential der SeSe-xualität249. Immer wieder ist sie Ursache für Eifersucht, Chaos und Kampf. Die Gefahr der Gewalt wird über das auch in der Sexualität vergossene Blut als mythische Ähnlichkeitsrelation sichtbar und muss deshalb verborgen werden. Das im geschlechtlichen Rahmen vergossene Blut ist deshalb unrein, weil es stets an das konfliktbeladene Gewaltpotential der Sexualität erinnert, welches geeignet ist, in eine weitreichende Krise zu führen.

Im Parzival gibt es zwei exemplarische Szenen, in welchen dieser Zusammenhang zwischen Gewalt und Sexualität anhand von fließendem Blut zu beobachten ist: Das Lanzenschauspiel und die Blutstropfenszene. An diesen hypothetisch paradigmatisch zusammenhängenden Sze-nen soll gezeigt werden, wie durch die Ausstoßung Parzivals das unreine Blut des Anfortas – und damit die unreine Gewalt – durch das reine Blut und die versöhnende Gewalt an einem Opfer ersetzt wird und die ursprüngliche Differenz zwischen Minne und Gott wiederherge-stellt wird. Auch hier ist das Blut erneut an eine kommunikative Besonderheit des Helden gebunden. Dagegen verweist das Lanzenblut auf die Störung der Kommunikation zwischen Gott und der Gralsgesellschaft, da durch die Übertretung des Gebotes die Behandlung mit der Lanze erst notwendig wird. Das Blut auf der Lanze ist sichtbar gewordener Ausdruck des kommunikativen Scheiterns zwischen Gott und der Gemeinschaft.

Einen mythischen Zusammenhang zwischen den zwei zwar räumlich, zeitlich und auch the-matisch getrennten Episoden sieht auch Quast250, der die beiden Szenen aufgrund eines spe-ziell dort angewandten Zeichentypus` als Ähnlichkeitsrelation miteinander verbunden sieht.

Die beiden Räume stehen für zwei unterschiedliche Wertkomplexe, "Minne- und Gralsthema-tik werden vermöge eines prominent greifbaren veruneindeutigenden Zeichengebrauchs in einen programmatischen Zusammenhang gerückt."251

248 Girard zieht hier insbesondere eines der populärsten rituellen Tabus heran: Das Menstruationsblut.

249 Girard begründet die Umkehrung der Rangreihenfolge zwischen Gewalt und Sexualität in seiner Mythentheo-rie gegenüber der TheoMythentheo-rie Lévi-Strauss mit dem Hinweis auf den kollektiven Charakter der Gewalt, im Ge-gensatz zur für gewöhnlich nicht kollektiven Ausübung von Sexualität. Nicht die Sexualität, sondern die hin-ter ihr lauernde Gewalt ist der Grund für die zahlreichen rituellen Regeln, welche sich um die Sexualität ran-ken.

250 Quast, 2003, 45-60 (vgl. Fußnote 13)

251 Quast, 2003, 48

Quast unterscheidet für den Parzival drei Zeichentypen: Den Bereich der Unmittelbarkeit und des nicht-differentiellen, mythischen Zeichens; den Bereich des Zeichens, welches trennt in Wort und Bedeutung und – dies die entscheidende Beobachtung - einen dritten Bereich, in welchem Wolfram beide Zeichentypen miteinander in Berührung bringt: "Wolframs Parzival reflektiert mithin ein dreifach diversifiziertes Zeichenverstehen, indem zwischen einem myt-hischen, einem differentiellen und einem die Differenz aufhebenden literarisch-mythischen Zeichenbegriff unterschieden wird."252

Quast demonstriert den Typus des mythischen Zeichens in der Elternvorgeschichte anhand des Hemdes der Herzeloyde, welches Gahmuret im Kampf über der Rüstung trägt, und wel-ches anschließend wieder von Herzeloyde getragen wird: "Indem sie die zerfetzen Hemden auf der bloßen Haut trägt, hat sie teil an den Kämpfen ihres Mannes, indem Gahmuret sich die Seidenhemden seiner Frau über die Rüstung streift, begleitet ihn ihre Liebe ins Turnier."253 Nach Gahmurets Tod bestattet Herzeloyde das blutbefleckte Hemd und die Lanzenspitze, welche ihr anstelle der Leiche geschickt worden sind. "Bei Hemd und Lanzenspitze handelt es sich um Berührungsreliquien, die Gahmuret nicht nur bezeichnen, sie sind vielmehr, weil sie mit Gahmuret in Berührung gekommen sind, Teil Gahmurets. Das Entscheidende ist, dass durch diese Berührung die Zeichen mehr sind als Zeichen, die lediglich auf etwas verwei-sen."254 Im Gegensatz zu diesem metonymisch funktionierenden Zeichentypus der Kontiguität und Präsenz demonstriert Quast in der ersten Nacht Parzivals auf Pelrapeire einen differentiel-len, metaphorischen Zeichentypus. Condwiramurs trägt bei der ersten nächtlichen Begegnung ebenfalls ein Hemd, auch hier wird die Thematik des Kampfes aufgerufen:

an ir was werlîchiu wât, ein hemde wîz sîdîn:

waz möhte kampflîcher sîn (192.14-16)

Doch geht es in dieser Szene gerade nicht um die metonymische Austauschbarkeit von Hemd, Blut und Geliebtem, sondern um eine metaphorische Ersetzung: In der ersten Nacht trägt Condwiramurs ein Hemd als Rüstung und bleibt unberührt. Im Lanzenschauspiel als Ort des literarisch-mythischen Zeichens kann nun, laut Quast, nicht klar entschieden werden, ob die Lanze, welche in den Saal getragen wird, von selbst blutet, oder blutbefleckt von einer voran-gegangenen Operation ist. Blutet sie, und ist sie damit mythisches Zeichen, weil sie in die Nähe des verwundeten Anfortas kommt – herrscht somit das Prinzip der Partizipation und

252 Quast, 2003, 47

253 Quast, 2003, 49

254 Quast, 2003, 50

Kontiguität – oder ist das Blut lediglich Verweis auf die Heilbehandlung, damit Verweis auf etwas Anderes als sie selbst? Wolfram konstruiert hier bewusst eine Uneindeutigkeit. Die Blutstropfenszene, so Quast, verbindet ebenfalls mythisches und differentielles Zeichen zu einem dritten. Metaphorischer Verweis, also Differenz und Identität, tauchen hier gleicherma-ßen auf. Eine zunächst geschaffene Distanz zwischen dem Zeichen, in diesem Falle den Blutstropfen, und dem damit Bezeichneten, der entfernten Geliebten, wird plötzlich aufgeho-ben und subvertiert: "Wenn man will, kann man hier von einer dekonstruktiven Schreibweise reden, der daran liegt, die vorausgesetzten polaren Kategorien zu subvertieren und in Aporien zu führen. Das Bezeichnete erscheint so im Zeichen, das Zeichen im Bezeichneten, aber dies unter Wahrung der Differenz von Zeichen und Bezeichnetem."255

Durch die Ähnlichkeitsrelation der Blutstropfen mit dem Antlitz der Geliebten wird das Sub-jekt austauschbar: "In der Blutstropfenszene ist Condwiramurs aber nicht nur als geistiges Bild, sondern dinglich-zeichenhaft und real präsent."256 Anders als in der Elternvorgeschichte gibt es in der Minne zwischen Parzival und Condwiramurs bereits einen Begriff der Reprä-sentation, der aber immer wieder unterlaufen wird durch Realpräsenzen: "Man könnte das Verhältnis von Gahmuret- und Parzivalhandlung als erzählerische `Arbeit am Mythos´ verste-hen, insofern vorreflexiv-mythische Symbolisierung (blutiges Hemd als Reliquie) einer zei-chendifferentiellen Rationalisierung (Blutstropfen als Zeichen) unterzogen wird."257

Die "Zeichenambiguität", welche dagegen in den zwei Räumen des Lanzenschauspiels und der Blutstropfenszene in Form einer Gleichzeitigkeit und Berührung beider Zeichentypen hergestellt wird, ist wiederum mythischer Natur258, weil so die beiden getrennten, Unter-schiedliches beherbergenden Räume in Beziehung gesetzt werden, und beantwortet so die Frage nach der Vereinbarkeit von Minnewelt und Gralswelt. Die semiotische Verbindung der zwei getrennten Räume bedeutet, so Quast, auch eine ideologische Vereinigung.

An dieser Stelle soll auf zwei Dinge hingewiesen werden: Auf der Gralsburg herrscht nicht nur der "literarisch-mythische", zwischen Differenz und Identität schwankende Zeichenstatus, sondern auch ein intakter nicht-differentieller: Die Schrift auf dem Gral ist Gottes Wort und damit nicht metaphorisch. Der gesamte Raum259 der Gralsburg ist ebenfalls mythischer

255 Quast, 2003, 54

256 Quast, 2003, 55

257 Quast, 2003, 56

258 Hier dann mythisch im Sinne Lugowskis, weil paradigmatisch zusammenhängend (vgl. Fußnote 18).

259 Vgl. hierzu ausführlich Kapitel 3.3. Schastel marveil - Munsalvaesche

sensart: im pardîse, welches durch den Gral hergestellt wird, herrschen Fülle und Jugend, Zeitlosigkeit und Gottesanwesenheit. Zwar ist im Augenblick von Parzivals Besuch der myt-hische Zeichenstatus ausgesetzt, war jedoch einst vorhanden und wird durch die Erlösungs-worte wieder hergestellt. Ebenfalls problematisch ist die Annahme Quasts, dass durch die semiotisch hergestellte Beziehung der beiden Szenen aufeinander Gralsthematik und Minne-thematik in einen Zusammenhang gerückt würden. Nun ist es aber gerade nicht der Gral, für den ein literarisch-mythisches Zeichen verwendet wird, sondern die Lanze. Die Lanze ist aber gerade nicht Symbol für das Gralsreich, sondern im Gegenteil für die Beschädigung des heili-gen Raums durch Anfortas fatale Minne und die Gewalt, und damit thematisch identisch und nicht verschieden von Blut und Schnee. Was hier in paradigmatischen Zusammenhang gesetzt wird, sind zwei ähnliche, aber doch im Wesentlichen verschiedene Szenen von Minne und Gewalt.

Durch den von Wolfram eingesetzten Zeichentyp werden also nicht grundsätzlich alle Prä-senzphänomene entmythisiert, sondern lediglich Bereiche, in denen es um die (unreine) Be-rührung von Minne und Gewalt geht: Um Minne als Ursache von Gewalt und Minne als nu-minose Gewalt (Amor). Was Wolfram hier also vornimmt, ist eine semiotische – das sieht Quast sicher richtig – aber eben auch inhaltliche Trennung von Minne und Gewalt. Die in der Elternvorgeschichte vorgeführte Minnebeziehung zwischen Gahmuret und Herzeloyde, in der Quast einen "anfänglichen Idealzustand"260 sieht, weil Minne und Kampf nicht getrennt wer-den, zieht immerhin den Tod nach sich261. Diese fast immer mit der Minne verbundene Ge-walt bedroht alle drei im Parzival gezeigten Gesellschaften: Das Clinschorreich, den Artushof und Munsalvaesche262.

260 Quast, 2003, 49

261 Diesen Unterschied zwischen den unterschiedlich konfigurierten Generationen, die im Parzival aufgefächert werden, hat Brunner, 1983, 63ff herausgearbeitet. Er verweist dabei insbesondere auf den Hauptunterschied zwischen der vor-arthurischen Ritterwelt der Elternvorgeschichte im Gegensatz zur arturischen Ritterwelt: In der vor-arturischen Welt ist der Kampf "Ernstkampf, der auf den Tod des Gegners abzielt [...] im allgemei-nen herrscht in dieser Welt der Totschlag" (64). Vgl. Horst Brunner: Artus der wise höfsche man. Zur imma-nenten Historizität der Ritterwerlt im `Parzival´ Wolframs von Eschenbach. In: Germanistik in Erlangen.

Hg.: Dietmar Peschel. Erlangen: Universitätsbund Erlangen-Nürnberg, 1983. S. 61-73

262 Diesen Zusammenhang zwischen Minne und Gewalt sieht auch Otto Neudeck: Das Stigma des Anfortas.

Zum Paradoxon der Gewalt in Wolframs `Parzival´. In: IASL 19 (1994) S. 52-75. Alle drei Gesellschaften stehen durch einen an die Minne gekoppelten Normbruch ihrer obersten Vertreter vor dem Problem der Wei-terführung ihrer genealogischen Linie (S.56ff.).

Aus diesem Grund, weil Minne keine göttliche Gewalt sein darf und ebenfalls nicht der Grund für Gewalt, trennt Wolfram in allen Episoden um die Figur Parzivals, also der Hoch-zeitsnacht und der Blutstropfenszene, säuberlich Minne und Gewalt auf allen Ebenen vonein-ander. Minne ist hier nicht nur keine göttliche Gewalt mehr, sie ist nicht einmal mehr Ursache für Gewalt. Die mythische Entdifferenzierung von Minne und Gewalt führt nur ins Chaos und in den Tod – das ist an der Elternvorgeschichte und dem Lanzenschauspiel deutlich abzule-sen. In Dingen der Minne ist keine mythische Präsenz erwünscht. Dieser Zeichentypus bleibt dem Bereich des nicht amourösen Heiligen vorbehalten. Die gewaltsame Minne ist ungehiure:

nicht göttlich. Dementsprechend gilt für die Lanze, anders als für den Gral, ein anderer Zei-chentypus. Was hier entmythisiert wird, ist nicht die gesamte Parzivalhandlung, sondern al-lein der Komplex der Minne. Die Erfahrung der Minne wird so zwar durch den Erzähler im vom Quast beschriebenen changierenden Modus dargestellt, von Parzival aber unmittelbar empfunden: Nur ganz zu Beginn hört man aus dem Mund des Helden noch metaphorische Vergleiche:

Cundwier âmûrs, sich mac für wâr disiu varwe dir gelîchen (282.28-29)

Dann versinkt er ganz in der Anschauung und erlebt die realpräsentische Anwesenheit der Geliebten:

von Pelrapeir diu künegin:

diu zuct im wizzenlîchen sin (283.21-22) [...] unversunnen hielt dâ Parzivâl. (287.9)

Deshalb ist hier zu unterscheiden zwischen Erzählerrede und Figurenrede, bzw. Figuren-schweigen. Das literarisch-mythische Zeichen verwendet der Erzähler hier, um aus seiner Perspektive die Wirkung der Minne zu beschreiben. In der Perspektive der Figur Parzivals, von der der Rezipient nach den anfänglichen Einblicken in Parzivals Denken ausgeschlossen wird, herrscht dann die Erfahrung der Unmittelbarkeit. Mythentheoretisch gesprochen heißt das, dass im Moment des Zusammenfallens von Zeichen und Bezeichnetem, dem Bild der Frau und der Frau selbst, die aus der Anschauung heraus im Inneren Parzivals zu erstehen scheint, keine semiotische Differenz mehr vorhanden ist, keine Mehrdeutigkeit und kein Missverstehen hier möglich ist. Condwiramurs Erstehen in Parzivals innerer Anschauung hat substantielle und entdifferenzierende Qualität, es handelt sich hier tatsächlich um eine nicht nur geistige Vereinigung. Dementsprechend klagt der Held auch sein Leid, als Gawan die Tropfen verdeckt:

`ôwê frowe unde wîp,

wer hât benomn mir dînen lîp?´

[...] `bin ichz der dich von Clâmîde lôste?´ (302.7-11)

Nicht der Verlust des Bildes, sondern der tatsächliche Verlust des Leibes der Geliebten wird hier betrauert, der in einer entdifferenzierenden Erfahrung mit dem eigenen Körper verbunden war, so dass jetzt die eigene Identität plötzlich in Frage gestellt wird, weil sie zerrissen ist.

Der Effekt ist hier jedoch, dass durch die Erzählerperspektive, die von außen auf das unmit-telbare Erlebnis des Helden blickt und es vermittelt, erneut eine Differenz erstellt wird, wel-che die besondere mythiswel-che Wahrnehmung des Helden in diesem Moment von der Außen-wahrnehmung absondert.

Damit wird nun aber wiederum nicht die Minne mythisiert, sondern die besondere Wahrneh-mung Parzivals263, die hier mit der kausal trennenden Wahrnehmung Gawans konterkariert wird, der mit fast naturwissenschaftlichem Interesse nach der Ursache für den Zustand des Versunkenen sucht, und auf den die Blutstropfen keinerlei Wirkung ausüben. Nicht eine in den Blutstropfen magisch konzentrierte Minne, die jeden, der mit den magischen Zeichen in Berührung kommt, sofort in ihren Bann zieht, wird hier vorgeführt, sondern die mythische Konstitution Parzivals. Auch der Erzähler tritt in dieser Szene der Minne als mythischer Macht überaus kritisch gegenüber und setzt sich in einem Exkurs distanzierend mit ihr aus-einander.

Die beiden Szenen des Lanzenschauspiels und der Blutstropfenszene sind - hier ist Quast zu-zustimmen - auf semiotischer Ebene zwar miteinander verbunden, was sie inhaltlich zeigen, ist jedoch eine Veränderung: Das Blut aus Anfortas offener Wunde ist das stinkende, eitrige, unreine Blut der Gewalt. An der Lanze klebend führt es der Gemeinschaft ihre Verwundung vor Augen. Es symbolisiert die immanente Gewalt, welche die Gesellschaft bedroht, ausgelöst durch die mythisierte Minne des Anfortas. Minne und Gewalt stehen in der Figur des Grals-königs in einem unauflöslichen und fatalen Zusammenhang.

Dagegen steht das Blut der Blutstropfenszene. Es ist das Blut einer Gans und ruft damit die Beschimpfungen des Torwächters wieder ins Gedächtnis, der Parzival mit den Worten verab-schiedet:

`ir sît ein gans.

möht ir gerüeret hân den flans,

und het den wirt gevrâget!´ (247.27-29)

Damit deutet sich bereits eine Verschiebung vom direkten Blut auf ein stellvertretendes Opfer an. Es ist nicht das Blut Parzivals, welches hier zu sehen ist. Es deutet ebenfalls auf die Minne und fügt dem Liebenden Gewalt zu (die Parzivâle fuogten nôt 282.22), jedoch ist die losgelöst

263 Auf die besondere Wahrnehmung Parzivals in dieser Szene verweist auch Schu, 2002, 345: "Er empfindet seinen Wach-Zustand als Nebel, seine Minneversunkenheit [...] jedoch als Klarheit."

vom Kampf. Parzivals Minneversunkenheit und die zwei Tjosten berühren einander über-haupt nicht, sind zwei völlig unterschiedliche, voneinander hermetisch abgeschirmte Be-wusstseinsvorgänge. Der Minnende ist sich seiner Gewalt nicht bewusst. Minne ist nicht Ur-sache der Tjosten. Durchgängig wird in der Parzivalfigur Minne und Gewalt getrennt. Sexua-lität ist hier nicht mehr der Auslöser für Gewalt. Das Blut der Blutstropfenszene kann als rein bezeichnet werden. Das Blut leuchtet frisch und wird bald vom Tuch Gawans verdeckt (bei Chrétien schmilzt es mit dem Schnee) und verschwindet aus den Augen. Die Gewalt der Min-ne in der BlutstropfenszeMin-ne geMin-neriert keiMin-ne Min-neue Gewalt. Parzival zieht nicht als MinMin-neritter weiter, sonderm als Gralssuchender. Die Minne ist der Gralssuche, dem religiösen Ziel nicht übergeordnet, die Minne erhebt keinen konkurrierenden Anspruch und lässt den Helden sein Ziel aus den Augen verlieren oder die scheinbar ausweglose Suche abbrechen.

Man mag einwenden, dass die Gralsmitglieder die Blutstropfenszene nun gar nicht miterle-ben, von Stellvertretung hier deshalb nicht die Rede sein kann. Das führt weiter zum IX.

Buch, in welchem Parzival selbst für Trevrizent sein Minne- und Kampferlebnis der Bluts-tropfenszene wiederholt:

ich verdâht mich an mîn selbes wîp sô daz von witzen kom mîn lîp.

zwuo rîche tjoste dermit ich reit:

unwizzende ich die bêde streit. (460.9-12)

Zugleich zeigt die im Gegensatz zu Chrétien in der Blutstropfenszene prominent zutagetre-tende Erzählerfigur und die durch den Autor komplex eingesetzten Zeichenkonfigurationen, dass es sich hierbei vermutlich um eine Szene von nicht nur narrativer, sondern vor allem poetologischer Reichweite handeln könnte. Diese Untersuchung muss allerdings noch etwas aufgeschoben werden und soll in Kapitel 3.4. Die Entmythisierung der Artuswelt als poetische Strategie zur Sprache kommen. Zuvor soll der Blick noch auf eine letzte Szene der Stellver-tretung gelenkt werden: Die Gespräche Trevrizents mit Parzival im IX. Buch. Während zuvor die äußeren Merkmale der Krise mit der Parzivalfigur in Verbindung gebracht worden sind, gilt es nun zu zeigen, wie auch die nicht sichtbaren Störungen der Gesellschaft mit den Parzi-val vorgeworfenen Verbrechen des Verwandtenmordes, des Frageversäumnisses und des Muttertodes in den Köpfen der Gralsgemeinschaft vernetzt sind.